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Cartesianische Meditationen

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Cartesianische Meditationen

Eine Einleitung in die Phänomenologie

Meiner,

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10 take-aways
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What's inside?

Die Anderen als Analogie zu uns selbst: In seinem Spätwerk erweitert Husserl das Blickfeld seiner Theorie.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Die Konstruktion des Fremden

Die Cartesianischen Meditationen sollten Husserls Hauptwerk werden, doch unglückliche Umstände und Zeitmangel führten dazu, dass sie weit davon entfernt sind, die Phänomenologie umfassend darzustellen. Immerhin fügen sie Husserls Lebensleistung einige wichtige Puzzleteile hinzu. Der Vater der Phänomenologie war ursprünglich Naturwissenschaftler, entdeckte dann seine philosophische Seite und startete am Beginn des 20. Jahrhunderts sein Projekt, die Philosophie neu zu beleben und sie nicht mehr an den Maßstäben der Naturwissenschaften auszurichten. Den Sachen selbst, den Phänomenen, könne man nur über eine philosophische Wesensschau auf die Spur kommen, die alles, was von der Essenz der Dinge ablenke, in Klammern setze. In den Cartesianischen Meditationen versucht Husserl den gegen seine Philosophie gerichteten Vorwurf des Solipsismus („nur das Ich ist real, alles andere sind bloß Bewusstseinsinhalte des Ich“) zu entkräften: Mit den Methoden der Phänomenologie untersucht er, wie der „Fremde“ bzw. der „Andere“ in die phänomenologische Wesensschau integriert wird und wie damit die Erfahrung einer objektiven Wirklichkeit aufgebaut werden kann.

Take-aways

  • Die Cartesianischen Meditationen gehören zu den wichtigsten Texten aus dem Spätwerk Edmund Husserls.
  • Husserl war der Begründer der philosophischen Phänomenologie und einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.
  • Inhalt: Die Phänomenologie geht wie René Descartes vom „ego cogito“ aus. Allein das denkende Ich ist gewiss, der Rest der Welt wird ausgeklammert. Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas. Das Ich konstruiert den Anderen als Analogie zu sich selbst. Diese Einfühlung in das Fremde und die Erfahrung desselben ist die Basis für die Erkenntnis der objektiven Welt.
  • Husserl übernimmt Descartes’ Ziel, eine unbezweifelbare Wahrheit zu finden.
  • Er will eine neue Erkenntnistheorie aufbauen, die danach fragt, was der Mensch von der Welt wissen und wie er es erfahren kann.
  • Dem Vorwurf des Solipsismus („nur das Ich ist real“) begegnet Husserl mit seiner Theorie darüber, wie das Ich den Anderen erfährt.
  • Der Text geht auf Vorträge in London und Paris zurück und wurde 1931 zuerst in französischer Übersetzung publiziert.
  • Die deutsche Fassung wurde erst zwölf Jahre nach Husserls Tod veröffentlicht.
  • Die Meditationen fanden große Resonanz bei französischen Philosophen und beeinflussten mit ihrer Subjekttheorie vor allem die Soziologie.
  • Zitat: „Positive Wissenschaft ist Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muss erst die Welt durch Epoché verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen.“

Zusammenfassung

Zurück zu Descartes

Seit sich die Menschen von der Religion zurückgezogen haben, opfern sie den Göttern auf den Altären der Wissenschaft. Die Philosophie hat Rückschritte gemacht: Die Zahl ihrer Schriften ist zwar gewachsen, aber ihr Zusammenhalt ist zerbrochen. Was wir brauchen, ist eine neue, einheitliche Philosophie. Dafür können wir beim radikalen Reformer René Descartes ansetzen, der mit seinen Meditationes de prima philosophia die Philosophie revolutionierte. Man kann da anfangen, wo auch Descartes angefangen hat: beim „ego cogito“, dem denkenden Bewusstsein. Will man die Philosophie und damit die Wissenschaft neu ordnen und neu erfinden, darf man keine der vorhandenen Wissenschaften gelten lassen und muss bei null beginnen.

„Es bedarf daher eines radikalen Neubaues, der der Idee der Philosophie – als universaler Einheit der Wissenschaften in der Einheit solcher absolut rationaler Begründung – genugtut.“ (S. 4)

Wer philosophiert, fällt Urteile. Mit Urteilen meinen wir etwas, aber wir haben niemals die Sicherheit, ob diese Meinung wirklich richtig ist. Es gibt aber auch Urteile, die kein Meinen darstellen, sondern selbst gegeben sind. Sie sind durch sich selbst eindeutig definiert und unmittelbar. Man bezeichnet sie als Evidenz. Diese Selbstgegebenheit ist eine letzte Instanz, sie ist absolut und apodiktisch (unumstößlich).

Transzendental-phänomenologische Reduktion

Will der Philosoph bei der ersten Evidenz anfangen, muss er nicht nur die vorhandene Philosophie und Wissenschaft aus seiner Sicht ausklammern, sondern auch die Welt im Allgemeinen. Sie wird außer Geltung gesetzt, und der Philosoph konzentriert sich nur auf sein eigenes Bewusstsein und auf die Phänomene, die dieses Bewusstsein wahrnimmt. In Anlehnung an Descartes kann man sagen: Nichts ist so gewiss wie das Sein des Bewusstseins („ego sum“) und dessen Vorstellungen oder Bewusstseinsstrom („sum cogitans“). Descartes bemerkte zu Recht, dass das Ich, wenn es daran zweifelt, dass etwas existiert, zumindest selbst existieren muss – sonst könnte es ja nicht zweifeln. Das Ich ist die apodiktische Seinseinheit, und die Ausklammerung der Welt ist die transzendental-phänomenologische Reduktion oder Epoché.

„Statt einer einheitlich-lebendigen Philosophie haben wir eine ins Uferlose wachsende, aber fast zusammenhangslose philosophische Literatur (...)“ (S. 7)

Man muss aber hinzufügen, dass es ein besonderes Ich ist, das in der Epoché erscheint: Nicht jenes, das die psychologische Wissenschaft beschreibt, sondern ein transzendental-phänomenologisches Ich tritt in dieser Reduktion hervor. Dieses Ich ist nicht Teil der Welt und die Welt ist auch nicht Teil dieses Ich. Es ist der Schauplatz der reinen Betrachtung der Phänomene.

Eine neue Wissenschaft

Mithilfe der transzendentalen Reduktion wird eine neue Seinssphäre freigelegt. Die Erlebnisse in dieser neuen Sphäre spiegeln sich im Bewusstseinsstrom des Ich. Das Ich kann auf Erfahrungen und zeitliche Einordnungen wie „Vergangenheit“ zurückgreifen, darf aber von seinen Erinnerungen keinen Gebrauch machen, da es ihm ja um die Schau der reinen Phänomene geht. In der transzendentalen Sphäre macht das Ich völlig neue, phänomenologische Erfahrungen, die rein subjektiv sind. Der transzendentale Subjektivismus unterscheidet sich aber fundamental von dem „weltlichen“ Subjektivismus, der Teil der objektiven Wirklichkeit ist. Dem Ich eröffnet sich eine vollkommen subjektive Wissenschaft, eine Egologie, d. h. eine Erfahrungswelt, die nur für den transzendentalen Geist greifbar ist. Diese Wissenschaft erhält die neue Aufgabe, das Reich der transzendentalen Selbsterfahrung zu durchwandern und zu katalogisieren, so wie die objektive Wissenschaft die natürliche Welt untersucht. In einem zweiten Schritt ist sie gehalten, die Forschungsergebnisse auszuwerten und kritisch zu prüfen. Anders als in den Meditationen Descartes’ wird diese neue Wissenschaft sich vor allem den transzendentalen Erfahrungen widmen und diese erforschen.

Die Entdeckung der Intentionalität

Richtet man den Blick auf die „cogitationes“, also den Bewusstseinsstrom des transzendentalen Ich, darf man nicht in die Falle tappen, die Erforschung als Bewusstseinspsychologie zu betreiben. Mit Psychologie hat die transzendentale Phänomenologie nichts zu tun – auch wenn sie oft als Parallele zur psychologischen Forschung erscheint. Die Phänomenologie reduziert die Welt auf Phänomene – was die Psychologie nicht tut.

„Das Sein der Welt aufgrund der natürlichen Erfahrungsevidenz darf nicht mehr für uns selbstverständliche Tatsache sein, sondern selbst nur ein Geltungsphänom.“ (S. 19)

Bei den Bewusstseinsinhalten gibt es eine Schwierigkeit: Sie tragen immer auch etwas von dem, was sie abbilden, in sich. Und dieses Etwas ist in der objektiven Welt verankert. Das Bewusstseinserlebnis z. B. von „diesem Tisch“ trägt auch etwas von dem Gemeinten (dem „cogitatum“) in sich. Bewusstsein kann anders gar nicht existieren, denn es ist immer Bewusstsein von etwas. Man bezeichnet diesen Sachverhalt als Intentionalität. Für die phänomenologische Wissenschaft ist es aber unabdingbar, dass das Bewusstsein einen Bewusstseinsinhalt betrachtet, ohne gleichzeitig seinen Seinsanspruch anzuerkennen. Das Ich spaltet sich sozusagen auf: in ein weltliches Ich, das an der Welt interessiert ist, und ein phänomenologisches Ich, das über der Welt ruht und diese eher wie ein uninteressierter Zuschauer betrachtet.

Mögliche Forschungsfelder der Phänomenologie

In der Phänomenologie lassen sich zwei Forschungsrichtungen unterscheiden: die noematische und die noetische. Die noematische Richtung kümmert sich um das, was das Bewusstsein schaut, während die noetische das Bewusstsein selbst beobachtet, einschließlich seiner Bewegungen, wie Erinnerung, Wiedererinnerung, Wahrnehmung usw. In der Schau der Phänomene verbindet das Bewusstsein die einzelnen Betrachtungsweisen miteinander. Diese Methode wird Synthesis genannt. Beispielswiese werden die einzelnen Seiten eines Würfels sowie seine Anschauung aus der Ferne und aus der Nähe mithilfe der Synthesis verknüpft, sodass der Würfel aus jeder denkbaren Perspektive als Würfel und nicht als eine Abfolge unterschiedlicher Wahrnehmungen erscheint.

„Als radikal meditierende Philosophen haben wir weder jetzt eine für uns geltende Wissenschaft noch eine für uns seiende Welt.“ (S. 20)

Jede Wahrnehmung besitzt zwei Zeitlichkeiten: die des Wahrnehmens eines Objekts und die, die dem Objekt selbst innewohnt. Es wird klar, dass es eine ungeheure Aufgabe darstellt, alle Gegenstände systematisch zu erforschen, die dem transzendentalen Bewusstsein erscheinen oder erscheinen könnten. (Letzteres ist tatsächlich bedeutsam, denn die Forschung soll sich nicht nur mit den wahrhaftig existierenden Gegenständen beschäftigen, sondern auch mit denjenigen, die nicht sind oder die sein könnten.) Hier hat die transzendentale Phänomenologie ihr breites Betätigungsfeld gefunden.

Der Evidenzbegriff

Der Evidenzbegriff soll nun etwas schärfer umrissen werden. Evidenz bedeutet, dass etwas erscheint und sich gleichzeitig auszeichnet. Es erscheint und stellt sich selbst dar, so wie es ist, unmittelbar, original, selbst gegeben. Evidenz muss sich dem Bewusstsein gegenüber bewähren. Innerhalb dieses Bewährungsprozesses kann sich u. U. herausstellen, dass etwas, worauf sich das Bewusstsein bezieht, gar nicht evident ist, sondern einen anderen Seinsmodus angenommen hat. Es zeigt sich vielleicht, dass etwas ganz anderes evident ist: beispielsweise dass etwas nicht ist, möglich ist oder zweifelhaft ist. Das Bewusstsein empfindet nur diejenigen Dinge als wirklich, die evident sind. Damit die Evidenz jedoch als bleibendes Sein erkannt wird, muss das Ich immer wieder darauf zurückkommen können, sodass eine regelrechte Kette von Evidenzen entsteht, die allesamt von der ersten Evidenz ausgehen.

Der Schlüssel zu einer echten Erkenntnistheorie

Das Ich begreift sich nicht nur als strömendes Bewusstsein, sondern auch als Ich, das etwas erlebt. Es ist nicht nur da, um sich auf Gegenstände zu beziehen, sondern es bezieht sich auch auf sich selbst und konstituiert sich damit. Das Ich fällt ständig Urteile. Selbst wenn der Vorgang des Urteilens längst vorbei ist, bleibt das Urteil doch als Erinnerung gegenwärtig. Das Ich konstituiert sich also, indem es als Überbleibsel oder Substrat der verschiedenen Aktionen, die es unternommen hat, verharrt. Man kann das Ich nach Leibniz als Monade, d. h. als einfache, grundlegende Substanz bezeichnen, denn es ist der Dreh- und Angelpunkt der Gegenstände, die als „für es seiend“ existieren. Die Gegenstände stellen sich für das Ich als mit sich identisch und einzigartig dar, auch wenn sie viele verschiedene Eigenschaften besitzen.

„Eine unerhört eigenartige Wissenschaft tritt in unseren Gesichtskreis, eine Wissenschaft von der konkreten transzendentalen Subjektivität (...)“ (S. 31)

Erkennt man die phänomenologische Methode an, muss man auch anerkennen, dass alle Erkenntnis im Innern des Ich, in seinem Bewusstsein ruht. Wie aber ist dann Erkenntnis über die objektive Welt möglich? Diese Frage wurde nach Descartes immer wieder aufgeworfen und nicht beantwortet. Wie auch, wo doch schon die Fragestellung vollkommen verfehlt ist? Wer nach Gültigkeit in der natürlichen, objektiven Welt fragt, der verstößt gegen das oberste Gesetz der Phänomenologie: Er missachtet die transzendentale Reduktion. Ohne sie gibt es kein transzendentales Bewusstseinsleben – und damit auch keine transzendentale Erkenntnismöglichkeit. Echte Erkenntnistheorie ist also notwendigerweise immer eine transzendental-phänomenologische.

Der Vorwurf des Solipsismus

Die transzendentale Philosophie muss sich einem gravierenden Vorwurf stellen: Wenn Erkenntnis nur innerhalb des eigenen transzendentalen Bewusstseins und unter Ausklammerung der Welt erfolgen kann, was passiert dann mit den anderen Individuen? Was macht das Ego mit dem Alter Ego, dem Anderen? Verrennt es sich nicht in einen transzendentalen Solipsismus, also in die Behauptung, dass nur das eigene Bewusstsein wirklich sei?

„Ich habe als Ego eine fortwährend für-mich-seiende Umwelt (...)“ (S. 69)

Das Alter Ego ist eine Spiegelung des eigenen Seins, ohne jedoch dieses zu übernehmen, denn sonst wäre es ja kein Anderer, sondern wiederum das Ich. Um diesen Fragen nach Fremderfahrung und Intersubjektivität auf den Grund zu gehen, muss man das Ego innerhalb der transzendentalen Reduktion noch einmal reduzieren: und zwar auf die Sphäre der Eigenheit. Innerhalb dieser Sphäre existiert für das Ego keinerlei Begriff von Fremdheit oder Bezogenheit auf andere. Das Ego findet und empfindet in dieser abgeschiedenen, so genannten primordialen Sphäre vor allem seinen Körper, der für es Quelle aller Empfindungen ist und über den es frei bestimmen kann. Die Erfahrung des Ich ist die Erfahrung der Eigenheit, der Ich-zu-mir-Zugehörigkeit, die mit dem Bewusstseinsstrom verschmilzt.

Die Appräsentation des Anderen

Es gilt nun zu klären, wie der Andere durch das Ich konstruiert werden kann. Der Andere unterscheidet sich a) von dem Ich selbst und b) von den Gegenständen. Er ist ein „Auch“, ein „Mit-da“, das unabhängig vom eigenen Ich existiert. Diese Mitvergegenwärtigung wird als Appräsentation bezeichnet. Das Ich nimmt in seiner primordialen Sphäre vom Anderen nichts wahr als dessen Körper, denn dessen eigene Wesentlichkeit, sein Erinnern und sein Bewusstseinsstrom, sind dem Ich unzugänglich. Daher konstruiert das Ich den Anderen als Analogie zu sich selbst. Appräsentation bedeutet also, zu analogisieren, gleichzusetzen. Doch der Andere kann nie deckungsgleich mit dem eigenen Ich werden. Wenn das Ich etwas erkennt, vergleicht es dies immer mit seiner ersten Begegnung damit. Mit dieser so genannten Urstiftung im Hinterkopf, an die sich das Ich erinnert, konstruiert es den anderen Körper als Erinnerung an seinen eigenen.

Die Konstruktion der objektiven Welt

Stufe für Stufe schreitet das Ego nun mit Analogien weiter, um schließlich sogar die Möglichkeit zu erhalten, sich in die psychischen Vorgänge, z. B. Gefühlsäußerungen, des Alter Ego einzufühlen. Diese Einfühlung in das Fremde und dessen Erfahrung ist die Basis für die Erkenntnis der objektiven Welt. Denn diese besteht aus vielen Fremden, die unter dem Oberbegriff „Menschen“ zusammengefasst werden können.

„Als transzendental Eingestellter versuche ich zunächst innerhalb meines transzendentalen Erfahrungshorizontes das Mir-Eigene zu umgrenzen.“ (S. 97)

Die Erfahrung des Fremden ermöglicht dem Ego die Vorstellung eines unendlichen Bereichs, der mit Fremdem angefüllt ist: Dies ist die objektive Natur, die sich dem Ich erst über die Erfahrung von Eigenheit und Fremdheit enthüllt. Für die Gesamtheit aller Ichs, die eine geballte Subjektivität darstellt, wird die Welt zum Objekt. Für Ego und Alter Ego bedeutet dies, dass die Welt intersubjektiv erfahrbar ist. Damit ist der Vorwurf des transzendentalen Solipsismus gegenstandslos. Zugleich hat sich die phänomenologische Methode als fruchtbar erwiesen, das Fundament einer allumfassenden Universalwissenschaft zu sein: Denn nur sie ist apriorisch, spürt also den Quellen allen Seins nach.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Cartesianischen Meditationen bestehen aus fünf Abschnitten. Während Husserl in den ersten vier Meditationen Grundzüge seiner Phänomenologie zusammenfasst und ergänzt, weist das Buch beim Übergang zur fünften Meditation einen Bruch auf. Diese ist erheblich länger als die vorhergehenden und bringt neue Inhalte. Husserl spricht oft von sich selbst in der ersten Person und wendet sich auch direkt an den Leser. Formulierungen wie „wir als anfangende Philosophen“ schaffen eine vertraute Atmosphäre, so als würde Husserl den Leser an der Hand nehmen und ihn in die wunderbare Welt der Phänomenologie führen. Er suggeriert, dass der Leser nichts Vorgefertigtes antrifft, sondern beim Bau der Phänomenologie aktiv mitwirken kann. Dass diese allerdings nicht so einfach durchdrungen werden kann, wie es der freundschaftliche Stil nahelegt, wird auch dem tapfersten Leser schnell klar. Die Cartesianischen Meditationen gehören vielleicht zu den schwierigsten Texten, die Husserl – ohnehin für komplizierte Texte bekannt – jemals geschrieben hat. Die Materie ist dermaßen abstrakt, dass nur wenige Zeilen unaufmerksamer Lektüre genügen, um den Faden zu verlieren. Schwierig wird der Text auch durch die von Husserl verwendeten phänomenologischen Fachbegriffe, die größtenteils seine eigenen Erfindungen sind und auf keine allgemein bekannten Definitionen zurückgehen.

Interpretationsansätze

  • Husserls Anlehnung an Descartes, der das Buch seinen Titel verdankt, hat ihren Grund in einem gemeinsamen Ziel: Der Phänomenologe will wie einst der Rationalist eine unbezweifelbare Wahrheit finden, auf der er seine Philosophie aufbauen kann. Diese Wahrheit findet er im denkenden Ich, das für Husserl zwei Schlüsselkriterien der Phänomenologie erfüllt: Es sei apodiktisch (unwiderlegbar) und evident (unmittelbar selbst gegeben).
  • Bewusstsein ist für Husserl immer intentional, also auf ein Objekt gerichtet. Anders ausgedrückt: Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas. Das Objekt der Gedanken (cogitatum) wiederum wird erst durch das Bewusstsein bzw. das Denken (cogito) zum Leben erweckt. Nur durch die Bewusstwerdung werden die Gegenstände konstituiert und erkannt.
  • Die phänomenologische Reduktion ist der wichtigste Mechanismus der Phänomenologie. Ähnlich wie bei einer Zwiebel schält diese die äußeren Schichten, z. B. Subjektbeziehungen, Tradition, wissenschaftliche Erkenntnisse, von einem Gegenstand ab, bis sein wahres Wesen vor dem Betrachter liegt.
  • Man könnte nun folgende Kritik an Husserl äußern: Die phänomenologische Reduktion, also die reine Betrachtung eines Gegenstands, ohne Beziehung zu anderen Gegenständen, Erfahrungen, Emotionen oder Vorstellungen, ist menschlich gar nicht möglich. Die Hirnforschung zeigt, dass jedes „Schauen“ immer eine Interpretation ist und sofort Projektionen in die verschiedensten Hirnregionen auslöst. Nur einem Computer gelingt die phänomenologische Reduktion.
  • Ebenfalls kritikwürdig ist Husserls unwissenschaftliches Vorgehen: Er reiht Behauptung an Behauptung, die bis zum Schluss subjektiv und fragwürdig bleiben. Seine Unfähigkeit, klar und einfach zu formulieren, fungiert als Tarnung. Man vermutet mehr Substanz in seiner Philosophie, als wirklich darin enthalten ist.

Historischer Hintergrund

Husserl und die nationalsozialistische Hochschulpolitik

In den letzten Jahren der Weimarer Republik standen alle Zeichen auf Sturm. Unter der Last hoher Reparationszahlungen und der Massenarbeitslosigkeit hatten Demagogen leichtes Spiel. Die Nationalsozialisten um Adolf Hitler nutzten die schlechte wirtschaftliche Lage, um die Atmosphäre im Land bedrohlich aufzuladen. Die erste deutsche Republik hatte dem Aufstieg der Nazis nichts entgegenzusetzen. Allerdings war die Machtübernahme Hitlers kein kurzfristiger Akt, der mit seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 beendet war: Die Umgestaltung des Reiches nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten begann damit erst. Die verschiedenen Bereiche des öffentlichen Lebens wurden von ihnen übernommen und gleichgeschaltet. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums schrieb vor, dass alle Beamten, die „nicht arischer Herkunft“ waren, in den Ruhestand versetzt werden mussten. An den Hochschulen wurden nichtarische Professoren sowie erklärte Gegner der Partei entlassen. Das widerfuhr dem eben erst gewählten Rektor der Freiburger Universität Wilhelm von Möllendorf, einem Sozialdemokraten. Er wurde durch Martin Heidegger, einen Schüler Husserls, ersetzt.

Heidegger versuchte, das nationalsozialistische Hochschulprogramm an der Freiburger Universität umzusetzen, und trat am 1. Mai 1933 der NSDAP bei. Am 15. September 1935 wurden die Nürnberger Rassengesetze beschlossen, deren Abschnitt über das Reichsbürgergesetz regelte, dass fortan kein Jude mehr ein öffentliches Amt innehaben durfte. Für Husserl und viele seiner jüdischen Professorenkollegen bedeutete dies das Ende der wissenschaftlichen Laufbahn an einer deutschen Universität.

Entstehung

Die Cartesianischen Meditationen gehören zum Spätwerk Husserls. Der Philosoph veröffentlichte mehrere Texte, die um das gleiche Thema kreisen. Das war Husserls Dilemma: Während seiner Lehrtätigkeit in Freiburg von 1916 bis 1928 publizierte er kein einziges Buch, schrieb aber fleißig an mehreren Manuskripten. Ein regelrechter Berg von Arbeit häufte sich auf seinem Schreibtisch, sodass ihm im vorgerückten Alter der Kampf mit der eigenen Philosophie wie ein Wettlauf mit dem Tod vorkommen musste. Er zweifelte daran, dass er nach seiner Emeritierung alle Manuskripte würde aufarbeiten können. Besonders ärgerte er sich über sein eigenes Unvermögen, vollständige und in sich schlüssige Texte zu erstellen, was letztlich dazu führte, dass jedes neue Buch irgendwie immer wieder von vorne anfing. „Es ist ja in 40-jähriger Arbeit zu nicht mehr gekommen als zu Bruchstücken und zu radikalen methodischen Vorbesinnungen“, bekannte Husserl selbstkritisch in einem seiner Briefe.

Wenn er die Bruchstücke seiner Aufzeichnungen ordnete, dann zumeist anlässlich seiner Vorträge. So auch hier: Die Cartesianischen Meditationen gehen auf Vorlesungen zurück, die Husserl 1922 in London und 1929 in Paris hielt. Er arbeitete sie in ein Buchmanuskript um, das von Emmanuel Levinas und Gabrielle Pfeiffer auf Französisch übersetzt wurde und unter dem Titel Méditations Cartésiennes 1931 in Paris erschien. Husserl wollte auch eine deutsche Fassung des Texts veröffentlichen, verschob dieses Projekt aber immer wieder. Das lag u. a. daran, dass er von seinem Nachfolger Heidegger enttäuscht war. Er sah das Erbe der Phänomenologie von seinem engsten Mitarbeiter verraten und meinte, Heidegger habe ihre gemeinsame Arbeit zugunsten einer modischen Existenzphilosophie aufgegeben. Infolgedessen wollte Husserl die Meditationen zu seinem Hauptwerk ausbauen, was ihm aber Zeit seines Lebens nicht mehr gelang, nicht zuletzt, weil ihn die Nationalsozialisten mit einem Publikationsverbot belegten. Die Hauptarbeiten legte er in die Hände seines Mitarbeiters Eugen Fink, der die deutsche Ausgabe der Cartesianischen Meditationen vorantrieb. Veröffentlicht wurden sie erst 1950, zwölf Jahre nach Husserls Tod.

Wirkungsgeschichte

Die Cartesianischen Meditationen entfalteten vor allem in Frankreich eine große Wirkung – insbesondere die fünfte Meditation, die sich mit der Intersubjektivität beschäftigt und damit der Phänomenologie ein wichtiges Puzzleteil hinzufügte. Zu den bekanntesten Rezipienten in Frankreich gehören Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre und Paul Ricœur. Husserls Philosophie beeinflusste auch die amerikanischen Philosophen Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Letzterer verquickte die Phänomenologie Husserls und das Werk Max Webers zu einer phänomenologischen Soziologie. Ausgangspunkt für Schütz’ Theorie des Sozialen war insbesondere die in den Cartesianischen Meditationen abgehandelte Subjekttheorie Husserls.

Edmund Husserl gehört heute zu den am meisten interpretierten, aber auch unverständlichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Menge der Einführungen, Spezialuntersuchungen und Gesamtdarstellungen ist unüberschaubar. Nicht ohne Grund: „Meine Schriften sind sehr schwierig zu lesen, sie müssen lange studiert werden, ich habe ja auch Jahrzehnte an jeder gearbeitet“, bekannte Husserl 1922 in einem Brief an seine Cousine.

Über den Autor

Edmund Husserl wird am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren, heute Tschechische Republik) in eine jüdische Familie geboren. Er studiert in Leipzig, Berlin und Wien Astronomie, Mathematik, Physik und Philosophie. 1886 geht Husserl nach Halle, wo er an der Universität als Privatdozent lehrt und mit der Arbeit Über den Begriff der Zahl (1887) habilitiert. Kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten Malvine Steinschneider lässt er sich evangelisch taufen. 1891 erscheint die Philosophie der Arithmetik, in der er die Gültigkeit mathematischer Wahrheiten unabhängig von der menschlichen Erkenntnis behauptet. Zehn Jahre später revidiert er seine Meinung in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen (1901). Das Buch bringt ihm den Ruf an die Universität Göttingen ein, wo er ab 1901 als außerordentlicher und ab 1906 als ordentlicher Professor lehrt. Dort entsteht Husserls eigene phänomenologische Schule, die zahlreiche Studenten anzieht. In seinem einflussreichsten Werk, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), formuliert er die Aufgabe der Phänomenologie, die Sachen so zu beschreiben, wie sie sich dem menschlichen Geist darstellten – unabhängig davon, ob die Sachen selbst überhaupt existierten. „Zu den Sachen selbst“ ist ein berühmt gewordener Ausspruch Husserls. Seine Ideen fallen auf fruchtbaren Boden, sodass er 1916 einen Ruf an die Universität von Freiburg erhält. Seine erste Assistentin ist Edith Stein, ihr Nachfolger Martin Heidegger, der seine eigenen Forschungen auf Husserls Erkenntnissen aufbauen wird. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Husserl zunächst beurlaubt. 1936 entzieht man ihm die Lehrerlaubnis und vertreibt ihn aus seinem Haus. Ein Angebot der University of Southern California lehnt er ab. Edmund Husserl stirbt am 27. April 1938 in Freiburg.

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