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Adrienne Mesurat

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Adrienne Mesurat

dtv,

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10 take-aways
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What's inside?

Der blaue Himmel über der französischen Provinz und darunter die gutbürgerliche Hölle: Mit seinem Horrorbuch der besonderen Art wurde Julien Green berühmt.

Literatur­klassiker

  • Entwicklungsroman
  • Moderne

Worum es geht

Ein Provinzdrama

Langeweile, bürgerliche Zwänge, verzehrende Sehnsucht nach einem erfüllten Leben und das existenzielle Gefängnis, das sich Familie nennt: all das gehört zu den bevorzugten Motiven der modernen Literatur. Selten aber wurden diese Themen so eindringlich dargestellt wie in Adrienne Mesurat. Die 18-jährige Titelheldin lebt mit ihrem tyrannischen Vater und ihrer älteren Schwester in einer französischen Provinzstadt. Die Tage vergehen unendlich langsam, die Monotonie lässt jeden Spaziergang und jeden neu hinzugezogenen Nachbarn zu einem Ereignis werden. Ausgerechnet ein um mehr als 20 Jahre älterer Arzt soll die junge Frau aus dieser Einöde erlösen. Sie verliebt sich in ihn und kann bald an nichts anderes mehr denken als an den fernen Angebeteten. Als sie ihm nach langen seelischen Qualen endlich gegenübersteht und er ihre Liebe verständnislos zurückweist, verfällt sie dem Wahnsinn. Die Provinz erweist sich als Hölle auf Erden, aus der es kein Entrinnen gibt und in der niemand auf Gnade hoffen darf. Julien Greens Meisterstück von 1927 hat bis heute nichts von seiner beklemmenden Atmosphäre verloren.

Take-aways

  • Mit dem Roman Adrienne Mesurat wurde der französisch-amerikanische Schriftsteller Julien Green berühmt.
  • Inhalt: Die 18-jährige Adrienne Mesurat will dem langweiligen Leben einer französischen Provinzstadt entfliehen und lässt sich zu einer wahnwitzigen Liebe zu dem Arzt Maurecourt hinreißen. Bei einem Streit mit ihrem Vater stößt sie diesen die Treppe hinunter; er stirbt an der Verletzung. Als der geliebte Arzt Adrienne zurückweist, verfällt sie endgültig in Wahnsinn.
  • Der Roman besticht durch psychologisch ausgefeilte Schilderungen.
  • Die Ereignisse werden zumeist aus der Sicht der Titelheldin dargestellt.
  • Green schildert die Unfreiheit in der Provinzstadt als bezeichnend für das Menschsein schlechthin.
  • Auf die Frage nach der Inspirationsquelle des Romans antwortete Green, dass ihm ein anderer die Feder geführt habe – wohl eine Anspielung auf sein eigenes Unbewusstes.
  • Walter Benjamin feierte das Werk als „eines der allerbesten Bücher dieses Jahrhunderts“.
  • Julien Green war amerikanischer Staatsbürger; er lebte aber zumeist in Paris und schrieb vorwiegend in französischer Sprache.
  • Das Gesamtwerk des Autors besteht aus über 60 Romanen und einem umfangreichen Tagebuch.
  • Zitat: „Es liegt etwas Entsetzliches in diesen Provinzexistenzen, in denen sich nichts zu verändern scheint, alles dasselbe Aussehen bewahrt, wie tief die Umwälzungen in der Seele auch sein mögen.“

Zusammenfassung

Ein Tag wie tausend andere

In der Provinzstadt La Tour-l’Evêque steht die 18-jährige Adrienne Mesurat gedankenverloren im Esszimmer ihres Hauses, das den Namen Villa des Charmes trägt, und betrachtet die Ahnengalerie ihrer Familie. Als sie ihre Schwester Germaine aus dem Salon rufen hört, geht sie widerwillig hinüber. Germaine ist zwar nicht älter als 35, aber aufgrund einer schweren Krankheit sehr gebrechlich. Sie erhebt sich und macht ein paar unsichere Schritte durch das Zimmer, wobei sie Adrienne ängstlich die Hand entgegenstreckt. Es ist ein heißer Sommertag, in den Räumen des Gebäudes herrscht Stille. Germaine beteuert, dass es ihr gut gehe, doch die junge Schwester hört nicht einmal zu, sondern blickt wortlos zum Fenster hinaus. Die beiden Frauen leben mit ihrem Vater zusammen, der die Villa des Charmes nach seiner Pensionierung gekauft hat. Monsieur Mesurat ist ein äußerst ausgeglichener, ordentlicher Mensch, der sich durch nichts von seinen eisernen Gewohnheiten abbringen lässt. Er liest jeden Tag die Zeitung, die Mahlzeiten werden stets zur gleichen Stunde serviert, einmal täglich unternimmt er einen Spaziergang durch die Stadt. Vor 15 Jahren hat er seine Frau verloren, er vermisst sie nicht.

„Man musste sie einige Zeit ansehen, bis man merkte, dass sie schön war.“ (über Adrienne, S. 12)

Nach dem Abendessen geht Adrienne heimlich auf die Straße. Sie starrt auf das gegenüberliegende Haus, als würde sie in der mondhellen, gespenstischen Atmosphäre etwas erwarten. Als sie ins Haus zurückkehrt, erwacht ihr Vater, der in seinem Lehnsessel eingeschlafen ist. Adrienne geht auf ihr Zimmer. Die Stimme des alten Mesurat, der ihr eine gute Nacht wünscht, empfindet sie als unerträglich. Obwohl sie weiß, dass sie noch stundenlang keinen Schlaf finden wird, geht sie zu Bett. Die Gedanken an ihre Kindheit erfüllen sie mit Überdruss, und sie kann sich nicht erinnern, jemals glücklich gewesen zu sein. Ihr Leben an der Seite des gleichgültigen Vaters und der ewig kränkelnden Schwester ist eine Qual. Zwar haben schon verschiedene Männer um ihre Hand angehalten – immerhin ist sie attraktiv und relativ vermögend –, doch sie hat bisher alle zurückgewiesen. Adrienne findet ihre Verehrer lächerlich, und der alte Mesurat will auf keinen Fall die Kontrolle über seine Tochter verlieren.

Die fatale Begegnung

Zwei Wochen zuvor ist Adrienne etwas zugestoßen, was sie zutiefst aufgewühlt hat. Während eines ihrer einsamen Spaziergänge fuhr eine Droschke an ihr vorbei, in der Doktor Maurecourt saß. Der Arzt ist erst vor einigen Monaten in die Provinz gezogen und lebt in unmittelbarerer Nachbarschaft der Mesurats. Beim Vorbeifahren spürte er den Blick des Mädchens, sah kurz von seinem Buch auf und tippte sich an den Hut. Das Ganze dauerte nicht mehr als eine Sekunde, doch seither treibt Adrienne eine geradezu unbezwingbare Neugier um. Dies, obwohl der Doktor deutlich über 40 Jahre alt, klein und bleich ist. Immer wieder hat Adrienne denselben Spaziergang wiederholt, ohne dass sich eine erneute Begegnung ergeben hätte.

„Nichts machte Eindruck auf sie; sie fürchtete sich vor nichts, und nichts zog sie an. Nur Langeweile und eine Art unzufriedene Resignation waren in ihren Gesichtszügen zu lesen.“ (über Adrienne, S. 29)

Vom höher gelegenen Zimmer ihrer Schwester aus kann sie das weiße Haus sehen, in dem der Doktor lebt. Adrienne ist wie verhext, ihr ganzes Verlangen ist einzig und allein darauf gerichtet, den Unbekannten wiederzusehen. So oft sie kann, schleicht sie sich auf die Straße, um das Wohnhaus des nichts ahnenden Doktors zu betrachten.

Adriennes Geheimnis wird entdeckt

Allmählich beginnt Germaine misstrauisch zu werden – erst recht, als sie Adrienne aus ihrem Zimmer kommen sieht und auf die Frage, was sie da zu suchen habe, keine überzeugende Antwort erhält. Auch die Drohung, mit dem Vater zu sprechen, vermag an Adriennes abweisender Haltung nichts zu ändern. Innerlich jedoch ist sie aufgewühlt und schwankt zwischen Angst vor dem Entdecktwerden und Trotz. Kurz darauf schlägt der Vater seinen beiden Töchtern vor, nach dem Abendessen jeweils Karten zu spielen. Adrienne ist entsetzt, kann sie sich doch nun nicht mehr zur gewohnten Stunde aus dem Haus schleichen. Vater und Schwester bedrängen sie, ihr seltsames Verhalten zu erklären und die Wahrheit zu sagen. Schließlich gibt Adrienne zu, dass sie jemanden liebe. Darauf schüttelt ihr Vater sie so heftig, dass sie in Ohnmacht fällt.

„Er schien ganz kurz zu zögern, dann tippte er flüchtig an seinen Hut. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde, und schon war der Wagen vorüber.“ (über Doktor Maurecourt, S. 32)

Am nächsten Morgen wird Adrienne von Vater und Schwester am Frühstückstisch empfangen, als ob nichts geschehen wäre. Doch als sie später in den Garten will, um Blumen zu schneiden, sagt ihr Monsieur Mesurat, dass er zuerst den Namen des Geliebten wissen wolle. Adrienne weist diese Forderung zurück. Ein paar Tage später verfällt sie der Idee, sich selbst zu verletzen – in der Hoffnung, Vater und Schwester würden dann den Arzt an ihr Krankenbett rufen. Sie stößt den nackten Arm durch eine Fensterscheibe, doch ihre Rechnung geht nicht auf: Germaine verarztet sie mit Jodtinktur und einer Mullbinde.

„Eine rätselhafte Veränderung vollzog sich; es war ein Gefühl, wie man es zuweilen in Träumen spürt, wenn einem Orte, die man mit Sicherheit nie zuvor gesehen hat, vertraut erscheinen.“ (S. 63)

Die Ankunft von Madame Legras, die das Nachbarhaus gemietet hat, bringt etwas Abwechslung in Adriennes eintöniges Leben. Im Übrigen gibt sie vor, sich den Regeln des Vaters zu unterwerfen. So setzt sie sich jeden Abend geduldig zum Kartenspiel an den Tisch. Die unentwegt lauernde Germaine findet durch geschicktes Fragen schließlich heraus, wem Adriennes Liebe gilt. Inzwischen wird Monsieur Mesurat von der Sorge umgetrieben, seine ältere Tochter sei ernsthaft erkrankt – dies würde sein geruhsames Leben womöglich aus der Bahn werfen. Er zwingt Germaine, aufzustehen, ihr Zimmer zu verlassen und sich an den Esstisch zu setzen. Darauf vertraut diese ihrer Schwester an, dass sie plane, das Haus zu verlassen. Adrienne ist über den Plan zweifach erfreut: Zum einen könnte sie Germaines Zimmer beziehen, das freien Blick auf das Haus des Doktors bietet, zum anderen würde sie ihre neugierige Peinigerin los. Deshalb hilft sie Germaine, in ein von Nonnen geführtes Krankenhospiz zu fliehen: Sie leiht ihr Geld von ihren Ersparnissen und stiehlt Monsieur Mesurats Schlüssel zum Gartentor.

Schuld am Tod des Vaters

Nachdem Adrienne bei einem Konzert im Stadtpark zufällig Madame Legras kennen gelernt hat, stattet sie ihr wenig später einen Besuch ab. Die neue Nachbarin gibt sich zuvorkommend und redet wie ein Wasserfall. Da ihr Mann häufig auf Geschäftsreise sei, fühle sie sich manchmal gelangweilt und sei froh, wenn sie Besuch bekomme. Sie bittet Adrienne, ihr die Hand lesen zu dürfen. Als sie ihr eine baldige Heirat prophezeit, gerät die 18-Jährige in höchste Erregung, was wiederum Madame Legras’ Neugier anstachelt. Nach dem Besuch muss sich Adrienne eingestehen, dass sie ihrer geschwätzigen und aufdringlichen Nachbarin gegenüber eine unüberwindliche Abneigung empfindet. Am selben Abend findet der Vater heraus, dass Adrienne ihrer Schwester bei deren Flucht geholfen hat. Rasend vor Wut brüllt er, dass sie Germaines Zimmer niemals bekommen und bis zu ihrer Volljährigkeit im Haus eingesperrt leben werde. Außerdem droht er, Doktor Maurecourt, von dem ihm Germaine erzählt hat, unverzüglich zur Rede zu stellen. Das ist zu viel für die gequälte Adrienne: Sie springt dem Vater nach, der gerade am Treppenabsatz steht. Im Dunkeln prallt sie auf ihn, er verliert das Gleichgewicht, stürzt in zwei riesigen Purzelbäumen sämtliche Stufen hinunter und bleibt tot liegen. Adrienne fällt in einen traumähnlichen Zustand.

„Was für ein köstliches Schauspiel wäre diese tägliche Kartenrunde für einen Beobachter gewesen! Diese drei Personen saßen um eine Lampe vereint, doch wie viel Eigennutz trennte sie, wie viel feindselige Gedanken verbargen sie in ihren Herzen?“ (S. 83)

Anderntags erzählt sie der Polizei, tief geschlafen und nicht das Geringste gehört zu haben. Ihr wird bewusst, dass sie jetzt reich ist – aber einsamer denn je. Während Wochen versucht sie diesem Gefühl zu entfliehen, indem sie fast täglich Madame Legras besucht, obwohl deren Geschwätzigkeit sie unsäglich nervt. Zudem setzt ihr die Nachbarin immer wieder mit boshaften Anspielungen bezüglich der Wahrheit über den Tod des Vaters zu. Von einer Ladenbesitzerin erfährt Adrienne, dass Madame Legras gar nicht verheiratet ist, sondern sich von irgendwelchen Männern aushalten lässt. Adrienne muss schockiert erkennen, wie sehr die Freundschaft zu dieser offensichtlich liederlichen Person ihr gesellschaftliches Ansehen gefährdet.

Eine überstürzte Reise

Adrienne empfindet die Stille und Einsamkeit in der Villa des Charmes als derart unerträglich, dass sie sich überstürzt auf eine Zugreise in eine andere Kleinstadt begibt. Für kurze Zeit verspürt sie ein Gefühl von Freiheit. Doch als sie ihr Ziel erreicht, regnet es in Strömen, die Landschaft rund um die Stadt ist eintönig und das Hotel, das sie bezieht, schäbig. Adrienne schreibt eine anonyme Karte an den Doktor, auf der sie ihm ihre Liebe gesteht. Dann beschließt sie, in die nächste Kleinstadt weiterzureisen. Dort kommt sie in einem noch schrecklicheren Hotel unter. Sie wird von einem Fieber überwältigt und befürchtet, an derselben Krankheit zu leiden wie ihre Schwester. Bei einem abendlichen Spaziergang schickt sie einen jungen Arbeiter weg, der ihr eine Zeit lang gefolgt ist. Aber schon wenige Minuten später bereut sie ihre Schroffheit. Sie beginnt, die verwinkelten Straßen und Gassen nach dem jungen Mann abzusuchen, in der Hoffnung, er werde sie abermals ansprechen – vergeblich. Nach einer Nacht voller Albträume kehrt sie schließlich nach Hause zurück.

„Es liegt etwas Entsetzliches in diesen Provinzexistenzen, in denen sich nichts zu verändern scheint, alles dasselbe Aussehen bewahrt, wie tief die Umwälzungen in der Seele auch sein mögen.“ (S. 84)

Kurz darauf bekommt Adrienne Besuch: Marie Maurecourt, die Schwester des angehimmelten Arztes, stellt sich als neue Nachbarin vor. Wann immer Adrienne traurig sei oder Hilfe benötige, könne sie sich an sie wenden, beteuert die Frau. Am nächsten Tag kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Madame Legras. Adrienne beschuldigt die aufdringliche Nachbarin, von ihr ausspioniert und über deren eigene Lebensverhältnisse belogen zu werden. Madame Legras antwortet wutschnaubend, sie wisse genau, wie Adriennes Vater ums Leben gekommen sei, und könne seine Mörderin jederzeit vor ein Schwurgericht bringen. Nachdem Madame Legras gegangen ist, fühlt sich Adrienne von dem Bedürfnis überwältigt, mit jemandem zu sprechen. Sie schreibt einen Brief an Marie Maurecourt, in dem sie um einen neuerlichen Besuch bittet. Voller Angst, mit dem Doktor zusammenzutreffen, schleicht sich Adrienne zum Nachbarhaus, wo sie ihr Schreiben in den Briefkasten wirft. In die Villa des Charmes zurückgekehrt, findet sie ein Kärtchen von Madame Legras vor. Die Nachbarin bedauert den Streit und bittet um Versöhnung.

Unerwiderte Liebe

Als die Schwester des Arztes erscheint, wundert sich Adrienne über deren eisigen Gesichtsausdruck. Marie Maurecourt wirft ihr vor, sich mit einer derart schäbigen Person wie Madame Legras eingelassen zu haben. Außerdem konfrontiert sie ihre Nachbarin mit der Liebeskarte, die sie dem Doktor geschickt hat. Adrienne streitet zwar alles ab, doch ihre Fassungslosigkeit verrät sie. Sie wirft Marie Maurecourt aus dem Haus.

„Nichts ist äußerlich wahrzunehmen von der Angst, der Hoffnung und der Liebe, und das Herz schlägt geheimnisvoll weiter bis zum Tod, ohne dass man es einmal gewagt hätte, die Geranien an einem Freitag anstatt samstags zu pflücken oder eher um elf Uhr morgens durch die Stadt zu spazieren als nachmittags um fünf.“ (S. 84)

Später will sie ihrem Geliebten einen Brief überbringen, bricht jedoch noch im Garten von Madame Legras ohnmächtig zusammen. Diese gibt sich fürsorglich, ruft den Doktor und gibt ihm den Brief, den sie angeblich gefunden hat, als sie der Ohnmächtigen die Kleider lockerte. Der Arzt liest das Schreiben mit großer Verwunderung, fragt jedoch professionell nach dem Gesundheitszustand der jungen Frau. Zu einer eigentlichen Visite kann er sich allerdings erst am folgenden Tag durchringen. Dabei gesteht ihm Adrienne nicht nur ihre brennende Liebe, sondern auch, dass sie ihren Vater die Treppe hinuntergestoßen hat. Maurecourt versucht zuerst, sie zu bremsen, indem er den abgeklärten Arzt herauskehrt und ihr rät, ein neues Leben zu beginnen. Als ihr Flehen nach Liebe immer verzweifelter wird, weist er sie darauf hin, dass er bereits 45-jährig sei und außerdem an einer schweren Krankheit leide. In zwei Jahren werde er tot sein. Doch es ist alles vergebens, Adrienne ist nicht von ihrem Wahn abzubringen. Maurecourt verlässt das Haus.

„Nie kam sie in Germaines Nähe, ohne den Atem anzuhalten, denn sie wollte nicht die Luft in sich aufnehmen, die die alte Jungfer in ihrer Vorstellung mit ihrem kranken Odem vergiftete.“ (über Adrienne, S. 99)

Madame Legras nutzt die Verstörtheit Adriennes aus, um ihr die gesamten Ersparnisse zu rauben. Als Marie Maurecourt einen neuerlichen Besuch ankündigt, schöpft die unglücklich Liebende neue Hoffnung: Vielleicht hat sich der Arzt erweichen lassen und schickt nun seine Schwester vorbei, um Adrienne in seinem Namen um Entschuldigung zu bitten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Marie Maurecourt überschüttet sie mit Vorwürfen. Der Arzt habe ein äußerst empfindsames Gemüt und sei nach dem Besuch bei ihr entkräftet zusammengebrochen. Adrienne solle das Städtchen doch verlassen, ihr Ruf sei nun endgültig ruiniert. Plötzlich stellt Madame Maurecourt fest, dass der Blick ihrer Gesprächspartnerin ganz leer geworden ist. Am selben Abend irrt Adrienne vor sich hin murmelnd durch die Stadt und begibt sich schließlich auf den Weg in den Nachbarort. Als Spaziergänger sie anhalten, erinnert sie sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen. Der Wahnsinn hat endgültig von ihr Besitz ergriffen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vordergründig wirkt Adrienne Mesurat konventionell: Die Ereignisse um die versuchte Flucht aus dem beengenden bürgerlichen Leben werden in chronologischer Reihenfolge erzählt. Der Roman ist dreigeteilt: Am Ende des ersten Abschnitts steht der von Adrienne verschuldete Tod ihres Vaters – ein Ereignis, das trotz seiner Schrecklichkeit eine Wende für das öde Leben der jungen Frau bedeuten könnte. Am Schluss des zweiten Teils scheint diese Hoffnung jedoch zerstört: Adrienne kehrt von ihrer Reise zurück und ist noch verzweifelter als vor dem überstürzten Aufbruch. Die wahre Flucht aus dem Alltag erfolgt erst am Ende des dritten Teils, doch ist es keine Flucht ins Glück, sondern ein endgültiger Fall in den Wahnsinn. Julien Green schreibt in einer zurückhaltenden Sprache, die auf Effekthascherei und stilistische Pirouetten verzichtet. Seine Schilderungen der beklemmenden bürgerlichen Enge, in der die Heldin gefangen ist, sind äußerst dicht. Dabei gibt ein allwissender Erzähler über weite Strecken die Sicht der Heldin wieder, mit all ihren Qualen, Ängsten und Hoffnungen. Das Wechselspiel zwischen psychischer Not und körperlichem Unbehagen wird fast schmerzhaft realistisch geschildert, und die nächtliche Kleinstadtatmosphäre verleiht dem Roman stellenweise etwas Traumhaftes, Gespenstisches.

Interpretationsansätze

  • In Adrienne Mesurat wird ein beklemmendes Bild provinzieller Enge und bürgerlicher Monotonie entworfen, doch der Roman geht weiter über einfache Sozialkritik hinaus. Das Elend der Titelheldin steht stellvertretend für die existenzielle Langeweile des menschlichen Lebens.
  • Der Alltag wird als eine endlose Abfolge immer gleicher, sinnloser Nichtigkeiten und Rituale dargestellt, über deren Einhaltung die ganze Gesellschaft wacht. Jeder Verstoß wird als geradezu anarchischer Akt wahrgenommen. Die Normalität erstarrt zur Leblosigkeit. Strengster Vertreter dieser steinernen Ordnung ist Adriennes Vater.
  • Adriennes Liebe erscheint als krankhafte fixe Idee. Sie ist letztlich nichts anderes als ein verzweifelter und zum Scheitern verurteilter Versuch, einem öden und ereignislosen Leben zu entfliehen.
  • Die Beziehungen im Roman sind eine Qual, sie bieten keine Hilfe oder Ablenkung. Insbesondere die eigenen Angehörigen werden zu eigentlichen Gefängniswärtern. Nicht nur Adrienne leidet unter zwischenmenschlichen Defiziten. So lehnt sich die Schwester Germaine zwar gegen die väterliche Autorität auf, bezeichnenderweise gelingt ihr dies aber nur dank ihrer Krankheit. Und vor ihrem Ausbruch aus dem väterlichen Haus hat sie ihre jüngere Schwester mit ungezügelter Bosheit bespitzelt und gequält.
  • Julien Green hat seine Romane selbst als „im Grunde religiös“ bezeichnet. In Adrienne Mesurat wird die Provinz mit der Zeit immer deutlicher zum Symbol der Hölle auf Erden, aus der es keine Erlösung durch Gnade, Liebe oder Verständnis gibt. Die einzigen Fluchtwege führen in den Wahnsinn, die Krankheit oder das Jenseits.

Historischer Hintergrund

Das Ende der Dritten Republik

Adrienne Mesurat spielt in der tiefsten französischen Provinz, der geschilderte Alltag scheint zeitlos und spiegelt so gut wie keine politischen oder historischen Ereignisse wider. Nur an Details wird klar, dass die Handlung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts angesiedelt ist, zur Zeit der Dritten Französischen Republik.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war Frankreich vor allem darauf bedacht, sich vor etwaigen deutschen Rachegelüsten zu schützen. Da das Land den Großteil der deutschen Reparationszahlungen erhielt, die Gebiete Elsass und Lothringen zurückerobert hatte sowie vom Völkerbund umfangreiche Mandatsgebiete im Nahen Osten und in Afrika zugesprochen bekam, wuchs das politische Gewicht der „Grande Nation“ auf dem europäischen Kontinent deutlich. Dies zeigte sich nicht zuletzt, als Frankreich 1923 das Ruhrgebiet besetzen ließ, weil der unterlegene ehemalige Kriegsgegner seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen war.

Doch die 20er Jahre waren auch eine Zeit wirtschaftlicher und politischer Krisen. Die schnell wechselnden Regierungen waren außerstande, die sozialen Probleme im Zuge der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise zu lösen. Am äußersten rechten und linken Rand des politischen Spektrums erstarkten radikale Gruppierungen. Bei den Wahlen 1936 triumphierte die aus Sozialisten und Kommunisten bestehende Volksfront. Obwohl es ihr gelang, zahlreiche Sozialreformen durchzusetzen, brach sie aufgrund interner Streitigkeiten schon zwei Jahre später wieder auseinander.

Entstehung

Adrienne Mesurat, 1927 erschienen, war Julien Greens zweiter Roman und brachte ihm den internationalen Durchbruch. Schon die zeitgenössische Kritik vermutete, dass sich Green bei der Niederschrift von den psychoanalytischen Schriften Sigmund Freuds hatte inspirieren lassen. Auch spätere Literaturexperten stellten diesen Zusammenhang auf, obwohl der Autor einen entsprechenden Einfluss stets verneinte.

Was Quellen und Entstehungsgeschichte von Adrienne Mesurat betrifft, äußerte sich Green nur ungern – was übrigens auch für seine zahlreichen anderen Romane gilt. Angeblich verfolgte er bei der Niederschrift weder einen festen Plan, noch arbeitete er nach einem bestimmten dramaturgischen Kalkül. Dafür sprach er häufig von einer „inneren Stimme“ oder einem rätselhaften Impulsgeber. Klaus Mann schildert in seiner Autobiografie Der Wendepunkt, wie er den bereits berühmten Green Anfang der 30er Jahre in Paris besuchte und überrascht war, „einen glatten schlanken Jüngling von diskret kosmopolitischer Eleganz“ vorzufinden. Als Mann ihn fragte, woher seine Kenntnisse der „infernalischen Labyrinthe dunkelster Triebe und geheimster Qualen“ stammten, lautete die Antwort: „Vom Anderen.“ Und 1986 schrieb Green in sein Tagebuch: „In mir ist eine andere Person, die ich nicht kennen kann. Gewiss ist sie es, die meine Bücher schreibt.“

Wirkungsgeschichte

Adrienne Mesurat wurde von Anfang an als äußerst faszinierender Roman wahrgenommen. Als neuartig empfanden Kritiker und Leser vor allem die Art und Weise, wie die Vorkommnisse aus der Sicht der Heldin geschildert werden, ohne dass sich diese ihrer eigenen seelischen Regungen vollkommen bewusst ist. Damit bewegte Green sich außerhalb jeder literarischen Modeströmung und vermied insbesondere die oft weitschweifigen Ausführungen naturalistischer Romane.

Arthur Schnitzler fühlte sich von dem Buch an sich selbst erinnert, genauer: „An den früheren A. S. mit viel mehr Können.“ Für den Philosophen und Literaturkritiker Walter Benjamin brachte Green „Ordnung in unsere frühesten Schrecken“. Ihm zufolge ist Adrienne Mesurat „eines der allerbesten Bücher dieses Jahrhunderts“. Der Schriftsteller und Journalist Siegfried Kracauer lobte insbesondere die Sprache des Romans: „Sie ist lautlos, damit die Geisterrede hörbar werde. Sie umkleidet nichts, sondern weckt die Gegenstände, die dann aufschauern.“ Aber auch französische Geistesgrößen gehörten zu Greens Bewunderern, der Katholik François Mauriac ebenso wie der Atheist André Gide. Der mit Green befreundete Philosoph Jacques Maritain schrieb, Adrienne Mesurat entwerfe „das Bild der Welt ohne die Gnade“.

Zweimal wurde das Werk fürs Fernsehen verfilmt, 1953 vom französischen Regisseur Marcel L’Herbier, 1969 von dem Deutschen Oscar Fritz Schuh. Weshalb der Roman bis heute nichts von seiner Wirkungsmacht eingebüßt hat, brachte der deutsche Journalist Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung Die Welt auf den Punkt: „Was nie aktuell im Sinne von modisch gewesen ist, kann gar nicht richtig veralten.“

Über den Autor

Julien Green wird am 6. September 1900 als Julian Hartridge Green in Paris geboren, seine Eltern stammen aus den Südstaaten der USA. Den überwiegenden Teil seines Lebens verbringt der zweisprachig erzogene Green in der französischen Hauptstadt. Als er mit 15 Jahren seine Mutter verliert, tritt er zum katholischen Glauben über. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs dient er in der französischen Armee. Ab 1919 studiert er für drei Jahre Philologie an den Universitäten Virginia und Charlottesville. Während dieser Zeit beginnt er, sich mit seiner Homosexualität auseinanderzusetzen. Nach seiner Rückkehr ins geliebte Frankreich will Green zunächst Theologe oder Maler werden, entscheidet sich dann jedoch für die Schriftstellerei. Schon mit seinen ersten Romanen – darunter sein größter Erfolg Adrienne Mesurat (1927) – etabliert er sich als erfolgreicher Schriftsteller. Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 Frankreich besetzt, flüchtet Green in die Vereinigten Staaten. Bis 1945 arbeitet er im amerikanischen Office of War Information, wobei er vor allem mit Übersetzungen beschäftigt ist und ab und zu schwärmerische Vorträge über Frankreich hält. 1971 wird Green, der sich nie hat einbürgern lassen, als erster Ausländer in die renommierte Académie française gewählt. Sein Werk umfasst mehr als 60 Romane. Als eigentliches Prunkstück dieses beeindruckenden Œuvres gilt jedoch das Tagebuch, das Green mit 19 Jahren begonnen hat und bis kurz vor seinem Tod führt. Es ist eines der umfangreichsten Tagebücher der Literaturgeschichte. Am 13. August 1998 stirbt Green fast 100-jährig in Paris, sein Leichnam wird auf seinen Wunsch in einer Kirche im österreichischen Klagenfurt beigesetzt. Der letzte Eintrag im Tagebuch lautet: „Die Ereignisse sind im Innern.“

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