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Die Charaktere

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Die Charaktere

Insel Verlag,

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12 take-aways
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What's inside?

Ein Meisterwerk der Aphoristik.

Literatur­klassiker

  • Aphorismen
  • Barock

Worum es geht

Ein Feuerwerk der Menschenkenntnis

Andere Zeiten, andere Sitten: La Bruyères Werk Die Charaktere gewährt dem Leser Einblicke in die höfische und bürgerliche Welt des 17. Jahrhunderts in Frankreich, also in die glanzvolle Epoche des Sonnenkönigs Ludwigs XIV., dessen Zeitgenosse La Bruyère war. Das Buch steht in der großen französischen Tradition aphoristischer Beschreibungen der „moeurs“, der Sitten. La Bruyère geht mit unvoreingenommenem und unbestechlichem Blick zu Werke. Er arbeitet den menschlichen Kern hinter all den Heucheleien und Übertreibungen des überfeinerten französischen Hofes heraus – und der scheint sich über die Jahrhunderte doch nicht allzu sehr verändert zu haben. In seiner Denkweise und in seinem literarischen Stil sowie mit all seinen psychologischen, soziologischen und anthropologischen Ansätzen war La Bruyère seiner Zeit weit voraus: ein Aufklärer, ja sogar ein sehr modern anmutender Autor.

Take-aways

  • Die Charaktere ist ein zeitloses Werk über das menschliche Verhalten, vorgeführt am Beispiel der Hofgesellschaft von Versailles unter Ludwig XIV.
  • La Bruyère arbeitete als Privatlehrer bei Verwandten des Königshauses. Das verschaffte ihm direkten Zugang zum Hochadel.
  • Sein Werk entlarvt die Übertreibungen und Heucheleien einer überfeinerten Hofgesellschaft.
  • Die meisten Menschen wollen vor allem Eindruck schinden: mit ihrer Konversation, ihrer Kleidung, ihrem Auftreten.
  • Besonders krass treten neureiche Steuerpächter, scheinheilige Frömmler und Freigeister auf.
  • Die Pariser – auch das einfache Volk – ahmen jede Mode des Hofes nach und werfen sich dem Adel würdelos zu Füßen.
  • Frauen neigen eher zu Extremen als Männer, im Guten wie im Schlechten.
  • Der ehrliche, natürliche, ungekünstelte Mensch, der das rechte Maß zu halten weiß, ist kaum zu finden.
  • Die Charaktere sind alles, was der Autor je veröffentlicht hat; er erweiterte das Buch von Auflage zu Auflage.
  • Das Werk war von Anfang an sehr erfolgreich. Verschlüsselte Namen von Mitgliedern der Hofgesellschaft machten das Publikum neugierig.
  • La Bruyères knapper, klarer Stil hat die Aphoristik geprägt und u. a. Flaubert, Proust, Stendhal und Gide inspiriert.
  • Sein unvoreingenommenes Beobachten gilt bis heute als vorbildlich aufklärerisch.

Zusammenfassung

Über Kunst und Literatur

Die Schriftsteller der Antike haben das Wichtigste bereits vorgedacht und in unübertrefflicher Weise zum Ausdruck gebracht. Die neueren Autoren können sie nur nachahmen und ihren Stil der Zeit anpassen. Ein Schriftsteller muss sich vor allem darum bemühen, richtig zu denken, dann ergibt sich der natürliche, angemessene, gute Stil wie von selbst. Je größer der Schwulst und je pompöser die Verse, desto mittelmäßiger der Autor. Solche Dichter wollen nur Eindruck schinden und hoffen, sich mit ihren Werken eine Stelle am Hof oder eine Pfründe zu ergattern, um sich ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Nur mittelmäßige und dumme Leser ergötzen sich an einem überladenen Stil, der die eigentliche Aussage verdunkelt. In der Briefliteratur sind Frauen den männlichen Schriftstellern oftmals an Treffsicherheit des Ausdrucks überlegen. Für gelungene Dramen ist es unerlässlich, den Stoff kunstvoll zu verfremden und erhaben zu gestalten. Das Natürliche und Alltägliche auf der Bühne zu sehen, langweilt und wirkt lächerlich: etwa das Rülpsen eines Betrunkenen, der seinen Rausch ausschläft, oder die stundenlange Prozedur, wie ein Geck sich schminkt, parfümiert und ankleidet, nur weil gezeigt werden soll, dass er ein Geck ist.

Über persönliche Begabung

Ein Mensch, der ein besonderes Talent oder besondere Eigenschaften hat, braucht ein Umfeld, das diese Verdienste anerkennt, sonst sind sie fast nichts wert. Man sollte also nicht übertrieben bescheiden sein, sondern es besteht im Gegenteil eine Art Pflicht, das Gute, das man tut, ins Gespräch und zur Geltung zu bringen. Es gibt genügend Nichtsnutze und Schwätzer, über deren zweifelhafte Verdienste alle Welt redet.

„Alles ist gesagt, und seit mehr als siebentausend Jahren kommt man zu spät – seit es Menschen gibt, die denken.“ (S. 17)

Manche Menschen vergeuden ihre Zeit, bringen es zu nichts und glauben im Alter, sie müssten finanzielle Ansprüche an das Gemeinwesen erheben. Dieses Gemeinwesen wiederum wird geradezu gelähmt von allerlei Schmeichlern, Prahlern und Dummköpfen, denen es gelungen ist, sich ohne Tugenden und ohne Verdienst in machtvolle Stellungen zu manövrieren, von wo aus sie alle möglichen Leute schikanieren.

„Man schreibt nur, um verstanden zu werden; aber man soll dabei wenigstens schöne Dinge dem Verständnis zuführen.“ (S. 41)

Es hat keinen Zweck, einen Stammler zu einem Rechtsanwalt oder Prediger machen zu wollen, und wer nicht zum Freigeist taugt, sollte lieber Bischof werden. Man wird sich kein Verdienst erwerben, wenn man für eine Sache gar nicht begabt ist. Es ist übrigens müßig, sich erklären zu wollen, woher einmalige, hervorragende Begabungen kommen. Ein besonders großer Mann ist jemand, der zu einer außerordentlichen Begabung auch noch einen tugendhaften Charakter hat. Er hat es nicht nötig, zu prahlen oder schroff und herablassend zu sein. Güte und Tugend besitzt, wer anderen Wohltaten erweist, vor allem, wenn es für ihn selbst mit Mühen verbunden ist.

Über Frauen und die Liebe

Welche Unterschiede gibt es zwischen Frauen und Männern? Frauen neigen zum Extrem: Sie sind entweder besser oder schlechter als Männer. Sie haben die intensiveren Liebesbeziehungen, Männer dafür die intensiveren Freundschaften. Männer bewahren fremde Geheimnisse, Frauen eher nicht. Männer sagen direkter, was sie empfinden, Frauen sagen eher, was sie nicht empfinden. Frauen leiden leiser, aber länger an einer verlorenen Liebe.

„Eine schön Frau, die zudem die wertvollen Eigenschaften eines ehrlichen Mannes besitzt, ist der köstlichste Umgang, dem man in der Welt begegnen kann: Sie weist alle Vorzüge der beiden Geschlechter auf.“ (S. 72)

Die schönsten und besten Frauen sind die natürlichen, ungekünstelten. Wenn Frauen mit sich selbst im Einklang sind und der Stimme ihres Herzens folgen, haben sie es nicht nötig, übertrieben kokett oder extrem prüde zu sein. Frauen, die sich um der Männer willen schminken, neigen zur Übertreibung, was so weit gehen kann, dass sie abstoßend wirken. Das gilt besonders für ältere Damen.

„Äußerste Liebe ist gewöhnlicher als vollkommene Freundschaft.“ (S. 100)

Liebe ist leidenschaftlich und entsteht spontan, Freundschaft hingegen wächst langsam und will gepflegt sein. Liebe, die aus Freundschaft hervorgegangen ist, kann nie sehr leidenschaftlich sein. Wahre Freundschaft ist altruistisch, Liebe hat egoistische Züge. Um sich und anderen die Leiden der Eifersucht zu ersparen, sollte man sich als Mann von den Gefühlen und dem Verhalten der Frau leiten lassen und nicht so sehr von den eigenen Empfindungen; eine Frau, die einem Mann Grund zur Eifersucht gibt, verdient es nicht, dass man auf sie eifersüchtig ist.

Über den Umgang in der Gesellschaft

Wahre Höflichkeit zeigt sich vor allem daran, dass man auf Kleinigkeiten achtet. In gesellschaftlichen Unterhaltungen kommt man nicht darum herum, viel aufgeblasenes und törichtes Phrasendreschen und Gerede über sich ergehen zu lassen. Weit verbreitet in der Konversation, aber auch bei Schriftstellern oder Kanzelrednern ist eine regelrechte Zitierwut klassischer Autoren. Es gibt Leute, die unentwegt laut reden – und gleichzeitig essen. Andere reden von feinem Essen, während Leute zuhören, die sich kaum das notwendigste Brot leisten können. Wieder andere schwadronieren wortreich, aber inhaltsleer von der „Reinheit der Sprache“ oder irgendwelchen anderen, gleichgültigen Themen.

Über die Glücksgüter

Die Glücksgüter sind eine adlige Geburt, ein großes Vermögen oder persönliche Verdienste. Nur die Verdienste können einen Mann in der Gesellschaft weiterbringen, aber wenn Adel oder Reichtum hinzukommen, werden sie eher bemerkt. Hohe Geburt und außerordentlicher Reichtum decken manche persönliche Schwäche zu. Ämterkauf ist eine weit verbreite, ja geradezu übliche Art der Besetzung von Staatsstellen. Dies führt zu den bekannten Entartungen der Neureichen wie Prasserei, Angeberei, Kriecherei, Geiz und Erbstreitigkeiten. Der typische, abstoßende Neureiche ist der Steuerpächter, dessen oftmals mit Willkür und Erpressung verbundene Zwangsmaßnahmen bei der Steuereintreibung viele Leute ins Elend treiben. Ein weit verbreitetes Mittel zur Verschwendung von Vermögen, bei dem sich viele ruinieren, ist das Glücksspiel mit Würfel und Karten.

Über die Stadt Paris

Im Vergleich zwischen dem Hof und der Stadt Paris erweist sich Letztere immer wieder als verzerrtes Spiegelbild des Königssitzes. Sie ahmt ihn nach, erreicht aber seinen Glanz niemals, was immer ein wenig lächerlich wirkt. So fallen z. B. die Pariserinnen allzu leicht auf den äußeren Schein herein, himmeln einen erfolgreichen jungen Mann völlig unkritisch an, verhalten sich geziert und affektiert, weil sie das für Hofsitte halten, und verschwenden unglaublich viel Zeit mit sinnlosen Besuchsritualen. Die Bürgerlichen neigen dazu, sich regelrecht zu ruinieren, indem sie das Leben und die Sitten des Adels nachahmen.

Über den Hof

Das Hofleben findet hauptsächlich in den Vorzimmern statt. Dauernd muss man anwesend sein und repräsentieren, sich einschmeicheln, Theater spielen, sich umarmen, fröhlich und laut lachen. Der Hof ist ein Ort marmorharter Höflichkeit und man bedient sich dort der abgeschmacktesten Floskeln. Draußen mag der Höfling ein Herr sein, am Hof ist er Sklave. Höflinge werden schnell hochgejubelt, aber auch bald wieder fallen gelassen. Die Neugier der Leute richtet sich in boshafter Weise viel mehr auf diejenigen, die scheitern, als auf die Glücklichen, denen etwas Positives widerfährt. Das Spinnen von Intrigen und das Netzwerken ist die Hauptbeschäftigung der Höflinge, und sie ist kompliziert und anspruchsvoll wie ein Schachspiel. Üblicherweise werden Höflinge bei der Jagd nach Pfründen nur von der Raffgier getrieben, doch es gibt tatsächlich auch Fälle, in denen jemand vom Ehrgeiz angestachelt wird, ein Amt ordentlich zu verwalten.

„Das Herz macht geselliger und umgänglicher als der Geist.“ (S. 112)

Das Volk bewundert die Adligen, es wirft sich ihnen geradezu vor die Füße. Reiche Bürger ahmen sie – oftmals ungeschickt – nach, vor allem die Neureichen. Zugleich zeigen die Adligen wenig Barmherzigkeit und verlangen vom Volk große Opfer nur für ihren Prunk. Für Menschen, die nur Geist oder nur Verdienst haben, aber keine Abstammung und kein Vermögen, haben die Adligen nicht viel übrig, ja sie verachten sie in der Regel sogar. Je höher der Adelsrang, desto mehr versuchen dessen Angehörige sich von den nachfolgenden Rängen zu unterscheiden – worin diese sie wiederum nachahmen. Das wird so weit gehen, dass der Hochadel sich eines Tages wie das einfache Volk aufführt und auf allen Prunk verzichtet.

Über das Staatsoberhaupt

Auf einem Fürsten oder König lastet die Verantwortung für das Wohlergehen einer ganzen Nation, nicht etwa nur für eine Familie. Er verfügt über alle denkbaren Annehmlichkeiten – außer über ein Privatleben. Wegen seiner Machtfülle können seine Entscheidungen zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen; auf jeden Fall ist das Ergebnis extrem. Gut ist es, wenn das Interesse des Staates mit demjenigen des Fürsten verschmilzt. Ein guter Fürst ist wie ein Hirte für sein Volk, dem er seinen Schutz gewährt und von dem er dafür Gefolgschaft und Gehorsam verlangen kann. Die Staatsräson gebietet es bisweilen, Übelstände hinzunehmen, weil sie noch größere Übel verhindern.

Über die Menschen

Die Menschen sind, wie sie sind, mit all ihren Sitten, Lastern, Launen, Unentschlossenheiten, Zerstreutheiten und Zerstreuungen. Man muss sie hinnehmen und mit ihnen leben; es wäre unmenschlich, sich über sie erhaben zu fühlen. Die Menschen trauern z. B. über so geringfügige Dinge wie einen toten Hund oder zerschlagenes Porzellan. Die Zerstreuungssucht, geboren aus Langeweile, ist die Wurzel vieler Übel. Politiker aller Zeiten wussten, dass man das Volk durch Brot und Spiele und durch Prunk am besten ablenkt und einschläfert. Aber selbst wenn die Leute am Mahl der Götter teilnehmen könnten, würden sie sich irgendwann langweilen. Weit verbreitete Laster wie Unhöflichkeit, Unredlichkeit oder Unbarmherzigkeit entspringen der Dummheit, der Eitelkeit und der Unkenntnis von Pflichten. Es wäre für alle Menschen besser, sich gegenseitig Freude zu bereiten und sich dadurch des geselligen Umgangs miteinander als würdig zu erweisen.

„Es gibt Leute, die einen Augenblick früher sprechen, als sie gedacht haben.“ (S. 125)

Kinder handeln und reagieren spontan, im Guten wie im Schlechten. Sie leben ganz im Hier und Jetzt und genießen es. Ihr Spiel ahmt alles, was sie erfahren, auf direkte Weise nach, und sie gehen ganz darin auf – anders als im Pflichtpensum ihres Lernens. Sie haben ein untrügliches Gerechtigkeitsgefühl. Sie übermäßig zu bestrafen ist darum ebenso falsch wie von einer Strafe abzusehen.

Über Vorurteile

Auf Vorurteile trifft man überall und zu allen nur denkbaren Themen. Ein Gelehrter gilt leicht als Pedant und muss sich oftmals mit seiner besseren Kenntnis und Beurteilung zurückhalten, wenn Einflussreiche losschwadronieren. Andererseits reden Fachleute – Ärzte, Anwälte, Gelehrte – nicht selten in einem unverständlichen Kauderwelsch daher und geben scheinbare Fachurteile ab. Würde man sie zu einer verständlichen Ausdrucksweise zwingen, wären die meisten schnell ihr Ansehen (und damit ihr Einkommen) los. Über Kunst hört man von dem einen dies und von dem anderen das genaue Gegenteil. Im Übrigen wird meistens gelobt, was andere bereits gelobt haben – das muss nicht unbedingt das wirklich Lobenswerte sein. Viele Menschen, die in einem Handwerk, einer Kunst oder auf der Bühne etwas Besonderes leisten, sind in einem anderen Rahmen oder im normalen häuslichen Leben mittelmäßig und banal. Das Urteil über sie fällt dann je nach Umstand ganz unterschiedlich aus. Nur ein Mensch, der in Ungnade gefallen ist, kann es niemandem mehr recht machen: Er wird immer schlecht beurteilt, selbst wenn er der tugendhafteste Held wäre.

Über die Mode

Nichts ist so vergänglich wie die Mode, und doch richtet sich alle Welt nach ihr. Alles wird von der Mode erfasst und bestimmt, von den Frisuren über die Tulpenzucht bis zur Frömmigkeit. Die einzigen Dinge, die sich durch Moden und Zeiten nie ändern, sind im Positiven die wahre Tugend und im Negativen die Heuchelei.

Über die Kanzelpredigt

Das Predigen von der Kanzel ist nur noch ein künstlicher rhetorischer Ohrenkitzel in einem blumigen Stil, der nach Beifall heischt, ohne echte Demut oder Frömmigkeit. Die schlimmsten Menschen sind die Scheinheiligen und falschen Frommen, die nicht an Gott glauben und ihn darüber hinaus regelrecht verspotten, indem sie frommes Verhalten ausschließlich für ihre persönlichen Zwecke benutzen. Die Natur selbst in ihrer unendlichen Vielfalt ist genauso ein Zeichen für das Wirken Gottes wie die Tatsache, dass der Mensch denken kann. Maßlosigkeit ist eine typisch menschliche Eigenschaft, Gleichgewicht hingegen ist Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit.

Zum Text

Aufbau und Stil

La Bruyères Die Charaktere ist ein aphoristisches Werk, es enthält rund 1000 Abschnitte unterschiedlicher Länge: vom extrem verdichteten, zweizeiligen Sinnspruch bis zum mehrseitigen Essay. Die meisten Abschnitte liegen irgendwo dazwischen und sind ein Viertel oder ein Drittel einer Seite lang. La Bruyère hat die Gliederung in 16 Kapitel mit Titeln wie „Von den Frauen“, „Vom Hofe“ oder „Vom Urteil“ selbst vorgenommen, um gewisse Schwerpunkte zu setzen, aber es bleibt eine weitgehend unsystematische, essayistische Arbeit. Der Stil ist knapp und klar, wofür der Autor immer wieder gerühmt worden ist. La Bruyère beobachtet genau und bringt Aussagen auf den Punkt, ohne zu urteilen. Er spottet nicht, ist aber bisweilen ironisch.

La Bruyère verwendet im Text häufig die Namen fiktiver antiker Personen. Sie werden wie Figuren in einer Erzählprosa behandelt („Achilles tat dies und das“) und dienen als Decknamen für reale Zeitgenossen La Bruyères. Damals war es wohl besonders spannend zu erraten, wer jeweils gemeint war. Dem heutigen Leser würden sich die Namen allenfalls über eine kommentierte Ausgabe erschließen und selbst dann noch weitgehend fremd bleiben.

Interpretationsansätze

  • La Bruyères Werk ist ein Sittengemälde der höfischen Gesellschaft. Wie kaum ein anderes schildert es die typischen Charaktere und Gebräuche in Frankreich, insbesondere am Hof von Versailles unter Ludwig XIV.
  • Anders als die adlige Memoirenliteratur jener Zeit, etwa die Werke des Herzogs von Saint-Simon oder die Briefe der Liselotte von der Pfalz, bewahrt sich La Bruyère als Bürgerlicher eine deutliche Distanz zum Hof. Immer wieder wird das Ressentiment gegenüber dem Adel spürbar.
  • Von einem durchdachten humanistischen Standpunkt aus hält La Bruyère dem Frankreich seiner Zeit einen eigentlichen Gesellschaftsspiegel vor: den führenden Schichten des Hofes ebenso wie dem Provinzadel, dem Klerus wie den Frömmlern und Freigeistern, den neureichen Steuerpächtern und Spekulanten wie den reichen Erben.
  • Gleichgültig ob er über die Liebe, die Höflichkeit, die Rhetorik oder die ranghöchsten Adligen am Hof spricht: La Bruyères Ideal ist das rechte Maß in allen Dingen, sein Leitbild der ehrliche, natürliche, ungekünstelte Mensch.
  • La Bruyère übt keine politische Kritik an der Adelsgesellschaft, ihm geht es nicht um eine Revolution. Er beobachtet und beschreibt nur die Menschen, möglicherweise in der Hoffnung, dass sie ihre Laster erkennen und sich bessern. Die Grundstimmung seines Werks ist gleichwohl pessimistisch.
  • Den Zeitgenossen galt La Bruyères Buch als Schlüsselwerk. Sie waren begierig zu erraten, wer sich hinter den verklausulierten Namen verbarg.

Historischer Hintergrund

Die höfische Gesellschaft unter Ludwig XIV.

Für den jugendlichen Ludwig XIV. war die „Fronde“, der Aufstand gegen seine Herrschaft noch unter der Regentschaft seiner Mutter in den Jahren 1648–1653, ein traumatisches Erlebnis. Es war eine Erhebung des Hochadels, der hohen Richterschaft und von Teilen des Volkes von Paris unter Führung des Prinzen von Condé.

Die Fronde richtete sich gegen den zunehmenden Absolutismus in der von den Kardinälen Richelieu und Mazarin betriebenen Politik. Diese hatten die französische Staatsführung jahrzehntelang bestimmt und die Macht der Krone bereits gestärkt, bevor Ludwig XIV. selbst das Heft in die Hand nahm und den Absolutismus vollendete („Der Staat bin ich“). Um dies zu erreichen, musste er die letzten Vorrechte des Adels brechen. Die Entscheidung für Versailles als Residenz entsprang u. a. dem Wunsch, den Umtrieben von Adel und Volk in Paris nicht länger ausgesetzt zu sein.

Auf subtile Weise band Ludwig nun den Adel an seinen Hof. Keiner der Großen konnte es sich erlauben, fernzubleiben. Wenn der König über jemanden sagte: „Ich sehe ihn nicht“, dann bedeutete das das gesellschaftliche Aus. Pensionen, Beförderungen, Berufungen, Ämtervergaben, Stellenbesetzungen, all das bedurfte letztlich der Einwilligung des Monarchen. Ludwig benutzte den Ämterkauf und die Vergabe von Offiziersstellen, um seine Macht zu festigen und den Untergebenen seine Gunst zu erweisen oder aber sie in Ungnade fallen zu lassen. Um Erfolg zu haben, musste man am Hof erscheinen, sich gefällig und ergeben zeigen.

Auch das Glücksspiel benutzte Ludwig für seine Zwecke: Reiche, angesehene Adelsfamilien ruinierten sich damit und gerieten so in seine Abhängigkeit. Während seiner über 70 Jahre währenden Regierungszeit korrumpierte das System des Sonnenkönigs den französischen Staat und sein Volk.

Entstehung

La Bruyères einziges Werk entstand aus einer Übersetzung des gleichnamigen Buches von Theophrast, einem antiken Autor. Der ursprüngliche Gesamttitel lautete: Die Charaktere Theophrasts, übersetzt aus dem Griechischen, zusammen mit den Charakteren und Sitten unseres Jahrhunderts. Theophrast war der bedeutendste Schüler von Aristoteles und übernahm nach dessen Tod die Leitung der Akademie. Sein Werk Charaktere nimmt in 30 kleinen Abhandlungen – beispielsweise über den Abergläubigen, den Geizigen, den Verleumder usw. – charakteristische Verhaltensweisen kritisch aufs Korn. Weitere Vorbilder für La Bruyère waren der von ihm bewunderte Michel de Montaigne, der Verfasser der Essays, sowie der Moralist La Rochefoucauld.

Die Theophrast-Übersetzung machte in der ersten Ausgabe von La Bruyères Buch noch den Hauptanteil aus, wurde aber von Auflage zu Auflage immer weiter zurückgedrängt, weil der Autor laufend eigene Beobachtungen einfügte. La Bruyère arbeitete bis zu seinem Tod an dem Buch. Bis dahin waren acht Auflagen erschienen, die neunte war in Vorbereitung.

Wirkungsgeschichte

Ab 1684 war La Bruyère als Prinzenerzieher bei der Fürstenfamilie Condé angestellt, einer Seitenlinie des französischen Königshauses. Die Stelle verschaffte ihm Zugang zu den innersten Kreisen des Hofs von Versailles und ermöglichte ihm die Bekanntschaft aller hervorragenden Persönlichkeiten seiner Zeit.

Bei dieser Hofgesellschaft waren Die Charaktere wegen ihrer knappen, ironischen Formulierungen sofort ein Erfolg und wurden in andauernd erweiterten Ausgaben nachgedruckt. Das Publikum war natürlich auch sehr begierig zu erfahren, wer sich hinter den verschlüsselten antiken Namen in La Bruyères Werk verbarg.

Wie sein etwas älterer Zeitgenosse La Rochefoucauld bediente sich La Bruyère der aphoristischen Form im Gegensatz zur systematischen, moralphilosophischen Abhandlung. Mit seinem konzentrierten, knappen Stil führte er die Aphoristik einer Vollendung zu. Spätere Schriftsteller wie Gustave Flaubert, Stendhal, Marcel Proust oder André Gide haben sich davon inspirieren lassen.

Durch seine psychologischen, soziologischen und anthropologischen Ansätze mutet La Bruyères Werk fast modern an. So verwundert es nicht, dass auch Schriftsteller der 1960 gegründeten Gruppe Tel Quel, zu der u. a. Michel Foucault, Jacques Derrida und Roland Barthes gehörten, La Bruyère für sich entdeckten.

Über den Autor

Jean de La Bruyère wird am 16. August 1645 in Paris geboren. Er stammt aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Nachdem er in Orléans Rechtswissenschaften studiert hat, erhält er die Zulassung, am höchsten Pariser Gericht zu plädieren, dem so genannten Parlement. Dank einer reichen Erbschaft kann er sich ein Amt in der Finanzverwaltung in der Normandie kaufen, dessen Erwerb sogar mit einem Adelsprädikat verbunden ist. Außer zur formellen Übernahme der Amtsgeschäfte ist er jedoch niemals dort; stattdessen lebt er weiterhin als Privatgelehrter in Paris. 1684 wird er vom Prinzen von Condé als Erzieher von dessen Enkel berufen. Der Prinz ist ein bedeutender Feldherr seiner Zeit und das Oberhaupt der bourbonischen Seitenlinie Condé, also ein Verwandter des Königshauses. Durch diese wertvolle Verbindung erhält Jean de La Bruyère direkten Zugang zu den Kreisen des Hochadels, kann diese Welt aus nächster Nähe beobachten und lernt alle bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit kennen. Auch nach der Verheiratung seines Schützlings im Jahr 1687 verbleibt La Bruyère als Sekretär und Gesellschafter in dessen Gefolge. Allerdings sind der Junge und sein hochadliger Vater nach dem Zeugnis des Herzogs von Saint-Simon aufgeblasene, rücksichtslose Proleten, die auch La Bruyère wie einen Domestiken schikanieren. 1688 veröffentlicht er sein Buch Die Charaktere, das sofort ein großer Erfolg wird und in mehreren Neuauflagen erscheint. 1693 wird La Bruyère mit Unterstützung des Königs in die Académie française gewählt – gegen den Willen der „Modernisten“, die dort zunehmend den Ton angeben. Drei Jahre später, am 10. Mai 1696, stirbt Jean de La Bruyère im Alter von 51 Jahren an einem Schlaganfall.

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