Alexander Gottlieb Baumgarten
Ästhetik
Meiner, 2007
Was ist drin?
Baumgartens Werk begründete eine neue philosophische Disziplin: die Ästhetik als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis, der Schönheit und der Kunst.
- Philosophie
- Aufklärung
Worum es geht
Die Lehre vom Schönen und der Kunst
„Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ – auf diesen Allgemeinplatz zieht man sich heute gern zurück, wenn unterschiedliche Auffassungen davon, was schön ist, aufeinanderprallen. Alexander Gottlieb Baumgarten hätte darüber wohl missbilligend den Kopf geschüttelt: „Natürlich könnt ihr über Geschmack streiten – ihr müsst nur vorher mein Buch lesen!“ Wenn man das tut, bekommt man eine überaus gründliche Einführung in jene Disziplin, die damals als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis, der Schönheit und der Kunst begründet wurde. Neben praktischen Tipps für den Künstler (z. B. zum Thema Stoffauswahl und Stil) werden in Baumgartens Ästhetik die wichtigsten ästhetischen Fachbegriffe samt Beispielen erläutert. Daneben enthält sie aber auch einige für den heutigen Leser eher kryptische Abschnitte und manche Vorgaben an die Kunst, die man mittlerweile als unnötiges Korsett empfinden würde. Wer den historischen Hintergrund, vor dem die Schrift entstand, berücksichtigt, wird in Baumgartens Ästhetik ein detailreiches Standardwerk finden, das viele Dichter und Denker beeinflusst hat und auch heute noch wertvolle Anstöße zum Thema bietet.
Take-aways
- Baumgarten hat als Erster die Ästhetik als Wissenschaft behandelt; sein Werk gilt als Gründungsurkunde der Disziplin.
- Inhalt: Die Ästhetik ist das Gegenstück der Logik. Während sich Letztere mit der Verstandeserkenntnis beschäftigt, untersucht Erstere die sinnliche Erkenntnis. Davon ausgehend analysiert sie die Erscheinungsweisen des Schönen und leitet Regeln für die Kunst ab.
- Die Beispiele und Zitate in der Ästhetik stammen ausnahmslos aus der römischen und griechischen Antike, u. a. von den Rhetorikern Cicero und Quintilian.
- Das Werk ist unvollendet: Eigentlich hatte Baumgarten neben dem theoretischen Teil auch einen praktischen geplant, der jedoch nie fertiggestellt wurde.
- Bereits zu Lebzeiten war Baumgarten ein sehr bekannter Philosophieprofessor und Schriftsteller.
- Er starb im Alter von nur 47 Jahren an der Schwindsucht.
- Seine Ästhetik beeinflusste die deutsche Klassik und den deutschen Idealismus nachhaltig.
- Baumgartens Nachfolger blieben länger im Gedächtnis der Nachwelt als er selbst.
- Die auf Latein verfasste Ästhetik wurde erst 2007 vollständig auf Deutsch übersetzt.
- Zitat: „DIE ÄSTHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“
Zusammenfassung
Was ist Ästhetik?
Die Ästhetik ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, der Schönheit und der Kunst. Sie ähnelt der Rhetorik oder Poetik, geht jedoch weit über diese Disziplinen hinaus, indem sie auch andere Künste einbezieht. Das Ziel der Ästhetik ist die Förderung der Schönheit und die Vermeidung des Hässlichen.
„DIE ÄSTHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ (S. 11)
Unter sinnlicher Erkenntnis sind alle Erkenntnisse zu verstehen, die nicht eindeutige und klare Vorstellungen sind – denn diese zählen zur verstandesmäßigen Erkenntnis. Eine sinnliche Erkenntnis ist schön, wenn sie schöne Sachen oder Gedanken betrifft. Außerdem sollte sie sich durch die Schönheit der Ordnung auszeichnen. Schließlich gibt es noch die Schönheit der Bezeichnung oder des Ausdrucks. Schöne Dinge werden also erkannt, gedacht, in eine Ordnung gebracht und anschließend auf schöne Weise dargestellt. Das ist die Aufgabe des Ästhetikers. Schönheit kann dabei mit geschmackvoller Anmut oder Vollkommenheit gleichgesetzt werden.
Der Ästhetiker
Der Ästhetiker muss zum einen über eine natürliche Veranlagung zur Ästhetik verfügen, zum anderen durch Übung Kenntnisse erwerben, die seine Anlagen zur Geltung bringen und vervollständigen. Zu seinen Fähigkeiten zählen ein ausgeprägtes Empfindungsvermögen, Fantasie, Scharfsinn, ein gutes Gedächtnis, ein natürlicher guter Geschmack, eine gewisse Voraussicht und Erwartungshaltung und ein ästhetisches Temperament, also die Fähigkeit, sich vom Schönen bewegen und begeistern zu lassen. Diese angeborenen Fähigkeiten sind die Voraussetzung für die weitere Entwicklung des höheren Erkenntnisvermögens. Diese Entwicklung erfolgt einerseits durch Übungen (z. B. Improvisationen), die die natürlichen Fähigkeiten verstärken, andererseits durch die ästhetische Lehre.
„Der Zweck der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Dies aber ist die Schönheit. Und zu meiden ist die Unvollkommenheit derselben als solcher. Dies aber ist die Hässlichkeit.“ (S. 21)
Die ästhetische Lehre setzt sich zusammen aus einer guten Allgemeinbildung, der Kenntnis der ästhetischen Regeln der verschiedenen Disziplinen (Musik, Poesie usw.) sowie der Kenntnis der Regeln und Gesetze der allgemeinen, wissenschaftlichen Ästhetik, wie sie hier dargestellt werden soll. Um ein vollkommener Ästhetiker oder Künstler zu werden, muss man sich seine Begeisterung für alles Schöne bewahren und gleichzeitig die Bereitschaft zeigen, geduldig an seinen Werken zu arbeiten und sie so lange auszubessern, bis sie perfekt sind. Die Themen der Kunst sollten Dinge betreffen, die der Künstler kennt und die seiner Natur entsprechen. Vermeiden sollte er alles, was roh, träge, schulmäßig, gekünstelt, matt, ausschweifend oder unvollkommen wirkt.
Stoff und Ausdruck
Die menschliche Erkenntnis umfasst unzählige Gegenstände, von denen sich einige besonders für eine ästhetische Beschäftigung eignen. Der Bereich dieser geeigneten Gegenstände ist der ästhetische Horizont. Ist innerhalb dieses Horizonts ein geeigneter Stoff gefunden, gilt es als Nächstes, die Art der Darstellung zu wählen. Die dies betreffende Lehre ist die Topik: Sie lehrt zum einen, was dargestellt werden soll, zum anderen, wie man es darzustellen hat.
„Die wichtigeren Teile der schönen Gelehrsamkeit sind die Lehren, die sich mit Gott, der Welt, dem Menschen, insbesondere insoweit es seinen sittlichen Zustand betrifft, mit der Geschichte, ohne Ausschluss mythologischer Erzählungen, mit den Altertümern und den besonderen Arten der Zeichen beschäftigt.“ (S. 51)
Am Beginn der ästhetischen Arbeit steht die Auffindung von „loci“: Der „locus“ (lat. Ort) ist der Begriff, von dem jede weitere Überlegung ausgeht und der das Thema genau bezeichnet. Um ihn zu finden, müssen die folgenden Fragen beantwortet werden: Wer? Mit welchen Mitteln? Was? Auf welche Weise? Warum? Wo? Wann? In den meisten Künsten gibt es bereits viele solcher „loci“, die durch die Bildung vermittelt werden. Ist ein guter „locus“ gefunden, sollte man sich fragen, ob man in der Lage ist, ihn adäquat darzustellen. Dazu muss man ausreichend über das gewählte Thema Bescheid wissen, die darzustellenden Empfindungen selbst erfahren haben und sich zutrauen, sie angemessen wiedergeben zu können. Neben der Anleitung zur Auffindung der „loci“ bietet die Topik eine Fülle so genannter Argumente: Das sind Spielarten des Ausdrucks, die die Darstellung bereichern, erhellen und verdeutlichen können.
Die schlichte, die mittlere und die erhabene Denkungsart
Neben dem Stoff und der Form muss bedacht werden, dass man als Kunstschaffender auch die eigenen Fähigkeiten hinterfragen und eine Art der Umsetzung wählen muss, die ihnen entspricht. Entscheidend sind dabei die grundlegende Befähigung, die Übung und die Vorbildung sowie die Begeisterung für das Thema. Eine wichtige Frage ist, ob man eher der Vollständigkeit oder der Kürze zugeneigt ist. Wer absolut vollständig denkt, kann sich nicht kurz fassen; wer die absolute Kürze bevorzugt, kann nicht vollständig sein. Ideal ist der Mittelweg zwischen beiden Extremen, die abgerundete Kürze.
„Gewisse schön gedachte Dinge, die nachträgliche Behandlungen zulassen, dürfen wir nicht eher herausgeben, bevor wir ihnen nicht alle Anmutigkeiten, derer wir fähig waren, verschafft haben.“ (S. 77)
Die ästhetische Größe bezeichnet die Bedeutsamkeit der Stoffe und der sie darstellenden Gedanken. Es lässt sich zwischen schlichten, mittleren und erhabenen Stoffen unterscheiden. Die Gedanken müssen ihnen angemessen sein. Sind sie niedriger als die Stoffe, wird das Ergebnis kriecherisch sein, sind sie höher, entsteht etwas Schwülstiges. Im besten Fall entsprechen die Gedanken (und damit die Umsetzung des Stoffes) dem Stoff: schlicht, mittel oder erhaben.
„Es sollen nun aber der Mann mit geschnäuzter Nase des Horaz und die Kindheit mit träufelnder Nase bei Juvenal gemeinsam mit deren herumrülpsenden Personen unberücksichtigt bleiben, weil ja die Dichter an diesen Stellen nichts Erhabenes zu schreiben beabsichtigten.“ (S. 291)
Kennzeichen der schlichten Denkungsart sind der Verzicht auf Zierrat (allzu viele rhetorische Figuren), die relative Kürze und die Verständlichkeit. Trockenheit und Leblosigkeit sind allerdings zu vermeiden. Zu dieser Denkungsart passen schlichte Stoffe, wie sie etwa in Hirtengedichten thematisiert werden. Die mittlere Denkungsart ist Stoffen angemessen, die weder allzu schlicht noch besonders erhaben sind. Die erhabene Denkungsart schließlich ist den wirklich großen Stoffen, z. B. Heldensagen, angemessen: Sie ist gewichtig, tiefsinnig, schmuckvoll, stark und mitreißend. Die wichtigsten Argumente oder Figuren, die zu Erhabenheit führen können, sind die verschiedenen Formen der Steigerung und der Wiederholung. Sie verleihen dem Dargestellten Gewicht.
Ästhetische Wahrheit, Falschheit und Wahrscheinlichkeit
Wie die Vernunft sollte auch die sinnliche Erkenntnis auf Wahrheit ausgerichtet sein. Allerdings ist der logische Wahrheitsbegriff sehr viel schärfer als der ästhetische. Die ästhetische Wahrheit fordert keine Notwendigkeit, sondern nur Möglichkeit: Das Dargestellte muss frei von Widersprüchen, nachvollziehbar und wahrscheinlich sein. Im ästhetischen Sinn falsch ist demnach das, was von den Sinnen sofort als Lüge aufgefasst wird. Statt von ästhetischer Wahrheit spricht man daher besser von Wahrscheinlichkeit. Es kann aus verschiedenen Gründen nötig sein, statt der Wahrheit das bloß Wahrscheinliche darzustellen, z. B. wenn das logisch Wahre das Erkenntnisvermögen des Publikums übersteigt oder die logische Wahrheit des Gegenstands noch nicht eindeutig erkannt wurde.
„DIE GRÖSSE VERMEHRENDE ARGUMENTE wollen wir die nennen, deren einzige oder vorzüglichere oder nun am meisten zu beachtende Kraft es ist, dass sie unseren Gedanken eine den zu denkenden Dingen geziemende Größe verschaffen.“ (S. 305)
Das rohe Gerüst wissenschaftlicher, also logisch wahrer Tatsachen ist an sich nicht ästhetisch – es muss erst noch mit anschaulichen, lebhaften, erklärenden Beschreibungen gefüllt werden. In diesen Fällen muss der Ästhetiker „erdichten“, d. h. Tatsachen mit von ihm entwickelten wahrscheinlichen Begebenheiten verknüpfen. Sind Themen aus der Vergangenheit betroffen, handelt es sich um historische Erdichtungen. Manchmal ist es nötig, eine eigene Welt zu erschaffen, in der das Dargestellte widerspruchsfrei ist und wahrscheinlich wirkt. Man spricht dann von poetischen Erdichtungen. Während der Dichter im ersten Fall auf historische Begebenheiten zurückgreifen kann und diese mit Leben füllt, kann er sich im zweiten Fall auf die Dichtung berufen, also auf den Fundus an dichterischen Welten, die seine Vorgänger etabliert haben. Dazu zählen beispielsweise verschiedene Mythen und Sagen.
Licht, Dunkelheit und Schatten
Das ästhetische Licht kann mit dem Begriff der Fasslichkeit gleichgesetzt werden. Fasslich ist, was sinnlich nachvollziehbar dargestellt oder erklärt wird. Die sinnliche Fasslichkeit darf aber nicht mit der verstandesmäßigen Klarheit und Deutlichkeit verwechselt werden. Statt der einfachen Klarheit der Logiker sollte in der Ästhetik ein Schimmern angestrebt werden, d. h. eine lebhafte und eindrückliche Darstellung. Dem Licht gegenüber steht die Dunkelheit: Themen, Gegenstände und Formen des Ausdrucks, die unverständlich oder schwer zu begreifen sind. Diese sollten unbedingt vermieden werden.
„So groß auch immer die ästhetische Größe in den Stoffen sein mag – es wird sie dennoch nur derjenige erreichen, der zugleich der subjektiven Größe fähig ist, die wir die ästhetische Großmut und die ästhetische Wichtigkeit genannt haben.“ (S. 331)
Es ist aber gerade bei umfangreicheren Werken kaum möglich, alles im hellsten Licht darzustellen. Das wäre auch gar nicht ratsam, denn man würde damit nur die Aufmerksamkeit des Publikums strapazieren; das Werk wäre langweilig und leblos. Der Künstler muss sich bemühen, nur die zentralen Gegenstände seines Werks so eindeutig und fasslich wie möglich darzustellen. Weniger wichtige Teile darf er in Schatten hüllen, sie also nur kurz und flüchtig abhandeln.
Vergleiche und Tropen
Argumente, die das Dargestellte fasslicher machen, werden aufhellende Argumente genannt. Unter ihnen ist der Vergleich das stärkste. Dieser setzt zwei Dinge über ein drittes („tertium comparationis“) zueinander in Beziehung. Ein Beispiel von Cicero: „Wie es unmöglich ist, auf jedem Acker jede Art von Früchten oder Bäumen anzutreffen, so erzeugt nicht jede Lebensweise jede Art von Untaten.“ Ziel ist es, das Subjekt des Vergleichs über einen Mittelbegriff mit dem Hauptbegriff zu verbinden und es so fasslicher zu machen. Damit dies gelingt, muss der Hauptbegriff des Vergleichs eindrücklicher, bekannter oder verständlicher sein als das Subjekt, da dieses ja erhellt und nicht verdunkelt werden soll. Weiterhin ist zu beachten, dass ein Vergleich weder abgenutzt noch allzu weit hergeholt, sondern lebhaft und zugleich gut nachvollziehbar sein sollte. Zu den Vergleichen im weiteren Sinn zählt auch die Entgegensetzung: Dabei werden anhand eines Mittelbegriffs zwei Dinge einander gegenübergestellt.
„Die ästhetische Wahrheit ist also ihrem hauptsächlichen Sinn nach WAHRSCHEINLICHKEIT, jener Grad an Wahrheit, der, auch wenn er sich nicht bis zur vollständigen Gewissheit erhebt, dennoch nichts an bemerkbarer Falschheit enthalten mag.“ (S. 461 f.)
Ein Tropus ist die geschmackvolle Ersetzung einer Vorstellung durch eine andere. Es handelt sich also um einen abgekürzten Vergleich: Statt das Subjekt, den Mittelbegriff und den Hauptbegriff zu nennen, wird der Hauptbegriff anstelle des Subjekts eingesetzt. Das muss so geschehen, dass der Hörer oder Betrachter das Subjekt selbst erraten kann. Zu den Tropen gehören die Metapher, die Synekdoche, die Ironie und die Metonymie, die sich an der Art des zugrunde liegenden Vergleichs unterscheiden lassen. Führt man einen Tropus weiter aus, wird er zur Allegorie.
Neuheit und Verwunderung
Die ausgewählten Stoffe sollen den Hörer oder Betrachter verwundern und Neugier erregen. Es sollten jedoch nicht zu entlegene, unwahrscheinliche Themen gewählt werden. Sicherer ist es, sich ein Thema aus den bekannten Stoffen zu suchen und es auf neue Weise darzustellen. Das Ziel sollte sein, ein ausgewogenes Maß zwischen Neuheit und Vertrautheit zu finden. Damit weckt ein Werk die Aufmerksamkeit des Hörers oder Betrachters, bleibt dabei jedoch immer fasslich.
Überredung, Bestärkung und Tadel
Die Überredung entspricht in der Ästhetik dem, was in der Logik die Überzeugung ist. In der Logik geht es um die Überzeugung mit zwingenden Argumenten, in der Ästhetik um die Überredung mithilfe ästhetischer Mittel. Um zu überreden, müssen die ästhetischen Werke zum einen Wahrscheinlichkeit, zum anderen Licht besitzen. Wenn ästhetisch Wahres oder Wahrscheinliches eindrücklich und nachvollziehbar dargestellt wird, wirkt es überredend.
„Das gesamt und recht ungenügend zusammenhängende System von Erdichtungen jeder Art, die sich schon viele anmutige Geister angeeignet haben und von ihnen vorausgesetzt worden sind, wollen wir (...) die WELT DER DICHTER nennen.“ (S. 491)
Erfolgt die Überredung direkt und offen, handelt es sich um Bestärkung: Durch zahlreiche eindrückliche Beispiele soll das Dargestellte glaubhaft und augenscheinlich werden. Neben dieser positiven Bestärkung kann die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit jedoch auch gestärkt werden, indem man die Glaubwürdigkeit des Gegenteils untergräbt und Gegenargumente entkräftet: durch Tadel. Am wirkungsvollsten ist der Tadel, wenn er die Waffen des Gegners gegen diesen selbst richtet. Nutzt man die Möglichkeiten des Tadels, muss man jedoch darauf achten, sich nicht auf gehässige oder höhnische Weise über den Gegner zu äußern. Das verbietet die Höflichkeit, zudem widerspricht es dem Anspruch, schön zu denken.
Zum Text
Aufbau und Stil
Baumgartens im Original auf Latein verfasste Ästhetik war als zweiteiliges, theoretisch-praktisches Werk geplant. Allerdings vollendete er nur den ersten Teil, der die theoretischen Grundlagen der Ästhetik enthält. In zwei Bänden, 53 Abschnitten und 904 Paragrafen werden zuerst die allgemeinen Anforderungen an den Ästhetiker dargestellt. Dann geht das Werk auf die zentralen Begriffe der Ästhetik ein, u. a. Reichtum, Größe, Wahrheit, Licht und Gewissheit. Der strenge, stark gegliederte Aufbau und der wissenschaftliche Stil machen die Ästhetik zu einer anstrengenden Lektüre – ästhetisch im Baumgarten’schen Sinn ist das Werk selbst nicht immer. Es erfordert ein hohes Maß an Konzentration und idealerweise auch einiges an Vorwissen, wenn man Baumgartens Gedankengängen im Detail folgen möchte – nicht zuletzt, weil er ausgiebig aus der antiken lateinischen Literatur zitiert. Wer jedoch bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen, kann Einsicht nehmen in ein Werk, das sozusagen die Gründungsurkunde einer neuen Disziplin war. Einer Disziplin, deren wichtigste Begriffe z. T. bis heute verwendet und diskutiert werden.
Interpretationsansätze
- Die Ästhetik war geplant als umfassendes Regelwerk einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Trotz dieses universellen Geltungsanspruchs sind es vor allem die Poetik und die Rhetorik, die in Baumgartens Werk Beachtung finden. Die bildenden Künste und die Musik werden fast gar nicht berücksichtigt.
- Zitate und Beispiele entnimmt Baumgarten der griechisch-römischen Antike. Da er beinahe jeden Unterpunkt seiner Abhandlung mit solchen Vermerken versieht, ergibt sich ein fast vollständiger Abriss der antiken Literatur und Rhetorik. Obwohl Baumgarten behauptet: „Ich spiele hier nicht den Ausleger Ciceros“, nimmt er über weite Teile des Werks genau diese Rolle ein. So übernimmt er z. B. die jahrhundertealte Forderung, Kunst habe die Natur nachzuahmen, kritiklos.
- Neben dem wissenschaftlichen Anspruch verfolgt Baumgarten nicht zuletzt auch moralische Ziele: Immer wieder geht er auf die ethischen Pflichten des Künstlers ein, der sowohl seinen eigenen Lebensstil als auch seine Werke strengen Regeln unterwerfen müsse. Ästhetische und ethische Normen sind eng verflochten.
- Obwohl der praktische Teil der Ästhetik unvollendet blieb, gibt es Abschnitte, die sich als praktischer Leitfaden zum ästhetischen Leben verstehen lassen. Gerade in der ersten Hälfte des ersten Buches legt Baumgarten dar, welche Eigenschaften der Künstler haben sollte, wie er sie weiter ausbilden kann, wie er mithilfe verschiedener Grundregeln seinem Werk einen Rahmen gibt, wie er für ihn passende Themen findet usw.
- Die Ästhetik beschäftigt sich laut Baumgarten mit dem verworrenen und unteren Erkenntnisvermögen des Menschen, dem er das klare und höhere Erkenntnisvermögen der Logik bzw. der Vernunft entgegensetzt – eine für das Aufklärungszeitalter typische Sicht der Dinge. Allerdings trug gerade sein Werk dazu bei, die Gewichtung der beiden Bereiche zu verändern: Mit seinem Hauptanliegen, das Irrationale rational zu durchdringen, wertet Baumgarten das Ästhetische gegenüber dem Logischen auf.
Historischer Hintergrund
Preußen zur Zeit des Soldatenkönigs
Im Jahr 1713 übernahm Friedrich Wilhelm I. die Krone in Preußen und veränderte die Machtstruktur des Landes nachhaltig. War sein Vater vor allem ein repräsentativer Herrscher gewesen, mischte sich Friedrich Wilhelm I. viel stärker in die innere Verwaltung der ihm unterstehenden Länder ein. Seine obersten Ziele waren die Sanierung des Staatshaushalts, den sein Vater mit seiner prunkvollen Hofhaltung beinahe vollständig erschöpft hatte, und die Einrichtung eines schlagkräftigen stehenden Heeres. Das trug ihm den Beinamen „Soldatenkönig“ ein.
Die pietistische Ausbildung des Königs und seine streng religiösen Ansichten führten dazu, dass er sich mit allen Mitteln gegen die deutsche Aufklärung wandte. Bekanntestes Beispiel ist die Ausweisung des Philosophen Christian Wolff, den der König auf Anregung seiner pietistischen Ratgeber von seinem Posten als Professor in Jena absetzen ließ.
Berühmt wurde Friedrich Wilhelm I. für seine umfassende Reform des Staatsapparats: Er sorgte dafür, dass alle Ämter straff organisiert und hierarchisch geordnet zusammenarbeiteten. Im Zuge dieser Neustrukturierung entstanden in Halle und Frankfurt an der Oder die ersten Lehrstühle für Kameralwissenschaften, die etwa der heutigen Volkswirtschaftslehre entsprechen. Pünktlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Genauigkeit galten als die wichtigsten Merkmale eines Beamten; später wurden sie als „preußische Tugenden“ sprichwörtlich.
Nach Friedrich Wilhelms Tod im Jahr 1740 übernahm sein Sohn Friedrich II. die Krone. Vater und Sohn unterschieden sich deutlich in ihren Ansichten und Handlungen, was vor dem Tod des Alten nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hatte. Friedrich II. wandte sich gegen die pietistischen Ansichten des Vaters, sah die Hauptaufgabe des Königs in außenpolitischen Belangen und war offen für die Ideen der Aufklärung, ja, er verfasste sogar selbst staatstheoretische und ethische Schriften. Den vom Vater verbannten Christian Wolff holte er zurück nach Preußen.
Entstehung
Bereits in seiner Magisterarbeit setzte sich Baumgarten mit der Möglichkeit auseinander, ästhetische Normen zu entwickeln, die als wissenschaftliche Grundlage der Kunst dienen könnten. Sein Hauptanliegen bestand in der Etablierung einer Erkenntnistheorie der Sinne: Sie sollte den Wissenschaften von der Verstandeserkenntnis in nichts nachstehen. Mit der Entwicklung der Ästhetik als eigenständiger Wissenschaft wollte Baumgarten insbesondere die Systematik der Wissenschaften von Christian Wolff komplettieren. Wolff hatte nach Baumgartens Meinung die sinnliche Erkenntnis vernachlässigt. Baumgartens Schönheitsbegriff beruht zu einem guten Teil auf der Weiterentwicklung von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Begriff der „prästabilierten Harmonie“, also der Annahme einer allen Dingen innewohnenden Ordnung.
Neben der von Wolff inspirierten Zielsetzung waren es vor allem die antiken Dichter und Denker, die eine entscheidende Rolle für Baumgartens Werk spielten. Besonders die Reden und Abhandlungen Ciceros und Quintilians dienten ihm immer wieder als Ausgangspunkt für seine eigenen Ausführungen, daneben ging er wiederholt auf die Theorien Platons und Aristoteles’ zur Dicht- und Redekunst ein. Als Beispiele wählte Baumgarten vornehmlich Abschnitte aus den großen Werken der antiken Dichter Horaz, Livius, Homer und Vergil.
Wirkungsgeschichte
Baumgartens These, dass neben dem Verstand auch die Sinnlichkeit Erkenntnis ermögliche, war für die deutsche Klassik und den deutschen Idealismus von entscheidender Bedeutung. Ihr Einfluss wird in Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen genauso spürbar wie in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft.
Baumgartens Systematik wurde u. a. von Moses Mendelssohn und J. G. Hamann vertieft und beeinflusste maßgeblich die Arbeiten Johann Gottfried Herders. Die Nachfolger blieben mit ihren Weiterentwicklungen sogar stärker im Gedächtnis der Nachwelt haften als der Begründer der Disziplin selbst: „Alexander Gottlieb Baumgarten ist nur noch dem Namen nach bekannt. Es ist Teil der philosophiehistorischen Minimalausstattung zu wissen, dass er den Begriff der Ästhetik zuerst im modernen Sinne gebraucht und ihn zur Benennung einer neuen philosophischen Disziplin verwandt hat“, so der Germanist Hartmut Scheible.
Die Ästhetik wurde erst 2007 vollständig ins Deutsche übersetzt; die Auseinandersetzung der Forschung mit dem Werk dauert noch an.
Über den Autor
Alexander Gottlieb Baumgarten wird am 17. Juli 1714 als Sohn eines Garnisonspredigers in Berlin geboren. Seine Eltern sterben früh; Baumgarten besucht ein Waiseninstitut in Halle, wo er neben Theologie und Philosophie auch Rhetorik und Poetik studiert. Daneben hört er die philosophischen Vorlesungen von Christian Wolff in Jena. Wolffs rationalistische Theorien werden Baumgarten sein Leben lang inspirieren. Sein wichtigstes Ziel wird es sein, die Wolff’sche Systematik der Philosophie um eine Disziplin zu erweitern, die sich ganz mit der sinnlichen Erkenntnis beschäftigt: die Ästhetik. Nach seinem Magisterexamen erhält er in dem von ihm zuvor besuchten Institut eine Stelle als Dozent für Poetik und Logik. Er dissertiert 1735 und arbeitet ab 1737 als Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle. Etwa zur gleichen Zeit erkrankt er an der Schwindsucht, die ihn in den folgenden Jahren immer wieder für längere Zeit ans Bett fesseln und schließlich seinen frühen Tod herbeiführen wird. 1739 erscheint sein Werk Metaphysica, das zu einem einflussreichen Lehrbuch avanciert. Zu dessen Benützern zählt Immanuel Kant. Ab 1740 ist Baumgarten an der Frankfurter Universität Viadrina als „Professor der Weltweisheit und der schönen Wissenschaften“ angestellt. Im selben Jahr veröffentlicht er sein Werk Ethica philosophica. 1750 und 1758 erscheinen dann die beiden Teile der Aesthetica, mit der er die Ästhetik als Wissenschaft etabliert. Baumgarten stirbt am 27. Mai 1762 im Alter von nur 47 Jahren.
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