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Auslöschung

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Auslöschung

Ein Zerfall

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Das antiösterreichische Hauptwerk des österreichischen Ausnahmeschriftstellers.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Eine antipatriotische Tirade

Thomas Bernhards letzter Roman ist zugleich sein umfangreichster und wird nicht selten als sein „Opus magnum“ bezeichnet. Alles, aber wirklich alles, was den umstrittenen Autor im Kern ausmacht, findet sich auf den 650 dicht bedruckten, absatzlosen Seiten. Der Leser möchte eine bitterböse Abrechnung mit einem rundweg spießbürgerlichen Österreich? Soll er bekommen! Oder lieber nicht? Dann erst recht! Bernhard verunglimpft seine Landsleute allesamt als Nationalsozialisten und Kulturbanausen. Mit verschachtelten Bandwurmsätzen und absurden Endlos-Wiederholungen zeigt er sich auch formal auf der Höhe seiner eigenwilligen Kunst. Auslöschung ist ein hochmusikalisches und streng rhythmisiertes Sprachwerk, das mit Bachs Kunst der Fuge verglichen wurde, das aber – wie alle Bernhard-Werke – Geschmackssache ist. Für einige Zeitgenossen blieb Bernhard auch mit diesem Roman ein krankhafter Nörgler und billiger Provokateur. Die Literaturkritik einigte sich jedoch schon bald darauf, dass es sich bei Auslöschung um einen literarischen Glücksfall handelt. Für Bernhard-Fans ein Muss, für alle anderen ein Geheimtipp.

Take-aways

  • Auslöschung ist der letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Roman Thomas Bernhards und gilt als sein Hauptwerk.
  • In dem sehr politischen Buch klagt der Österreicher noch einmal die unzureichend aufgearbeitete Nazivergangenheit seines Heimatlandes an.
  • Inhalt: Der in Rom ansässige Privatlehrer Franz-Josef Murau erfährt vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders. Zur Beerdigung kehrt er nach Österreich auf den Familiensitz Schloss Wolfsegg zurück. Murau hasst seine Familie und das Schloss, wo selbst nach dem Krieg noch ehemalige Nazigrößen empfangen wurden. Als Alleinerbe überschreibt er Wolfsegg der jüdischen Gemeinde in Wien.
  • Der Romantitel bezieht sich auf den Schreibprozess des Erzählers: Murau will all seine Erinnerungen zu Papier bringen und sie damit in seinem Inneren auslöschen.
  • Der Form nach ist Auslöschung ein wütender Monolog, in dem der Erzähler sich seinen Zorn auf das bürgerliche Österreich und die lieblosen Eltern von der Seele schreibt.
  • Der Roman ist Bernhards umfangreichstes Werk: In zwei Teile gegliedert, aber ohne jeden Absatz erstreckt sich der Text über 650 atemlose Seiten.
  • Der Stil ist typisch für Bernhard: voller Wiederholungen und stark verkünstelt, aber zugleich sehr rhythmisch, von fast musikalischer Qualität.
  • Bernhards Gesellschaftskritik ist übertrieben boshaft und ohne jedes Maß, gerade deswegen aber durchaus amüsant.
  • Die österreichische Kritik hatte wenig Verständnis für die kompromisslose Geschichtsaufarbeitung und verachtete den Autor als missratenen Landsmann.
  • Zitat: „Der österreichische Mensch ist durch und durch ein nationalsozialistisch-katholischer von Natur aus, er mag sich dagegen wehren, wie er will.“

Zusammenfassung

Ein Telegramm und seine Folgen

Der Privatlehrer Franz-Josef Murau lebt in Rom, wo er seinen Schüler Gambetti in deutscher Literatur unterrichtet. Als er an einem Frühlingstag in seine Wohnung kommt, findet Murau ein Telegramm seiner beiden Schwestern Caecilia und Amalia vor: Die Eltern und sein Bruder Johannes sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Murau wird für die Beerdigung umgehend nach Österreich zurückkehren müssen, was ihn schon deshalb ärgert, weil er gerade erst wegen der Hochzeit Caecilias mit einem Weinflaschenstöpselfabrikanten dort war. Murau hasst den Sitz der Familie, das Schloss Wolfsegg. Und er hasst seine Familie, die ihm den Auszug aus Wolfsegg und seinen Freiheitsdrang immer zum Vorwurf gemacht hat.

„Nach der Unterredung mit meinem Schüler Gambetti, mit welchem ich mich am Neunundzwanzigsten auf dem Pincio getroffen habe, schreibt Murau, Franz-Josef (...), erhielt ich gegen zwei Uhr Mittag das Telegramm, in welchem mir der Tod meiner Eltern und meines Bruders Johannes mitgeteilt wurde.“ (S. 7)

Murau betrachtet ein Foto seiner Eltern und eines seines Bruders. Voller Abscheu erinnert er sich an die Gier seiner Familie, die ihren Besitz immer weiter vermehren wollte. Vater und Bruder waren begeisterte Bauern und Jäger; künstlerische und geistige Neigungen hatten seine Familienmitglieder dagegen nie. Die fünf Bibliotheken auf Schloss Wolfsegg blieben immer verschlossen. Murau selbst wurde wegen seiner intellektuellen Interessen angefeindet. Der einzige Lichtblick in seinem Leben war sein literaturbegeisterter Onkel Georg, der Murau an einen künstlerischen Lebensentwurf heranführte. Murau empfindet eine gewisse Erleichterung über den Tod der Eltern.

Die Übertreibungskunst

Die Entfremdung von seinem Bruder Johannes begann früh: Während Murau sich in der Schule für Literatur begeisterte, hatte der Bruder nur die Landwirtschaft im Kopf: Bäume und Schweine. Murau reiste nach dem Abitur mit seinem Onkel Georg durch die Welt, Johannes ging mit dem Vater aufs Feld. Die Schwestern hatten sich ursprünglich gegen Murau verbündet, sind nun aber selbst verfeindet, da Caecilia den Weinflaschenstöpselfabrikanten geheiratet hat. Amalia ist beleidigt ins Gartenhaus gezogen. Murau hasst die selbst gestrickten Pullover seiner Schwestern. Er hasst die eingekochte Marmelade seiner Mutter. Er ist seiner Familie lediglich dafür dankbar, dass sie ihn von Wolfsegg vertrieben hat, sodass er in Rom gelandet ist.

„Meinem Onkel Georg verdanke ich, dass ich schließlich nicht nur ein mechanisch sich in die Wolfsegger Geld- und Wirtschaftsmühle fügender, sondern ein durchaus als frei zu bezeichnender Mensch geworden bin.“ (S. 45)

Wie Murau seinem Schüler Gambetti oft erzählt, hat er nicht nur mit Wolfsegg ein Problem, sondern mit ganz Österreich. Die Seelen aller Österreicher sind für Murau erloschen, die Bevölkerung ist der allgemeinen Blödheit verfallen. Gambetti kommen diese Beschreibungen stark übertrieben und allzu negativ vor. Murau besteht jedoch darauf, dass Wolfsegg und ganz Österreich in Wahrheit noch viel schlimmer seien. Gleichzeitig gibt er zu, mit seiner „Übertreibungskunst“ die eigene Langeweile zu bekämpfen.

Nationalsozialistische Verstrickungen

Das Schloss Wolfsegg mitsamt seiner vielen Nebengebäude liegt auf einem Hügel, von dem aus man einen einzigartigen Blick auf die Alpen hat. Die Anlage ist von einer hohen Mauer umgeben. Als Kind liebte Murau die Blumen in der Orangerie. Auf Wolfsegg gibt es eine eigene Kapelle, Stallungen und eine riesige Küche, in der sich Murau besonders gern aufhielt, da seine Eltern nie dorthin kamen. Die Wände des Schlosses sind dick und immer kalt. Um die Kinder abzuhärten, bestimmte der Vater, dass kaum geheizt werden sollte. Die Mutter stammte aus einfachen Verhältnissen und war übertrieben geizig.

„Diese Menschen sind für alles taub, das mir so viel bedeutet, für Natur, Kunst, für alles Wesentliche. Sie lesen keine Bücher, sie hören keine Musik, sie reden den ganzen Tag nur das Überflüssigste, das Banalste.“ (über die Familie, S. 108 f.)

Besonders unsympathisch sind Murau die auf Wolfsegg angestellten Jäger, die im Krieg allesamt Nationalsozialisten waren und auch den Vater zum Parteibeitritt verführten. Die Mutter war von sich aus eine begeisterte Faschistin und lud selbst nach dem Krieg noch regelmäßig die ehemals hohen Nazipolitiker nach Wolfsegg ein. Murau denkt an die Morde, die mit dem Nationalsozialismus und also auch mit dem Schloss in Zusammenhang stehen, und nimmt sich vor, alle diese Dinge einmal aufzuschreiben.

Die Notwendigkeit, sich überlegen zu fühlen

Nach seinem Auszug aus Wolfsegg ging Murau nach Wien und schloss dort Freundschaft mit der Dichterin Maria. Maria hatte selbst ihr spießbürgerliches Elternhaus in der Provinz verlassen und war in die Hauptstadt geflüchtet. Wie Murau hielt sie es dort aber nicht lange aus. Inzwischen hat Murau Maria bei sich in Rom. Er ist begeistert vom aufrichtigen Ton ihrer Lyrik, er hat das Gefühl, dass sie ihm den Klang der Welt vermittelt.

„Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz.“ (S. 128)

Auch von seinen Schwestern hat Murau ein Foto, dessen Anblick er jedoch kaum erträgt, da ihm der Gesichtsausdruck der beiden Frauen auf dem Bild so spöttisch vorkommt. Die schlechte Ausstrahlung des Fotos ist so stark, dass alle positiven Gefühle für die Schwestern überdeckt werden. Deshalb mag Murau auch Fotografien an sich nicht: Immer wird ein Moment eingefangen, der dann die Wirklichkeit überlagert. Er muss sich eingestehen, dass seine Schwestern womöglich nicht immer so abstoßende Gesichter haben. Murau überlegt, ob er vielleicht mit Absicht ein so scheußliches Foto seiner Schwestern aufgehoben hat – so wie er auch von seinem Bruder und seinen Eltern nur jeweils eine unvorteilhafte Aufnahme besitzt. Tatsächlich verschafft es ihm eine gewisse Beruhigung, wenn er sich beim Anblick dieser Bilder seiner Familie überlegen fühlen kann.

Hass auf die Mutter

Muraus Literaturinteresse war der Familie unheimlich. Als Kind zog er sich einmal in die Bibliothek zurück und vergaß beim Lesen die Zeit. Weil er zu spät zum Essen kam, fragte die Mutter, was er gemacht habe, und Murau antwortete wahrheitsgemäß, er habe den Siebenkäs von Jean Paul gelesen. Die Mutter verpasste ihm eine Ohrfeige, da sie glaubte, er erlaube sich einen Spaß. Erst Jahre später, bei einem Besuch der Mutter in Rom, stellte sich heraus, dass auch sie den Vorfall nie vergessen hatte. Sie fragte Murau, ob es das Buch Siebenkäs tatsächlich gebe. Murau vermutet, dass die Mutter nicht wegen ihm nach Rom gekommen war, sondern um den Erzbischof Spadolini zu treffen, mit dem sie heimlich ein Verhältnis hatte. Murau hält Spadolini für einen intelligenten Menschen, empfindet für dessen Beziehung zu seiner Mutter aber nur Verachtung.

„Schließlich war mein Vater tatsächlich nicht nur ein erpresster Nazi gewesen, sondern ein überzeugter und meine Mutter eine fanatische.“ (S. 193)

Murau glaubt, dass seine Familie und ganz Österreich – und somit auch er selbst – von einer nationalsozialistisch-katholischen Mentalität geprägt sind. Diese Mentalität endgültig loszuwerden ist sein Lebensziel. Das Wichtigste ist für ihn deshalb, immer sein eigenes Leben zu leben und niemals endgültig nach Wolfsegg zurückzukehren. Jetzt muss er dennoch aufbrechen, um an dem Begräbnis teilzunehmen, aber er tut es mit dem größten Abscheu.

Starre Traditionen

In Österreich angekommen, steigt Murau im Ort unterhalb des Schlosses aus dem Taxi und geht zu Fuß nach Wolfsegg hinauf. Aus einem Versteck an der Tormauer beobachtet er die Gärtner, die Blumengebinde und Leuchter zu den aufgebahrten Leichen in die Orangerie bringen. Er mag die Gärtner lieber als die Jäger, empfindet die Szene aber als Teil eines großen Beerdigungsschauspiels, bei dem der Hauptdarsteller noch fehlt: er selbst. Er fürchtet sich vor dem Blick auf die toten Eltern und vor der festgeschriebenen Rolle, die er bei dem Begräbnis wird spielen müssen.

„Denn der Nationalsozialismus meiner Eltern hatte mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht geendet, weil er ihnen angeboren war, pflegten sie ihn nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära weiter, er, wie ihr Katholizismus, war tatsächlich nichts anderes gewesen als ihr Lebensinhalt (...)“ (S. 291)

Er denkt an seinen Bruder, der als ältester Sohn und Erbe von den Eltern immer bevorzugt wurde. Murau selbst sieht sich als ungewolltes Kind. Der Bruder wollte stets, dass alles alt wirkte und an die traditionsreiche Herkunft der Familie erinnerte. Mit neuen Schuhen ging er sofort durch den Dreck im Garten, um sie abzunutzen. Lediglich Autos durften topmodern sein, weshalb es Murau auch passend vorkommt, dass der Autonarr nun bei einem Unfall gestorben ist.

„Der österreichische Mensch ist durch und durch ein nationalsozialistisch-katholischer von Natur aus, er mag sich dagegen wehren, wie er will.“ (S. 292)

Um nicht gleich zu seinen Schwestern hinaufgehen zu müssen, betrachtet Murau erst die Ahnengalerie im Vorhaus und verweilt dann in der Kapelle. Die Hochzeitsdekoration der vergangenen Woche ist nun schwarzen Trauertüchern gewichen. Ansonsten verändern sich die Dinge hier so wenig wie die Porträts an der Wand.

Der neue Herr auf Schloss Wolfsegg

Als Murau endlich zu seinen Schwestern und dem Weinflaschenstöpselfabrikanten geht, wird ihm seine Autorität bewusst. Nach dem Tod des Bruders ist nun er der Alleinerbe von Schloss Wolfsegg. Die anderen sind von ihm abhängig. Zu viert gehen sie in die Orangerie, um die Toten zu sehen. Der Sarg der Mutter ist verschlossen, da sie beim Unfall enthauptet worden ist. Wieder an der frischen Luft erzählt Murau seiner Schwester Caecilia, dass er die hauseigene Kindervilla renovieren will, in der sie als Kinder glücklich waren. Seine Schwester weiß zu diesem Plan nichts zu sagen – oder sie will nicht. Während des weiteren Gesprächs schickt Caecilia ihren Mann fort. Murau vermutet, es liegt daran, dass sie seine Nähe eine Woche nach der Hochzeit bereits nicht mehr ertragen kann. Amalia und Murau sprechen über die Heirat der Schwester, der Caecilia nur zugestimmt hat, um von der Mutter fortzukommen – die jetzt sowieso tot ist. Murau überlegt, ob Caecilia und Amalia die Heirat infrage stellen, um sich bei ihm, dem Alleinerben, einzuschmeicheln. Er nimmt sich vor, die Schwestern von Wolfsegg zu vertreiben.

„Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen, und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze mich, vernichte mich, lösche mich aus.“ (S. 296)

Angst hat Murau vor den anstehenden Kondolenzbesuchen. Für den Nachmittag erwartet er mehrere ehemalige Gauleiter und SS-Obersturmführer, die seinen Eltern stets nahestanden. Obwohl bekannt war, dass es sich bei diesen Leuten um Mörder und Kriegsverbrecher handelte, wurden die alten Nazis vom Vater auch nach dem Krieg immer unterstützt und sogar eine Weile in der Kindervilla versteckt. Murau widert die Vorstellung an, diesen Leuten auf der Beerdigung die Hand schütteln zu müssen.

Auslöschung

Gästezimmer für die Nacht werden hergerichtet, ein kaltes Buffet wird aufgebaut. Weit über 100 Gäste erscheinen. Murau wird der Rummel zu viel, er zieht sich ins Zimmer seines Vaters zurück und denkt über den Erzbischof Spadolini nach. Trotz dessen Verhältnis zur Mutter ist ihm der Geistliche nicht unsympathisch. Spadolini hat Murau in Rom eingeführt und ihm seinen Schüler Gambetti vermittelt. Murau geht davon aus, dass Spadolini ihm bei der Entscheidung, was er mit Wolfsegg machen soll, behilflich sein wird.

„Ich fürchtete ihre Totengesichter, wie ich ihre lebendigen gefürchtet habe, ich fürchtete ihre Totengesichter jetzt nicht so wie ihre lebendigen, aber ich fürchtete sie und ich zog es vor, noch längere Zeit an die Mauer gedrückt stehen zu bleiben (...)“ (S. 318)

Wirklich gern hat Murau seinen Vetter Alexander, der sich in Brüssel für das Wohlergehen politischer Flüchtlinge einsetzt. Alexander ist jedoch nicht auf Wolfsegg selbst, sondern im Dorf untergebracht worden, weshalb Murau seiner Schwester Caecilia heftige Vorwürfe macht. Er vergreift sich im Ton und beleidigt sie, doch Caecilia erträgt, genau wie Amalia, jede Demütigung schweigend und versucht herauszubekommen, inwiefern Murau sie an seinem Erbe teilhaben lassen wird. Murau äußert sich dazu nicht. Später am Abend denkt er an den Text über Wolfsegg, den er schreiben möchte: Auslöschung. Alles, was er aufschreibt, soll aus der Welt entfernt werden. Die Idee zu dem Titel hatte Muraus Freundin Maria, die ihn wegen seiner Abneigung gegen die eigene Herkunft den „Auslöscher“ genannt hat.

Ein überraschendes Geschenk

Am Abend trifft Spadolini auf Wolfsegg ein. Er verzehrt ein Nachtmahl und hält eine Lobrede auf die Eltern. Murau hat das Gefühl, dass Spadolini insbesondere den Charakter der Mutter bewusst schönredet; für ihn selbst war sie nie mehr als eine boshafte Kulturbanausin. Später kniet der Bischof an ihrem Sarg, was Murau als abgeschmackte Inszenierung wahrnimmt.

„(...) während ich doch gleichzeitig fest entschlossen war, mich bei Eisenberg in Wien anzumelden auf ein Gespräch, in welchem ich ihm ganz Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörige, als ein völlig bedingungsloses Geschenk, der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien anbieten wollte.“ (S. 650)

In der Nacht geht Murau noch einmal in die Orangerie und versucht vergeblich, den Sarg der Mutter zu öffnen. Dann schaut er sich in der Kindervilla um und hofft, auf eine Spur seiner Vergangenheit zu stoßen. Erschrocken über den leeren Raum, erkennt er die Absurdität seines Plans, die Villa zu renovieren. Er beschließt, sich niemals selbst um das verhasste Wolfsegg zu kümmern und stattdessen in Rom bleiben, um sich dort der Auslöschung zu widmen. Am nächsten Tag spielt er den trauernden Sohn und läuft mit den ehemaligen nationalsozialistischen Größen hinter den Särgen her. Spadolinis Auftritt in der Kirche empfindet er als große katholische Schauspielkunst. Er selbst gibt nicht einem einzigen der kondolierenden Gäste die Hand. Ebenfalls zur Trauerfeier erschienen ist der Rabbiner Eisenberg aus Wien. Murau kennt ihn aus der Studienzeit und schätzt ihn sehr. Zwei Tage nach dem Begräbnis überschreibt er Eisenberg das komplette Schloss und alle Ländereien als Geschenk. Der Rabbi nimmt im Namen der israelitischen Kulturgemeinde an.

Zum Text

Aufbau und Stil

Entweder man liebt den markanten Stil Thomas Bernhards oder man hasst ihn. Für die einen entwickelt seine übertriebene Kunstsprache einen unwiderstehlichen Sog, die anderen empfinden die schier endlosen Satzfolgen und Wiederholungen als unerträglich. Fest steht jedoch, dass Bernhards Stil höchst individuell ist. Man liest einige Zeilen und weiß sofort, um welchen Autor es sich handelt. Bernhard selbst hat darauf hingewiesen, dass sein Schreiben vor allem mit Rhythmus und Musik zu tun habe; der Inhalt seiner Texte sei zweitrangig. Und tatsächlich lässt sich Auslöschung als nicht enden wollende literarische Fuge lesen. Wie in einem atemlosen Wutrausch behandelt der Erzähler die immer gleichen Themen; einzelne Satzteile werden ständig in kaum veränderten Variationen wiederholt. Es entsteht ein verschachteltes Gebilde, das ohne Kapiteleinteilung und ohne jeden Absatz über 650 Seiten dahinfließt. Es wurde lediglich eine Gliederung in zwei ungefähr gleich große Teile vorgenommen. Der Text ist als Monolog des Wolfsegg-Erben Franz-Josef Murau verfasst, der sich häufig an seinen Schüler Gambetti richtet. Die Verwendung eines direkten Adressaten ist genauso typisch für Bernhard wie die ständige Wiederholung von Einschüben, etwa „sagte ich zu Gambetti“ oder „dachte ich“. Inhaltlich besteht der Roman zum großen Teil aus den Gedankengängen des Erzählers. Auf den ersten 300 Seiten wird die Handlung fast ausschließlich um eine Szene herum aufgebaut, in der Murau einige Fotos seiner Familie in die Hand nimmt und anschaut.

Interpretationsansätze

  • Auslöschung ist eine Antiautobiografie. Der Erzähler will sich seines Lebens nicht vergewissern, er will sich mit dem Text nicht verewigen, sondern sich von seiner Vergangenheit befreien, indem er sich jedes Detail von der Seele schreibt. Er will sein bisheriges Leben auslöschen und neu beginnen.
  • Murau verachtet seine Herkunft, seine Familie und sein Land. Dabei ist die spießbürgerliche Kultur, die er so hasst, auch auf ihn selbst übergegangen. So erträgt er es nicht, wenn die Trauerfahne im Haus seiner Eltern ein wenig schief hängt. Der Text scheint auch der Selbstüberwachung zu dienen: Der Erzähler will seine negativen Eigenschaften auslöschen.
  • Ursprung dieser Eigenschaften ist für Murau die österreichische Kultur an sich. Sie habe dazu geführt, dass z. B. die Haltung des Nationalsozialismus niemals überdacht worden sei. Geistige Trägheit ist für Murau deshalb besonders verachtenswert: Man muss sich selbst auf die Spur kommen, um das eigene moralische Fehlverhalten zu korrigieren.
  • Dem Erzähler bleibt nur die Flucht aus seinem Herkunftskreis. Er verachtet die Menschenfeindlichkeit und den Hass der anderen so sehr, dass er in ihrer Gegenwart selbst zum Misanthropen wird. Um die angestrebte moralische Perfektion zu erlangen, muss er nach Rom gehen und sich von fast allen Menschen zurückziehen.
  • Das Ende der Beziehung zwischen Eltern und Kind ist der Tod. Und das Ende des Strebens nach Vervollkommnung der eigenen Person wird auch der Tod sein. Der Tod ist im Roman so allgegenwärtig (sogar Muraus Todesdatum wird angegeben), dass die Bemühungen des Erzählers lächerlich wirken: Wie er sich auch abstrampelt, mit dem Menschen kann es immer nur zu dem einen Ende kommen.

Historischer Hintergrund

Österreichs widerwillige Vergangenheitsbewältigung

Im Mai 1955 zeigte sich der damalige österreichische Außenminister Leopold Figl mit dem frisch unterzeichneten Staatsvertrag auf dem Balkon des Schlosses Belvedere in Wien. Unter dem Jubel der Zuschauer sprach er die Worte: „Österreich ist frei!“ Das Land hatte seine volle Souveränität zurück; die sieben Jahre des Nationalsozialismus schienen sich als dunkle Episode aus dem allgemeinen Bewusstsein streichen zu lassen. Da das Land 1938 von den deutschen Nationalsozialisten annektiert worden war, fiel es großen Teilen der Bevölkerung nicht schwer, sich im Nachhinein als Opfer zu fühlen. Eine neue österreichische Identität entstand: War man vor dem Krieg noch deutlich von deutschnationalen Gedanken geprägt gewesen, definierte man sich nun ebenso klar in Abgrenzung zur neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland als eigenständige Nation. Was darüber in Vergessenheit geriet, war die Begeisterung, mit der man Hitler 1938 in Wien als „Sohn des Landes“ willkommen geheißen hatte. In einer nachträglichen Volksabstimmung war der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich amtlichen Angaben zufolge von 99,73 % befürwortet worden.

Entsprechend schwerfällig erfolgte nach dem Krieg die Aufarbeitung der eigenen Kriegsverbrechen und der Nazivergangenheit. Autoren wie Karl Heinrich Waggerl und Max Mell, die in den Nachkriegsjahren den literarischen Betrieb des Landes und die intellektuelle Diskussion bestimmten, hatten sich bereits vor oder während des Krieges etabliert und für die NSDAP engagiert. Autoren wie Thomas Bernhard dagegen, die Ende der 1960er Jahre begannen, das idyllische Bild des Landes zu zerstören, wurden lange Zeit als Nestbeschmutzer beschimpft. Erst Bundeskanzler Franz Vranitzky bekannte sich 1991 öffentlich zur Mitschuld der Österreicher am Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen.

Entstehung

An den Stoff seines letzten großen Romans, der 1986 erschien, schrieb sich Thomas Bernhard im Lauf seiner Autorenkarriere kontinuierlich heran. Bereits in seinem frühen Textfragment Der Italiener tauchen die Personenkonstellation sowie einige Handlungsmomente der Auslöschung auf: Während seine Schwestern mit den Beerdigungsvorbereitungen beschäftigt sind, geht der Erzähler vor dem Schloss des verstorbenen Vaters auf und ab. Er unterhält sich dabei mit einem Gast aus Italien, der als Vorläufer der Gambetti-Figur gelesen werden kann. Interessant ist, dass der Erzähler in diesem frühen Text noch jünger ist und im Lauf von Bernhards Leben gewissermaßen mitaltert: In Auslöschung ist die Figur Murau etwa 50 Jahre alt.

Schloss Wolfsegg existiert tatsächlich und liegt in Oberösterreich. Bereits als junger Journalist beschäftigte sich Thomas Bernhard mit dem seltsamen Namen. Die Faszination für den Ort blieb bestehen – einige Jahre später erwarb Bernhard ein Haus in der Ortschaft Ottnang, vom dem aus er einen direkten Blick auf das Schloss hatte. Im Roman ist das Gebäude dann sehr wirklichkeitsgetreu dargestellt. Sowohl der Ausblick als auch die erwähnten Gebäudeteile wie Vorhaus, Orangerie oder Kindervilla entsprechen den Gegebenheiten vor Ort. Ebenfalls reale Vorbilder, wenn für den Roman auch verfremdet, haben einige Figuren. In der Dichterin Maria etwa lässt sich die von Bernhard verehrte Ingeborg Bachmann erkennen.

Wirkungsgeschichte

So wie Murau sich im Roman als „Übertreibungskünstler“ bezeichnet, nahm auch die zeitgenössische Kritik Bernhard als solchen wahr. Man empfand ihn als einen wenig zimperlichen Autor und reagierte entsprechend nur selten mit leisen Worten. Da es sich bei Auslöschung um Bernhards politischstes Werk handelt, in dem sämtliche Österreicher u. a. als „durch und durch nationalsozialistisch-katholisch“ bezeichnet werden, zeigte sich die einheimische Presse besonders verstimmt. Es war von einem Rundumschlag die Rede sowie von der „Peitsche des Dichters“. Bereits sein vorhergehender Roman Holzfällen war mit einer Unterlassungsklage bedacht worden; nach dem folgenden Theaterstück Heldenplatz erhielt Bernhard Morddrohungen.

Einen weiteren Roman schrieb Bernhard nicht mehr. Lediglich den bereits 1959 fertiggestellten Prosaband In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn gab der Autor vor seinem Tod noch an die Öffentlichkeit. In ihm verschärfte Bernhard noch einmal die Anklage aus Auslöschung: Der veröffentlichte Frühtext enthält die einzigen Passagen, in denen er die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich bildhaft beschreibt.

Über den Autor

Thomas Bernhard wird am 9. Februar 1931 in den Niederlanden als unehelicher Sohn österreichischer Eltern geboren. Den Vater lernt er nie kennen. Die Mutter, eine mittellose Haushaltshilfe, gibt den Sohn zunächst in Pflege. Das Verlassensein prägt Bernhard und sein späteres Werk tief. 1932 kehrt die Mutter nach Österreich zurück, sie lebt mit dem Kind bei ihren Eltern. Bernhards Großvater Johannes Freumbichler ist ein verarmter Heimatschriftsteller, der dem Enkel bald als Vaterersatz gilt. Die Schulzeit empfindet Bernhard als Qual. 1945 misslingt ein Selbstmordversuch. Armut und schlechte Noten veranlassen ihn 1947 zur Aufgabe der Schule und zum Beginn einer Lehre. 1949 kommt er aufgrund einer Rippenfellentzündung ins Krankenhaus und entgeht nur knapp dem Tod. Dann wird Tuberkulose diagnostiziert. Bernhard verbringt knapp zwei Jahre in Krankenhäusern und Sanatorien; dort beginnt er zu schreiben und lernt auch seinen „Lebensmenschen“, die 35 Jahre ältere Hedwig Stavianicek kennen. Im Anschluss arbeitet er als Journalist, später studiert er Schauspiel. 1957 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle. Doch erst der Roman Frost (1963) bringt den Durchbruch. Bernhard gilt bald als einer der wichtigsten Autoren deutscher Sprache. Auch sein zweiter Roman Verstörung (1967) wird gefeiert. 1970 inszeniert Claus Peymann Bernhards erstes langes Theaterstück Ein Fest für Boris. Damit beginnt eine fruchtbare Zusammenarbeit, denn Peymann wird etliche von Bernhards abendfüllenden Stücken auf die Bühne bringen. Bernhard setzt sich unter Schreibdruck, sei es wegen seiner Immobilienkäufe oder seiner sich verschlechternden Gesundheit. Er veröffentlicht oft mehrere Werke pro Jahr, bis ihn Mitte der 80er Jahre Atemnot und Herzschwäche langsam in die Knie zwingen. 1984 rüttelt der Roman Holzfällen die Wiener Künstlerszene auf, 1986 erscheint sein Prosa-Meisterwerk Auslöschung, und Ende 1988 erlebt Bernhard mit Heldenplatz eine letzte Skandalpremiere. Am 12. Februar 1989 stirbt Thomas Bernhard in Gmunden an Herzversagen.

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    A. vor 1 Jahrzehnt
    Thomas Bernhards frühe Erzählung "Der Italiener", die sich wie eine Vorarbeit zur "Auslöschung" lesen lässt, wurde von Ferry Radax 1972 verfilmt. Der Film wurde auf Wolfsegg gedreht. Wer sich den Schauplatz der "Auslöschung" vor Augen führen möchte, ohne nach Oberösterreich zu fahren, kann diesen Film bei der Filmedition Suhrkamp erstehen.

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