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Daisy Miller

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Daisy Miller

dtv,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Eine Erzählung über individuelle Selbstbestimmung in einer bürgerlichen Welt – und ihren Preis.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Realismus

Worum es geht

Zwischen Sittsamkeit und Selbstverwirklichung

Frederick Winterbourne ist Amerikaner, lebt aber seit seiner Kindheit in Genf und ist durch und durch ein europäischer Gentleman. In der klaren Luft des Schweizer Urlaubsorts Vevey scheint zwischen ihm und der selbstbewussten Amerikanerin Daisy Miller ein Funke überzuspringen – trotz oder gerade wegen der Spannung zwischen ihren unterschiedlichen Temperamenten. Doch als sie sich in der schwülen Hitze Roms wiedersehen, verwandeln sich diese Unterschiede in tiefe Gräben: Die lebenshungrige Daisy fühlt sich mit den heißblütigen Italienern viel wohler als im Korsett der bürgerlichen Moralvorstellungen. Während James einerseits die Prüderie des Bürgertums treffend aufs Korn nimmt, scheint er Daisys Freizügigkeit nicht weniger zu missbilligen: Ausgeschlossen von der High Society stirbt sie am „römischen Fieber“, der damals weitverbreiteten Malaria. Mit seiner kurzen und virtuosen Sittenstudie polarisierte Henry James 1878 das Publikum zwischen Empörung und Begeisterung – und schaffte den Durchbruch zu seiner bis heute anhaltenden Popularität.

Take-aways

  • Die Novelle Daisy Miller brachte Henry James den literarischen Durchbruch.
  • Inhalt: Der in der Schweiz lebende Amerikaner Winterbourne lernt dort die lebenslustige und unkonventionelle Amerikanerin Daisy Miller kennen. In Rom sehen sie sich wieder. Daisy brüskiert die noble Gesellschaft durch ihren freizügigen Umgang mit dem Italiener Giovanelli. Sie wird aus der High Society ausgeschlossen und stirbt am „römischen Fieber“.
  • Daisy Miller erschien 1878 und war ein großer Erfolg, aber auch ein Skandal.
  • In der Novelle behandelt James zum ersten Mal das für ihn typische Motiv der Kulturdifferenzen zwischen Alter und Neuer Welt.
  • Die Figur Daisy Miller steht für den unbekümmerten Eigensinn der Neuen Welt.
  • Die Figur Winterbourne vertritt die steife und formbewusste Moraltradition Europas.
  • Die zunächst romantische Spannung zwischen beiden wird bald zum entzweienden Konflikt. Das versinnbildlicht die Abnabelung der Neuen von der Alten Welt.
  • Henry James kritisiert beide Lebensentwürfe: Winterbourne ist durch seine übertriebene Strenge gehemmt, Daisy scheitert an ihrem ungezügelten Eigensinn.
  • 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung legte James eine vollständig überarbeitete Fassung von Daisy Miller vor, die sich aber nicht durchgesetzt hat.
  • Zitat: „Der arme Winterbourne war amüsiert und verblüfft – vor allem aber war er hingerissen. Er hatte bisher noch nie erlebt, dass ein junges Mädchen sich auf diese Weise äußerte.“

Zusammenfassung

Begegnung in Vevey

Die Schweizer Kleinstadt Vevey brummt im Sommer nur so vor gut betuchten Touristen aus aller Welt. Das Seeufer ist mit Hotels gesäumt. Im Garten des Hotels Trois Couronnes sitzt eines Morgens Frederick Winterbourne, ein 27-jähriger Amerikaner, der seit seiner Kindheit in Genf lebt. Während er in der Morgensonne das Bergpanorama und den himmelblauen See genießt, kommt ein Junge vorbei und fragt ihn nach einem Stück Zucker. Er stellt sich als Randolph und als „amerikanischer Junge“ vor; aus seiner Abneigung gegen die harten Bonbons der alten Welt macht er kein Geheimnis. Kurz darauf holt ihn seine Schwester ein, eine ausgesprochene Schönheit, wie Winterbourne bemerkt. Er bemüht sich um Eleganz und stellt sich so weltmännisch wie möglich vor. Leider zeigt ihm die junge Dame die kalte Schulter und maßregelt lieber ihren ungezogenen Bruder. Ein wenig aus dem Konzept gebracht, macht Winterbourne einen weiteren Versuch, sich ins Gespräch zu bringen, als er aufschnappt, dass die beiden nach Italien weiterreisen wollen. Doch auch dieser Anlauf hat nur mäßigen Erfolg.

„Sie bestand nur (…) aus reizenden kleinen Teilen, die nicht zueinanderpassten und kein ensemble bildeten; und wenn sie woanders hinsah, während er mit ihr sprach, und ihm gar nicht richtig zuzuhören schien, so war das einfach ihr übliches Benehmen, ihre Art des Umgangs, weil sie ganz und gar keine Vorstellung von ‚Form‘ hatte (…)“ (über Daisy und Winterbourne, S. 13)

Die junge Dame erscheint Winterbourne kühl, ja abweisend, und ihr fehlen offensichtlich verfeinerte Umgangsformen. Zugleich ist sie aber erfrischend unbekümmert und nicht ohne Geist. Ihre entspannte Offenheit und ihre Selbstsicherheit entzücken Winterbourne, der sich so gut es geht im Gespräch hält – und schließlich Erfolg hat: Endlich wendet sich das Mädchen ihm zu und beginnt, ungezwungen zu erzählen: dass sie aus New York kommen und mit ihrer Mutter auf dem Weg nach Rom sind, wo sie überwintern wollen. Schließlich stellt Randolph seine Schwester als Daisy Miller vor, aber ihr richtiger Name sei Annie P. Miller. Vertrauensselig plaudert Daisy nun aus dem Nähkästchen – in einer Distanzlosigkeit, die dem steifen Winterbourne angenehm auffällt. Europa sagt ihr sehr zu, erklärt sie, nur die Gesellschaften und Partys, wie sie sie aus Amerika gewöhnt ist, fehlen ihr.

„Der arme Winterbourne war amüsiert und verblüfft – vor allem aber war er hingerissen. Er hatte bisher noch nie erlebt, dass ein junges Mädchen sich auf diese Weise äußerte (…)“ (S. 20)

Winterbourne ist fasziniert von Daisys Kombination aus Weltgewandtheit und Naivität – aber auch verunsichert, denn ihr ganzes Verhalten ist ihm fremd; er tut sich schwer, Daisy richtig einzuschätzen. Offenbar flirtet sie gern – doch wie soll er reagieren? Als Daisy das Schloss Chillon erwähnt, wagt sich Winterbourne vor und fragt, ob sie es nicht gemeinsam besichtigen wollen. Zu seiner Überraschung sagt Daisy Ja.

Prickelnde Fremdheit

Der Grund für Winterbournes Aufenthalt in Vevey ist seine Tante, Mrs. Costello. Die standesbewusste Dame ist zu Besuch hier, eigentlich lebt sie in New York, wo sie – wie sie gerne betont – zur High Society gehört. Winterbourne fragt sie nach den Millers und erfährt, dass diese im selben Hotel untergebracht sind wie seine Tante. Mrs. Costello macht ihm allerdings auch klar, dass die Millers ihr zwar aufgefallen sind, sie diese vulgäre Sorte von Amerikanern aber geflissentlich meidet. Dasselbe empfiehlt sie auch ihrem Neffen, als Winterbourne ihr erzählt, dass er Daisy Miller eben kennengelernt hat und sie zwar etwas ungebildet, aber äußerst charmant findet. Dass sich Miss Miller so kurz nach einer Bekanntschaft bereits für einen gemeinsamen Ausflug verabredet hat, schockiert Mrs. Costello. Es beweist nur, meint sie, dass Daisy noch weiter geht als die üblichen Amerikanerinnen, die ja auch nicht gerade für ihre Schüchternheit bekannt sind. Und jemand wie Winterbourne, schließt sie, der schon so lange in Europa lebt, kann mit dieser Sorte Mädchen schon gar nicht umgehen – dazu ist er zu unschuldig.

„Du glaubst also wirklich, dass (…) sie zu der Sorte junger Damen gehört, die von einem Mann erwarten, dass er früher oder später mit ihr – nun ja, nennen wir es einmal ‚entflieht‘?“ (Winterbourne zu Mrs. Costello, S. 30)

Abends trifft Winterbourne im Garten auf Daisy. Diese freut sich über das Wiedersehen und plaudert munter drauflos. Winterbourne ist beeindruckt von ihrer ehrlichen und gutmütigen Art. Es stellt sich heraus, dass Daisy herausgefunden hat, wen Winterbourne in Vevey besucht, und da ihr Mrs. Costello als Angehörige der besten Kreise New Yorks beschrieben wurde, will sie sie nur zu gern kennenlernen. Winterbourne ziert sich etwas und Daisy errät schnell, dass seine Tante sie nicht kennenlernen will. Doch das macht ihr gar nichts aus – was Winterbourne überhaupt nicht glauben kann. Die beiden treffen Daisys Mutter. Winterbourne fürchtet, dass Mrs. Miller den Plan eines zweisamen Ausflugs zum Schloss nicht gutheißen wird, doch die alte Dame wirkt recht distanziert, fast gleichgültig, jedenfalls ganz anders als die gluckenhaften Mütter, die Winterbourne aus Genf kennt. Da fragt Daisy ihn plötzlich, ob er mit ihr im Sternenlicht auf den See hinausfahren will. Vor Mrs. Miller ist Winterbourne dieses Angebot etwas peinlich, doch lange muss Daisy nicht drängen, bis er einwilligt.

„Sie mochte vielleicht ‚gewöhnlich‘ sein, so wie Mrs. Costello behauptet hatte; doch was sollte diese Beschreibung im Hinblick auf ihre ganz eigene, angeborene Anmut eigentlich bedeuten?“ (über Daisy Miller, S. 37)

Da tritt der Reiseführer der Millers, Eugenio, zu der Gruppe. Mrs. Costello hat bereits maliziös angedeutet, dass Daisy mit ihrem Reiseführer auf „vertraulichem Fuße“ stehe. Sowohl Eugenio als auch Mrs. Miller geben Daisy zu bedenken, dass es bereits sehr spät und Randolph eben zu Bett gegangen sei. In Ermangelung echten Widerstands vonseiten Eugenios verfliegt Daisys Abenteuerlust und sie zieht sich mit dem Reiseführer und ihrer Mutter zurück. Winterbourne bleibt aufgewühlt im Garten. Dass sich Daisy ihm gegenüber einerseits so vertrauensselig und andererseits so launisch und unverbindlich verhält, verwirrt ihn. 

Schloss Chillon

Zwei Tage später treffen sie sich in der Lobby des Hotels zum gemeinsamen Ausflug nach Schloss Chillon. Daisy hat sich in Schale geworfen, und Winterbourne ist voll freudiger Erwartung. Doch bereits während der Überfahrt muss er feststellen, dass er keinerlei Zeichen erkennen kann, dass Daisy sich für ihn interessiert. Immerhin schafft er es, das Mädchen mit seinem Wissen derart zu beeindrucken, dass Daisy ihn bittet, als Lehrer für Randolph mit den Millers weiterzureisen. Doch in diesem Punkt muss nun Winterbourne Daisy enttäuschen: Er hat Verpflichtungen in Genf und muss sich dieser erst entledigen, ehe er sich ihnen anschließen kann. Daisy riecht den Braten und zeigt sich – zur angenehmen Überraschung Winterbournes – regelrecht eifersüchtig auf die Geliebte, die Winterbourne offenbar nach Genf zurückruft. Sie äußerst sich schwer enttäuscht, hänselt Winterbourne, dass er unter der Fuchtel seiner Geliebten stehe, und ringt ihm schließlich das Versprechen ab, sie im Winter in Rom zu besuchen. Dieses Versprechen geht Winterbourne gerne und leicht ein, denn einerseits hat ihn seine Tante bereits für Januar nach Rom eingeladen und andererseits scheint es nun, als stünde ihm Daisy doch nicht so gleichgültig gegenüber.

Wiedersehen in Rom

Als Winterbourne Ende Januar nach Rom kommt, hat er durch seine Tante bereits einen genauen Lagebericht erhalten: Die halbe Stadt spricht schon über Daisy, da sie gleich mit mehreren italienischen Männern aus einfachen Verhältnissen Bekanntschaft gemacht und Ausflüge unternommen hat. Die Neuigkeiten verärgern Winterbourne, der es sich in der Zwischenzeit in der Vorstellung gemütlich gemacht hat, dass Daisy in Rom nur auf seine Ankunft warten würde. Deshalb meldet er sich auch nicht sofort bei ihr, sondern sucht zunächst andere Bekannte auf.

„Sie hat ein halbes Dutzend der altbekannten römischen Mitgiftjäger übelster Sorte aufgegabelt und nimmt sie in all die Häuser mit, in die sie ihre Nase stecken darf.“ (Mrs. Costello über Daisy, S. 54)

Im Salon von Mrs. Walker, einer Amerikanerin, trifft er unerwartet die Millers. Daisy freut sich, ihn zu sehen, und wirft ihm vor, sich noch nicht bei ihr gemeldet zu haben. Randolph und Mrs. Miller sind verstimmt: Rom gefällt ihnen gar nicht, das Klima macht sie krank. Nur Daisy amüsiert sich hier, weil es ihr nie an Gesellschaft mangelt und sie viele Bekanntschaften macht. Schließlich kommt Daisy auf Mrs. Walkers anstehende Gesellschaft zu sprechen und fragt die Gastgeberin, ob sie ihren guten Freund Mr. Giovanelli mitbringen darf. Mrs. Walker gestattet dies. Wenig später stellt sich heraus, dass Daisy diesen Mr. Giovanelli gleich im Anschluss in den Pincio-Gärten treffen will. Winterbourne begleitet sie dorthin.

Ausflug zu dritt

Unterwegs im dichten Nachmittagsverkehr schwärmt Daisy von Rom und den vielen interessanten Bekanntschaften, die sie bereits gemacht hat. Als sie an den Pincio-Gärten angekommen sind, kann Winterbourne seinen Unmut nur mehr schwer verbergen. Er besteht darauf, sie nicht mit diesem Kerl allein zu lassen – und setzt sich schließlich durch. Während der gut aussehende, aber oberflächliche und gespreizte Giovanelli wortreich um Daisys Gunst buhlt, geht Winterbourne schweigend nebenher, voller Verachtung für die schlecht aufgesetzten Floskeln, durch die Giovanelli Daisy vorspielen will, er sei ein echter Gentleman. Daisy selbst scheint dieses Schauspiel nicht zu durchschauen, ihre Stimmung ist ungetrübt und Winterbournes Anwesenheit scheint sie nicht im Geringsten zu stören. Der zweifelt, ob sie vielleicht doch nicht so anständig ist, wie er dachte.

„Wenn das hier unanständig ist, Mrs. Walker, (…) dann bin ich durch und durch unanständig und Sie sollten mich am besten gleich ganz aufgeben.“ (Daisy zu Mrs. Walker, S. 73)

Aus dieser unangenehmen Situation befreit ihn Mrs. Walker, die ihn aus einer Kutsche heraus zu sich winkt. Sie ist höchst aufgebracht über Daisys Frivolität, mit zwei Männern am helllichten Tag durch den Park zu flanieren. Entschlossen, die Ehre der jungen Dame zu retten, will sie Daisy dazu überreden, zu ihr in die Kutsche zu steigen. Doch die denkt gar nicht daran, Giovanelli einfach so stehen zu lassen. Da wird Mrs. Walker deutlicher: So etwas gehört sich einfach nicht! Will Daisy denn unbedingt, dass die ganze Stadt über sie spricht? Nun errötet Daisy und zieht Winterbourne in die Szene hinein: Ob er denn auch der Meinung sei, dass sie lieber mit Mrs. Walker fahren solle? Peinlich berührt, aber ehrlich, antwortet er: Ja. Worauf Daisy verärgert mit Giovanelli weitergeht und die beiden zurücklässt.

„Sie flirtet mit jedem Mann, dem sie begegnet; sie sitzt mit obskuren Italienern in Ecken herum, sie tanzt den ganzen Abend lang mit ein und demselben Partner; sie empfängt um elf Uhr abends Besuch.“ (Mrs. Walker über Daisy, S. 75)

Winterbourne sitzt zwischen den Stühlen und versucht, Daisy in Schutz zu nehmen, doch Mrs. Walker ist in heller Aufregung: So kann sich eine junge Dame doch einfach nicht verhalten, mit jedem dahergelaufenen Römer zu flirten und sich in zwielichtigen Spelunken herumzutreiben! Alle Welt spricht bereits über sie und hält sie für ein leichtes Mädchen. Mrs. Walker warnt Winterbourne davor, Daisy weiter den Hof zu machen, aber der will noch einmal sein Glück versuchen und folgt Daisy und Mr. Giovanelli in den Park. Als er jedoch von Weitem sieht, wie die beiden vertraut im Sonnenuntergang sitzen und Daisy ihren Kopf auf Giovanellis Schulter legt, geht er entmutigt nach Hause.

Mrs. Walkers Gesellschaft

Als drei Tage später Mrs. Walkers Gesellschaft stattfindet, ist Winterbourne auch unter den Gästen. Er will Daisy wiedersehen. Gegen elf Uhr erscheint sie endlich mit Mr. Giovanelli und steht gleich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie verkündet, die beiden hätten allein im Hotelzimmer einige Lieder geprobt, denn Mr. Giovanelli habe die schönste Stimme der Welt. Während er seine Stücke trällert, kann Winterbourne endlich mit Daisy sprechen. Ihre Unterredung nimmt keinen guten Lauf: Während Daisy Mrs. Walkers Verhalten von neulich unerhört dreist findet, schlägt sich Winterbourne auf die Seite der Gastgeberin. Und als er Daisy gesteht, er wünsche sich, dass sie nur mit ihm flirte, erhält er einen Korb: Sie will gar nicht mit ihm flirten, er sei ihr viel zu steif. Verletzt wirft ihr Winterbourne an den Kopf, sie halte sich nicht an die Landessitten. Flirten, wie es in Amerika üblich sei, sei bei Italienern fehl am Platz, denn diese hätten anderes im Sinn. Entrüstet lässt Daisy ihn stehen und verbringt den restlichen Abend an der Seite Giovanellis. Beim Abschied brüskiert Mrs. Walker sie vor der versammelten Gesellschaft, indem sie Daisy den Rücken zukehrt.

Das römische Fieber

Winterbourne versucht immer wieder, Daisy zu treffen, doch meistens trifft er sie gar nicht an, und wenn doch, dann ist Giovanelli dabei. Aus dem Kreis der Amerikaner um Mrs. Costello erfährt er, dass Daisy in den erlauchten Kreisen Roms bereits alle Reputation verloren hat, weil sie sich ständig mit Giovanelli zeigt. Winterbourne gesteht sich seine Niederlage ein. Nun will er Daisy nur mehr vor der öffentlichen Meinung warnen und sie, so gut es geht, verteidigen. Zufällig trifft er das skandalöse Pärchen bei den Kaiserpalästen. Daisy zieht Winterbourne auf, weil sie ihn immer allein sieht. Er warnt sie im Gegenzug vor der negativen Meinung der Gesellschaft – mit Erfolg: Dass sie von den Reichen und Vornehmen ausgeschlossen wird, kränkt Daisy. Trotzig erklärt sie Winterbourne, sie sei verlobt.

„Das amerikanische Flirten ist eine rein amerikanische Albernheit, die – in ihrer naiven Plumpheit – keinen Platz in diesem System hat.“ (Winterbourne, S. 83)

Eine Woche später trifft Winterbourne zufällig Daisy mit Giovanelli nachts am Kolosseum. Er wirft den beiden Leichtsinnigkeit vor, sich zu so später Stunde noch an diesem Ort aufzuhalten, der als Malariaherd gilt. Daisy entgegnet selbstsicher, dass sie einerseits gesund genug sei, um sich nicht anzustecken, und dass es ihr andererseits auch egal sei, ob das „römische Fieber“ sie erwische – sie musste unbedingt das Kolosseum im Mondschein sehen. Bald nach dieser Begegnung hört Winterbourne Gerüchte, Daisy sei krank. Er sucht sie im Hotel auf, wird aber nicht zu ihr vorgelassen. Von ihrer Mutter erfährt er, dass Giovanelli sich seit Daisys Erkrankung überhaupt nicht mehr blicken lässt und dass Daisy Winterbourne ausrichtet, sie sei doch gar nicht verlobt. Eine Woche später stirbt sie. Bei ihrer Beerdigung wirft Winterbourne Giovanelli vor, Daisy in den Tod geführt zu haben. Der wehrt sich: Daisy habe immer ihren Kopf durchgesetzt, außerdem war sie die Unschuld in Person.

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Aufbau und Stil

Der Untertitel der Originalausgabe wies Daisy Miller als „A Study in Two Parts“ aus. Diese beiden Teile werden durch die zwei Handlungsorte der Novelle markiert: Vevey in der Schweiz und Rom in Italien. An diesen beiden Orten spielen je zwei Kapitel der kurzen Studie. Erzählt werden die Begegnungen zwischen Frederick Winterbourne und Daisy Miller von einem auktorialen Erzähler, der aber über weite Strecken die Perspektive Winterbournes einnimmt, sich vielfach auf die Wiedergabe von Dialogen beschränkt und somit kaum Einblicke in das Seelenleben der anderen Protagonisten gewährt. Dem Leser wird nur die Oberfläche dieser spannenden Begegnung präsentiert, wodurch vor allem Daisys Verhalten weitgehend rätselhaft bleibt und nur schwer zu interpretieren ist. Da sich die Studie hauptsächlich den Charakteren und den von ihnen verkörperten Wertesystemen widmet, gibt es nur sehr wenig tatsächliche Handlung. Selbst Beschreibungen von Orten und Stimmungen sind selten und recht allgemein gehalten – die Dynamik der Geschichte ergibt sich vor allem aus den Gesprächen der Handelnden.

Interpretationsansätze

  • Daisy Miller führt jenes Thema ein, das für das weitere literarische Werk von Henry James typisch werden sollte: den spannungsreichen Mentalitätsunterschied zwischen Europa und Amerika. Der Fokus liegt dabei auf der bürgerlichen Oberschicht. James unterscheidet zwischen Amerikanern, in Europa lebenden Exil-Amerikanern und Europäern. Dieser Unterschied ist verkörpert in Daisy Miller und Winterbourne. Dabei bleibt James in seiner Bewertung unparteiisch: Er kritisiert sowohl Winterbourne für seine übertriebene Strenge als auch Daisy für ihren zügellosen Eigensinn.
  • Die Abnabelung der Neuen von der Alten Welt ist darin versinnbildlicht, wie die zunächst romantische Spannung zwischen Daisy und Winterbourne schließlich in einen entzweienden Konflikt mündet.
  • Ein wichtiges Thema der Novelle ist der Widerspruch zwischen Sitte und Selbstbestimmung. Der Skandal, den Daisy auslöst, gründet darin, dass ihr ungezwungenes und eigensinniges Verhalten nicht den strengen Moralvorstellungen des europäischen Umfelds entspricht.
  • Dass Daisy derart selbstbewusst handelt und ihre eigenen Wünsche über die Meinung der anderen stellt, lässt sie als Figur der Frauenemanzipation erscheinen. Doch gleichzeitig leidet sie auch darunter, aus der gehobenen Schicht, die sie eigentlich verehrt, aufgrund ihres Verhaltens ausgeschlossen zu werden.
  • Die beiden Handlungsorte der Novelle, Schweiz und Italien, können als symbolische Orte gelesen werden. Während Genf, Winterbournes Wohnort, der Lebensmittelpunkt des Reformators Johannes Calvin war, ist Rom das Zentrum des Katholizismus.
  • Das Motiv des „römischen Fiebers“ weist eine Doppelbedeutung auf. Einerseits bezeichnet es Daisys Liebe zu dieser aufregenden Stadt und ihren geselligen Männern, andererseits die Ende des 19. Jahrhunderts in Süditalien weitverbreitete Malaria, an der Daisy schließlich stirbt.

Historischer Hintergrund

Die USA am Ende des 19. Jahrhunderts

In die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel der Beginn des Emanzipationsprozesses der afroamerikanischen Bevölkerung der USA. Der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 und der Sieg der Nordstaaten bedeutete das Ende der Sklaverei und den Beginn der Integration der ehemaligen Sklaven in die Gesellschaft als freie und gleichwertige Bürger. Die sogenannte Reconstruction-Politik erlebte aber bereits 1876 mit der Einführung der rassistischen Jim-Crow-Gesetze in mehreren Staaten einen herben Rückschlag. Etwa zur selben Zeit erlebte auch die kriegerische Auseinandersetzung der USA mit den amerikanischen Ureinwohnern ihren Höhepunkt.

Ab den 1850er-Jahren schritt die Besiedlung des bisher unerschlossenen „wilden Westens“ immer schneller voran. Eisenbahnstrecken wurden bis zum Pazifik ausgebaut und neue Bundesstaaten wie Texas, Kalifornien oder Oregon gegründet. Gegen Ende des Jahrhunderts erreichte der wirtschaftliche Aufschwung im Zuge der von Europa ausgehenden Industrialisierung auch die USA. Der Beginn des Gilded Age (Vergoldetes Zeitalter) wird mit 1877 datiert und brachte eine Unmenge technologischer Innovationen mit sich. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Chancen zogen massenweise Einwanderer aus Europa an. Zugleich gehörte es zum guten Ton für wohlhabende Amerikaner, das kultivierte und traditionsreiche Europa zu bereisen. So fand, von der Einführung der Dampfschifffahrt begünstigt, ein lebhafter kultureller Austausch zwischen der Alten und der Neuen Welt statt.

Entstehung

Was Henry James 1867 in Rom noch nicht gelang, gelang ihm zwei Jahre später in London: Er wurde sesshaft und siedelte endgültig nach Europa über, um sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Dazu musste er vor allem seine künstlerischen Ambitionen mit den Erwartungen der Verlage und eines mehrheitlich weiblichen und bürgerlichen Lesepublikums in Einklang bringen. Seine ersten Fortsetzungsgeschichten wurden durchaus positiv aufgenommen, waren aber noch weit von einem durchschlagenden Erfolg entfernt. Im Herbst 1877, als James erneut seine Traumstadt Rom besuchte, erzählte ihm eine Freundin beiläufig eine kurze Geschichte. Was James an der anonymen und vagen Erzählung sofort faszinierte, war ihr Potenzial zur thematischen Zuspitzung und Polarisierung. Er machte sich flüchtige Notizen, und als er im Frühjahr 1878 wieder in London war, arbeitete er sie rasch zu der kurzen Erzählung Daisy Miller aus. Den Text schickte er rasch an Lippincott’s Monthly Magazine in Philadelphia, das seinen Arbeiten bisher stets wohlgesonnen gewesen war. Zu seiner großen Überraschung erhielt James diesmal aber lediglich eine kommentarlose Absage. Von einem Freund erfuhr er schließlich, der Verleger sei völlig empört über James’ Werk gewesen und habe die Figur der Daisy Miller als Beleidigung aller jungen Amerikanerinnen empfunden.

Die Novelle erschien schließlich im Cornhill Magazine, das von einem guten Freund James’, Leslie Stephen, herausgegeben wurde. Der Text wurde 1878 als Fortsetzungsgeschichte auf die Juni- und Juli-Ausgaben verteilt veröffentlicht. Bereits in den Monaten darauf folgten zwei nicht genehmigte Nachdrucke in Magazinen aus New York und Boston – ein häufiges Phänomen jener Zeit, da die Urheberrechte literarischer Werke kaum geschützt waren. Ebenfalls noch 1878 folgte die Erstveröffentlichung in Buchform, und zwar durch die Verlage Harper and Brothers in Amerika und Macmillan in Großbritannien.

Wirkungsgeschichte

Daisy Miller schlug hohe Wellen und polarisierte das Publikum: Die Leser liebten oder verabscheuten die Geschichte. So oder so brachte die Heftigkeit der Reaktionen Henry James ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Mit Daisy Miller trat er das erste Mal ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit – und begann seinen Aufstieg zu bis heute ungebrochener Popularität, vor allem in der angloamerikanischen Welt. 1883 lieferte er selbst eine Bühnenfassung von Daisy Miller, eine Komödie in drei Akten. Sie erschien im Magazin Atlantic Monthly, blieb aber weit hinter dem Erfolg des Buches zurück. 1909 wollte Henry James sich selbst übertreffen und die letztgültige Fassung der Novelle vorlegen. Die Originalversion hatte für seinen Geschmack zu wenig psychologische Tiefe, also arbeitete er den Text grundlegend durch und nahm starke Veränderungen vor. Doch die Kritik reagierte auf diese Neufassung äußerst kühl. So wurde etwa bemängelt, die stilistische Leichtigkeit des Originals sei völlig verloren gegangen. Dieses Urteil hat sich in der weiteren Publikationsgeschichte bestätigt: Die Erstausgabe hat sich letztlich als Standardfassung durchgesetzt. 1974 wurde die Novelle unter der Regie von Peter Bogdanovich, unter anderem mit Cybill Shepherd und Barry Brown, verfilmt.

Über den Autor

Henry James gilt in der angelsächsischen Welt als großer Klassiker der Literatur um 1900, als Meister des subtilen psychologischen Romans und Wegbereiter der literarischen Moderne. Am 15. April 1843 in eine großbürgerliche, wohlhabende und intellektuelle New Yorker Familie hineingeboren, erhält er eine umfassende Bildung und lernt schon früh die Klassiker der Weltliteratur kennen. Sein Vater ist einer der angesehensten amerikanischen Intellektuellen, befreundet mit Denkern wie Thoreau, Emerson und Hawthorne. Henry James’ Bruder William wird Psychologieprofessor in Harvard und Begründer des Pragmatismus in der Philosophie. Henry James selbst studiert, nachdem er in seiner Jugend Europa bereist hat, für kurze Zeit Jura in Harvard und betätigt sich bald als Journalist, zunächst als Kritiker, dann auch als Zeitungskorrespondent in Paris. 1869 siedelt er nach England über, wo er sich 1876 endgültig niederlässt. Viele seiner berühmten Romane und Erzählungen wie Daisy Miller (1878), Die Europäer (The Europeans, 1878) oder Die Gesandten (The Ambassadors, 1903) spielen vor dem Hintergrund der Begegnungen vornehmer Amerikaner mit Europäern. Der Gegensatz zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen europäischer Kultur und amerikanischer Naivität spielt in seinem Werk eine wichtige Rolle. Da James vermögend und somit finanziell unabhängig ist, kann er sich ganz dem Schreiben und seinen intellektuellen Interessen widmen. Auch in England steht er in engem Kontakt zu den führenden Geistern seiner Epoche. 1904/05 reist James nach 25 Jahren erstmals wieder in die Vereinigten Staaten, unter anderem um die Ausgabe seiner gesammelten Werke vorzubereiten und zu begleiten, darunter sein meistgelesenes Buch, die Gespenstergeschichte Das Durchdrehen der Schraube (The Turn of the Screw, 1898). 1915 erwirbt James die englische Staatsbürgerschaft. Er stirbt am 28. Februar 1916 im Londoner Stadtteil Chelsea.

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