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Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

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Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Ein Klassiker der Moderne: Benjamins hellsichtige Analyse über Kunst und menschliche Wahrnehmung im Zeitalter der Massenmedien ist auch heute noch aktuell.


Literatur­klassiker

  • Ästhetik
  • Moderne

Worum es geht

Die Kunst und ihre Wahrnehmung im Zeitalter der Massenmedien

Fotografie und Film verändern die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Davon handelt Walter Benjamins 1936 erschienener Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung dieser Schrift entdeckt. Die Reproduktionstechniken, die damals als modern galten, sind heute zwar längst überholt, doch Benjamins Diagnose unserer Wahrnehmung unter dem Einfluss der Massenmedien ist aktueller denn je. Ungeachtet des rasenden technischen Fortschritts unserer Zeit spricht der Text Fragen an, um die sich bis heute niemand drücken kann, der sich für Kunst und Medien interessiert. Zugegeben: Den reinen Lesegenuss bieten die knapp 50 Seiten nicht. Wer aber die Anstrengung nicht scheut und sich durch den Text hindurcharbeitet, wird mit tiefen Einsichten in das Wesen der Moderne belohnt. Er versteht, wodurch sich eine antike Götterstatue oder ein Rembrandt-Gemälde von einem Man-Ray-Foto unterscheiden und welche Bedeutung Charlie Chaplin oder Mickey Mouse für die Filmkunst haben.

Take-aways

  • Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zählt zu den wichtigsten ästhetischen Texten des 20. Jahrhunderts.
  • Der Aufsatz beschreibt, wie sich durch die modernen Medien Film, Fotografie, Kunstdruck und Schallplatte der Charakter der Kunst verändert hat.
  • Die ältesten Kunstwerke hatten Kultwert. Sie erfüllten eine Funktion im religiösen Ritual.
  • Die Menschen der Gegenwart möchten alle Dinge nahe an sich heranholen und sie als Abbild besitzen.
  • Durch massenhafte Vervielfältigung wird das Kunstwerk aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen.
  • Beim technisch reproduzierbaren Kunstwerk, etwa einer Fotografie, lassen sich Original und Fälschung nicht voneinander unterscheiden.
  • Die Reproduktion des Kunstwerks zerstört seine Aura, seine Einmaligkeit.
  • Der Film bereitet durch Montage und harte Schnitte die menschliche Wahrnehmung für die Anforderungen und Gefahren der Moderne vor.
  • Massenbewegungen kann die Filmkamera besser erfassen als das menschliche Auge.
  • Der Nationalsozialismus hat sich die Filmtechnik für seine Propaganda zunutze gemacht und der Masse künstlerischen Ausdruck verliehen.
  • Benjamins Aufsatz regte zahlreiche wissenschaftliche und philosophische Arbeiten an und gab der neuen Disziplin der Medienwissenschaft starke Impulse.
  • Auch im Zeitalter von Internet und digitaler Technik haben Benjamins Thesen nichts an Aktualität verloren.

Zusammenfassung

Die Reproduktion von Kunstwerken

Kunstwerke konnten schon immer kopiert werden. Schüler duplizierten die Werke ihrer Meister, um sich zu üben, oder Maler stellten zu Verbreitungszwecken Kopien ihrer eigenen Bilder her. Etwas grundsätzlich anderes als diese manuell angefertigten Kopien sind technische Reproduktionen. Schon die griechische Antike kannte zwei Verfahren technischer Vervielfältigung: den Guss von Bronzen und die Prägung von Münzen. Lange vor Erfindung des Buchdrucks ermöglichte der Holzschnitt erstmals die Reproduktion von Grafiken. Im Mittelalter kamen Kupferstich und Radierung hinzu, zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Lithografie. Dieses sehr viel schnellere Verfahren erlaubte es, Grafiken nicht nur massenweise herzustellen, sondern täglich neu zu gestalten. Schon wenige Jahrzehnte darauf folgte die Erfindung der Fotografie, die den Prozess bildlicher Reproduktion ungeheuer beschleunigte.

Die zerstörte Aura

Durch massenweise Reproduktion verliert das Kunstwerk seine Aura. Die Aura eines Kunstwerks ist an sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet, gebunden: an sein Hier und Jetzt. Der Begriff der Echtheit lässt sich nur auf manuell hergestellte Kunstwerke anwenden, nicht auf technisch reproduzierte. Ein echtes Gemälde lässt sich von einem gefälschten unterscheiden. Bei verschiedenen Abzügen einer Kupferplatte ist das hingegen nicht möglich – und erst recht nicht bei der Fotografie. Es kann allerdings durchaus sein, dass technische Reproduktionen gegenüber dem Original einen eigenständigen Wert haben. So kann beispielsweise eine fotografische oder filmische Reproduktion mithilfe bestimmter Verfahren – etwa Vergrößerung oder Zeitlupe – Details hervorheben, die für das menschliche Auge normalerweise nicht sichtbar wären. Zudem kann das Abbild an Orte gelangen, die dem Original unerreichbar sind: Man hängt sich das Bild einer Kathedrale an die Wand oder hört sich ein Chorwerk, das in einem Konzertsaal aufgenommen wurde, auf einer Schallplatte zu Hause im Wohnzimmer an.

Historisch bedingter Wahrnehmungswandel

Die menschliche Sinneswahrnehmung hat sich im Lauf der Geschichte verändert. Die Menschen der großen Völkerwanderungen, der spätrömischen Antike oder der Wiener Moderne bewunderten nicht nur jeweils eine andere Kunst, sondern hatten auch eine andere Art der Wahrnehmung. Heute, als Menschen der Gegenwart, haben wir das Bedürfnis, uns die Dinge räumlich näher heranzuholen und durch Reproduktion ihre Einmaligkeit zu überwinden. Wir wollen sie uns als Abbild aneignen. Die Wahrnehmung in unserer Zeit ist darauf ausgerichtet, das Einmalige zu vervielfältigen – womit automatisch dessen Aura zerstört wird.

Die Befreiung der Kunst aus dem Ritual

Die ältesten Kunstwerke waren Kultgegenstände. Sie entstanden im Dienst des magischen, später des religiösen Rituals. Weder mussten sie besonders schön sein, noch waren sie für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt. Als Zauberinstrumente wirkten sie im Verborgenen: Davon zeugen Götterstatuen, die nur einem Priester zugänglich waren, Madonnenbilder, die das ganze Jahr über verhängt blieben, und Skulpturen an mittelalterlichen Domen, die für den Betrachter von unten nicht sichtbar sind.

„Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht haben, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.“ (S. 10)

Im Lauf der Zeit wurde das Kunstwerk aus dem religiösen Ritual befreit. Damit wuchsen die Gelegenheiten, es auszustellen, und das wiederum beeinflusste den Charakter der Kunstwerke selbst: Eine Porträtbüste lässt sich leichter an einen anderen Ort transportieren als eine Götterstatue, die im Tempel steht. Ein Tafelbild kann einfacher ausgestellt werden als ein Mosaik oder ein Fresko, die fest an einen Ort gebunden sind. So kam es, dass der Ausstellungswert eines Kunstgegenstands allmählich dessen Kultwert verdrängte. In der Fotografie ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Nur im Porträtfoto, in der Frühphase der Fotografie noch die wichtigste Erscheinungsform dieser Kunst, hat sich ein Rest an Kultwert erhalten: die Erinnerung an eine ferne oder verstorbene Person, deren Gesicht auf dem Foto fixiert ist.

Bühnenschauspieler und Filmdarsteller

Auf der Bühne führt der Schauspieler seine Leistung dem Publikum direkt vor, im Film dagegen wird sie durch die Kamera vermittelt. Mit welchen Folgen? – Wir nehmen die darstellerische Leistung eines Filmschauspielers nicht als Ganzes, sondern zerstückelt wahr. Sie wird durch den Kameramann und den Cutter, der ausgewählte Aufnahmen zum fertigen Film zusammenfügt, geprüft und dem Publikum zugänglich gemacht. Und noch ein wesentlicher Unterschied zum Theater: Der Filmschauspieler kann während seines Spiels nicht auf die Reaktion des Publikums eingehen; ein persönlicher Kontakt zwischen den beiden Parteien findet nicht statt. Das Publikum nimmt die Haltung der Kamera ein: Es begutachtet den Schauspieler und testet seine Leistung.

„Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.“ (S. 12)

Anders als der Bühnenschauspieler soll der Filmschauspieler dem Publikum keine andere Person, z. B. Shakespeares Macbeth, vorführen, sondern er stellt vor allem sich selbst dar. Dadurch wird die Aura, das Hier und Jetzt des Darstellenden wie auch der dargestellten Person, in diesem Fall Macbeths, zerstört. Der Bühnendarsteller versetzt sich in eine Rolle, der Filmdarsteller kann das oftmals nicht. Äußere Umstände – wie etwa die Verfügbarkeit von Studios, Partnern oder Dekor – und die technischen Voraussetzungen des Films zerstückeln das Schauspiel in einzelne Episoden. Zwischen einem Sprung aus dem Fenster, aufgenommen in einem Studio, und der anschließenden Flucht, die eine Außenaufnahme nötig macht, können in Wirklichkeit mehrere Wochen liegen. Erst auf der Leinwand erscheint das Ganze als einheitliches Geschehen.

„Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ (S. 13)

Während der Filmschauspieler vor der Kamera steht, weiß er, dass er für ein Publikum spielt. Das Publikum ist der Markt, der ihm sein Produkt abnehmen muss. Die Filmindustrie ersetzt die verloren gegangene Aura eines Filmschauspielers durch den Aufbau einer künstlichen „personality“. Schauspieler werden Stars, und dieser Starkult bewahrt künstlich den Zauber ihrer Persönlichkeit, der in Wirklichkeit längst zur Ware verkommen ist.

Jeder kann Schauspieler oder Autor sein

Die Technik des Films bringt es mit sich, dass der Zuschauer leicht zum Mitwirkenden wird. So kann jeder Passant in der Wochenschau zum Filmstatisten aufsteigen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der Geschichte des Schrifttums beobachten: Viele Jahrhunderte lang stand einer geringen Zahl von Schreibenden eine tausendfach höhere Zahl von Lesenden gegenüber. Durch die Ausdehnung der Presse und die Entstehung verschiedener politischer, religiöser, beruflicher und lokaler Organe Ende des 19. Jahrhunderts erhielten immer mehr Menschen die Möglichkeit zur Publikation. Ob Leserbrief, Beschwerde oder Reportage: Viele, die sich früher auf die Rolle des Lesenden beschränkt hätten, sehen sich heute in der Lage, zu schreiben. Als Fachmann für irgendeinen Spezialbereich – und sei er noch so unbedeutend – wird der Lesende zum Autor. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Autor und Publikum geht nach und nach verloren.

Der Film verändert das Verhältnis zur Kunst

Das gleiche Publikum, das ein Bild von Picasso ablehnt und sich damit als rückständig erweist, reagiert auf einen Charlie-Chaplin-Film fortschrittlich: Es verbindet die Lust am Schauen mit der Haltung des fachmännischen Begutachters, der das Dargebotene kritisch beurteilt. Beim Kinopublikum – und das ist ein historisches Novum – fallen lustvolles Genießen und kritisches Begutachten zusammen. Der Grund dafür: Im Kino betrachtet der Zuschauer einen Film nicht als Einzelner, sondern in der Masse. Wann immer er seine Meinung kundtut, wird er dabei von den anderen Zuschauern kontrolliert. Ein Gemälde dagegen wird immer nur von Einzelnen oder wenigen, niemals simultan von einem großen Publikum wahrgenommen. Der Betrachter eines Gemäldes unterliegt deshalb nie in dieser Weise der Kontrolle durch ein Massenpublikum.

Vertiefte Wahrnehmung

Der Film hat unsere Wahrnehmung ebenso verändert wie Freuds Psychoanalyse. Was vormals übersehen wurde, etwa ein harmlos erscheinender Versprecher, kann mithilfe von Freuds Theorie isoliert und analysiert werden. Ein Gespräch, das zuvor oberflächlich erschien, gewinnt auf einmal eine tiefere Bedeutung. In ähnlicher Weise hat der Film unsere optische Wahrnehmungsfähigkeit vertieft: Er erlaubt es, einzelne Szenen zu isolieren und zu analysieren. Wir erhalten einen anderen, neuen Blick auf unsere alltäglichen Milieus. Die Zeitlupe ermöglicht tiefere Einsichten in Bewegungsabläufe, etwa den Gang eines Menschen. So wie die Psychoanalyse unseren Blick für das Triebhaft-Unbewusste geöffnet hat, so hat der Film unseren Blick für das Optisch-Unbewusste geschärft.

Zerstreuung statt Versenkung

Die Kunst hat seit jeher die Aufgabe, Nachfrage für etwas zu erzeugen, für das die Zeit noch nicht reif ist. Der Dadaismus etwa hat in der Malerei und der Literatur Effekte verwendet, die sich heute im Film wiederfinden. Mithilfe der Montage und der Vermischung von scheinbar Unvereinbarem hat er das Kunstwerk bewusst zum Skandal gemacht. Das dadaistische Kunstwerk lädt den Betrachter nicht mehr – wie frühere Werke – zur stillen Kontemplation ein, sondern es schockiert ihn und lenkt seine Gedanken ständig auf Neues. Damit hat der Dadaismus die Nachfrage nach dem Film erzeugt, der diese wiederum befriedigt, indem er den Zuschauer durch den steten Wechsel der Bilder und Schauplätze ablenkt: Kaum hat man ein Bild ins Auge gefasst, folgt das nächste. Der Strom von Assoziationen wird immer wieder unterbrochen. Darauf beruht die Schockwirkung des Films.

„Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ (S. 14)

Kritiker bezeichnen den Film als einen Zeitvertreib für die ungebildete, abgearbeitete Masse. Er biete bloß Zerstreuung, während das Kunstwerk von seinem Betrachter innere Sammlung verlange. Wer so argumentiert, übersieht, dass die älteste Kunstform der Menschheit, die Baukunst, ganz ähnlich wie der Film wirkt: Wenn Menschen nicht gerade als Touristen vor einem berühmten Bauwerk stehen, nehmen sie die Architektur im Allgemeinen nicht aufmerksam und bewusst wahr, sondern beiläufig und zerstreut.

„Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Fotografien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.“ (S. 23)

Die Kunst verändert laufend den Wahrnehmungsapparat des Menschen. So bereitet sie ihn auf neue Aufgaben und Gefahren vor. Jeder Fußgänger im Straßenverkehr ist heute einer Lebensgefahr ausgesetzt, die eine neue Art der Wahrnehmung erfordert. Der Film trainiert diese Wahrnehmungsweise durch die rasche Abfolge von hart geschnittenen Bildern. Er bildet die menschlichen Sinne neu und passt sie so den Erfordernissen einer extrem beschleunigten Moderne an.

Das Politische wird ästhetisch

Gegenwärtig lassen sich zwei Entwicklungen beobachten, die eng miteinander zusammenhängen: zum einen die zunehmende Proletarisierung der Menschen, zum anderen die Bildung von Massen. Der Faschismus versucht, die proletarisierten Massen, die auf einen Umsturz der Eigentumsverhältnisse drängen, zu organisieren. In Aufmärschen und im Krieg gibt er ihnen die Möglichkeit, sich auszudrücken, ohne dass sie die althergebrachten Besitzverhältnisse antasten. Damit betreibt der Faschismus eine Ästhetisierung des Politischen. Und er bedient sich der neuen Technik, da sie seinen Zwecken entgegenkommt: Die Kamera kann eine Massenbewegung viel deutlicher wahrnehmen als das menschliche Auge. Durch Vogelperspektive und Vergrößerungen lassen sich Großdemonstrationen besser erfassen und perfekt inszenieren. Der propagandistische Wert der Wochenschau ist denn auch kaum zu überschätzen.

„Die technische Reproduzierbarkeit verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z. B. angesichts eines Chaplin, um.“ (S. 37)

Die Ästhetisierung des Politischen strebt auf einen Gipfel zu: den Krieg. Allein der Krieg macht es möglich, die Massenbewegung auf ein bestimmtes gemeinsames Ziel hinzulenken und gleichzeitig die Eigentumsverhältnisse zu wahren. Alle technischen Mittel der Gegenwart werden eingesetzt: Die Menschheit hat sich mittlerweile so weit von sich selbst entfremdet, dass sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Hochgenuss erlebt. Die Antwort darauf gibt der Kommunismus, indem er das Umgekehrte tut: Er politisiert die Kunst.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit umfasst kaum 50 Seiten. Leicht zu bewältigen, sollte man meinen. Doch die schlanke Form täuscht: Jeder einzelne der 15 Abschnitte ist kompliziert aufgebaut und wirft eine Fülle von Fragen auf. Immer wieder streut Benjamin Aphorismen ein oder spitzt seine Thesen schlagwortartig zu. Auch benutzt er ein Vokabular, das für den philosophischen Laien ohne zusätzliche Erläuterungen nur schwer verständlich ist. Längere Fußnoten unterbrechen immer wieder die Argumentation.

Im Nachwort macht der Autor klar, dass er nicht nur eine Analyse gegenwärtiger Kunst liefern möchte, sondern auch eine politische Warnung daran knüpfen will. Der Ton dieses Schlussabschnitts unterscheidet sich deutlich von den vorangehenden, überwiegend sachlich-nüchternen Beschreibungen. Wenn Benjamin zum Ende hin auf die politische Lage in den 30er Jahren zu sprechen kommt, ist seine Empörung über die Vereinnahmung der Kunst durch die Nationalsozialisten deutlich zu spüren. In scharfem Ton fordert er, der Kommunismus müsse dem Faschismus durch die Politisierung der Kunst entgegenwirken. Hier bekommt sein Stil etwas beinahe Radikales, Pamphlethaftes.

Interpretationsansätze

  • Benjamins Aufsatz ist die erste gründliche theoretische Auseinandersetzung mit den neuen Medien – zu seiner Zeit waren das vor allem Film und Fotografie.
  • Auch andere Zeitgenossen, darunter Bertolt Brecht und Siegfried Kracauer, beschäftigten sich in den 20er und frühen 30er Jahren mit dem Film. Im Unterschied zu ihnen interessierte sich Benjamin allerdings weniger für die rein künstlerischen und kulturellen Aspekte des neuen Mediums. Worum es ihm ging, war der Wandel der menschlichen Denk- und Wahrnehmungsweise, den die Technik der bewegten Bilder ausgelöst hat.
  • Benjamins Standpunkt ist nicht einfach kulturkonservativ; von den zeitgenössischen Kritikern, die im Film ein Mittel sahen, die Massen von ihren wirklichen Problemen und Alltagssorgen abzulenken, grenzt er sich ausdrücklich ab. Seine Kritik richtet sich nicht gegen das Medium des Films an sich, sondern gegen den Missbrauch des Films zu Propagandazwecken durch die Nationalsozialisten.
  • Im Zeitalter von Digitalisierung und Internet sind Benjamins Überlegungen zum Verhältnis von Autor und Publikum aktueller denn je. Mithilfe moderner Technik können selbst banalste Bilder festgehalten und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Der Abstand zwischen Leser und Schreibenden hat sich weiter verringert. Bezeichnend dafür ist das Phänomen des Bloggings: Jedermann kann sich auf einer Webseite zu unterschiedlichsten Fragen äußern, der Öffentlichkeit sein Sachwissen zur Verfügung stellen, eigene Filme oder einen Roman veröffentlichen.

Historischer Hintergrund

Das Zeitalter der Massenmedien

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts stellten Expressionismus und Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus die herkömmliche Kunstauffassung auf den Kopf. Sie lehnten die Reproduktion der Wirklichkeit ab und schufen in ihren Bildern eine subjektive, fantastische Realität. Durch die Verwendung von Montage und einer neuen Formensprache forderten die Künstler die Betrachter heraus. Daneben entwickelte sich die Fotografie: Sie hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts neben dem Gemälde als anerkannte Kunstrichtung durchgesetzt und arbeitete nun an einer eigenen, experimentellen Sprache.

Zur gleichen Zeit begannen die technischen Neuerungen zunehmend den Alltag zu beeinflussen. Die Illustrierten mit ihren großflächigen Fotos entwickelten sich zum beliebten Unterhaltungsmedium. Zeitungen erschienen mehrmals täglich, um dem Informationshunger der Massen und einem wachsenden Aktualitätsdruck standzuhalten. Seit der Einführung des Rundfunks in Deutschland Anfang der 20er Jahre wuchs die Zahl der Radiohörer stetig. In Berlin eröffneten kurz darauf die ersten Kinos mit über 1000 Sitzplätzen, in denen ein Massenpublikum Filme wie Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925), Fritz Langs Metropolis (1927), Charlie Chaplins Moderne Zeiten (1936) oder eben auch Mickey Mouse sehen konnte (Steamboat Willie, 1928).

Die Nationalsozialisten wussten die neuen Massenmedien für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. In Wochenschauen und im Rundfunk verbreiteten sie gezielt ihre Propaganda. Leni Riefenstahls Filme Triumph des Willens (1935) über den Nürnberger Parteitag der NSDAP und Olympia (1938) inszenierten die Masse als ästhetisches Großereignis.

Entstehung

In einem Brief an Theodor W. Adornos Frau Gretel Adorno kündigte Benjamin 1935 seinen Aufsatz an, von dessen welthistorischer Bedeutung er überzeugt war. Damals lebte er im Pariser Exil und verdiente sich seinen kargen Lebensunterhalt als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, das unter der Leitung Max Horkheimers nach New York übergesiedelt war. Schon in früheren Aufsätzen hatte sich Benjamin mit Medien beschäftigt, allerdings eher abstrakt. Doch als Publizist und Autor von Rundfunksendungen hatte er seit Ende der 20er Jahre persönliche Erfahrungen im Umgang mit den Massenmedien gesammelt, und die flossen nun in seinen Kunstwerkaufsatz ein. Seine Hoffnungen auf eine positive Resonanz unter den Intellektuellen zerschlugen sich indes bald. Die Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur, der er das Manuskript 1936 anbot, lehnte ab. Auch bei der Zeitschrift für Sozialforschung, in der der Aufsatz schließlich in französischer Übersetzung erschien, äußerte man zunächst Bedenken. Vor allem Adorno bemängelte den allzu großen Einfluss Bertolt Brechts. Während Brecht und Benjamin von der Kunst politisches Engagement forderten, plädierte Adorno für künstlerische Autonomie. Benjamin protestierte gegen die vorgeschlagenen Änderungen und Streichungen in seinem Text, musste sich aber schließlich fügen, da er keine andere Publikationsmöglichkeit sah. Nach der Erstveröffentlichung arbeitete er den Text immer wieder um, sodass dieser heute in unterschiedlichen Fassungen vorliegt.

Wirkungsgeschichte

Trotz Benjamins hoher Erwartung fielen die Reaktionen der Zeitgenossen auf seinen Aufsatz ernüchternd aus. Brecht notierte, er könne mit dem Begriff der Aura nichts anfangen. Adorno, der zu den schärfsten Kritikern zählte, setzte sich später in seinen eigenen Schriften zwar mit Benjamins Thesen auseinander, ohne jedoch die Quelle zu benennen. Damit trug er wesentlich dazu bei, dass der Text lange Zeit kaum wahrgenommen wurde. Erst Ende der 60er Jahre wurde er in Deutschland einem größeren Publikum bekannt.

Es sollte allerdings noch über ein Jahrzehnt dauern, ehe die Wissenschaft die große Bedeutung von Benjamins Aufsatz erkannte. Mitte der 80er Jahre entdeckten kanadische Historiker und Kulturwissenschaftler den Text. Der prominenteste unter ihnen, Marshall McLuhan, verfolgte in seinen eigenen medientheoretischen Untersuchungen einen ähnlichen Ansatz wie Benjamin. Etwa zur gleichen Zeit entstand an Universitäten die neue Disziplin der Medienwissenschaft. In der Nachfolge Benjamins analysiert sie den Einfluss der Massenmedien auf die modernen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen.

Benjamins Diagnose des Wahrnehmungswandels durch technisch erzeugte Bilder hat auch im digitalen Zeitalter nichts an Aktualität eingebüßt. Von Hans Magnus Enzensberger bis zu französischen Philosophen wie Jean Baudrillard und Paul Virilio haben sich viele Denker auf ihn berufen. Inzwischen genießt der Aufsatz, der in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde und dessen Titel fast schon zu einem geflügelten Wort geworden ist, unter Medien- und Kulturwissenschaftlern Kultstatus.

Über den Autor

Walter Benjamin wird am 15. Juli 1892 in Berlin geboren. Dort wächst er in einer großbürgerlichen jüdischen Familie auf, besucht das Gymnasium und macht 1912 sein Abitur. Anschließend nimmt er sein Studium der Philosophie, deutschen Literatur und Psychologie auf. Er studiert in Freiburg im Breisgau, München, Berlin und schließlich in Bern. 1915 lernt er den jüdischen Mystiker Gershom Scholem kennen. Mit ihm wird ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden. Zwei Jahre später heiratet er Dora Sophie Pollak, mit der er einen Sohn hat. 1919 schließt Benjamin seine Promotion über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik ab. Dann versucht er sich in Berlin als freier Schriftsteller, kommt aber mehr schlecht als recht über die Runden. Ein eigenes Zeitschriftenprojekt scheitert. In dieser Zeit entsteht u. a. sein Essay über Goethes Wahlverwandtschaften. Benjamin knüpft Kontakte zu Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer. Sein Habilitationsprojekt Ursprung des deutschen Trauerspiels an der Frankfurter Universität zieht er selbst zurück, als eine Ablehnung seitens der Universität absehbar ist. Benjamin sympathisiert mit der Sowjetunion, wird allerdings selbst nie Mitglied einer kommunistischen Partei. 1926 reist er nach Moskau, nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris, wo er mit Franz Hessel an der Übersetzung der Werke von Marcel Proust gearbeitet hat. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten flieht Benjamin endgültig nach Paris, arbeitet von hier aus für das Frankfurter Institut für Sozialforschung und an eigenen Projekten. Unter anderem entstehen der viel zitierte Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), verschiedene Baudelaire-Studien und das so genannte Passagen-Werk, das unvollendet bleibt. 1932 beginnt er damit, seine Kindheitserinnerungen niederzuschreiben. Kurz nach Kriegsausbruch entsteht sein letzter Text, die Thesen Über den Begriff der Geschichte. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris flieht er nach Lourdes und versucht im Herbst 1940 nach Spanien zu gelangen. Da ihm die Auslieferung an die Nazis droht, nimmt Benjamin sich am 26. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou das Leben, wo heute ein Denkmal an ihn erinnert.

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