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Das System der Dinge

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Das System der Dinge

Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen

Campus,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Baudrillards scharfsinnige Analyse der Konsumgesellschaft und ihrer Widersprüche – eine postmoderne Provokation.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Postmoderne

Worum es geht

Das Ding als Wunschmaschine

Die moderne Konsumgesellschaft liebt alles Spektakuläre. Sie sucht nach aufsehenerregenden Bildern, feiert rauschende Pseudofeste und huldigt allem, was käuflich und messbar ist. Kaltblütig blickt der französische Soziologe Jean Baudrillard dieser Scheinwelt ins Auge. Er findet einen Alltag vor, der sich in ein reines Zeichensystem verwandelt hat: Autos vermitteln Fahrspaß, Duschgels sexuelle Attraktivität, Sammlerstücke weltmännisches Prestige. Die Dinge funktionieren wie Wunschmaschinen, die Lüste wecken und befriedigen. Der Verbraucher konsumiert gierig die Traumbilder, die Design und Werbung entstehen lassen. Dumm nur, dass dieses Zeichensystem weder Fluchtwege offenlässt noch soziale Gerechtigkeit schafft. Sein einziges Interesse liegt in seiner Selbsterhaltung. Baudrillard verkörperte wie kein Zweiter das Epochengefühl der Postmoderne und dachte doch konsequent über seine Zeit hinaus. Seine scharfsinnige Analyse der Konsumgesellschaft hat über die Jahre nichts an Aktualität und Brisanz verloren.

Take-aways

  • Das System der Dinge ist das Erstlingswerk des französischen Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard.
  • Die Studie untersucht den Wandel, den die Alltagsgegenstände in der modernen Konsumgesellschaft erfahren.
  • Durch den Konsum werden die Dinge zu beliebig verknüpf- und verwertbaren Zeichen.
  • Konsumiert wird nicht mehr das Ding selbst, sondern die Idee, die es vermittelt.
  • Design und Werbung befrachten Produkte mit Inhalten, die weit über ihren Gebrauchswert hinausgehen.
  • Gleichzeitig sinkt der funktionelle Wert der Dinge: Qualitätseinbußen werden nicht nur in Kauf genommen, sondern sind sogar beabsichtigt, um den Verkauf weiterer Produkte anzukurbeln.
  • Massenprodukte geben sich als Luxusgüter aus und täuschen über soziale wie qualitative Differenzen hinweg.
  • Der Konsument befriedigt sich beim Kaufakt, doch die enorme Warenfülle weckt stets neue Wünsche.
  • Die breite Verfügbarkeit der Massenware suggeriert, dass alle alles haben können.
  • In Wahrheit verfestigen sich die sozialen Unterschiede. Maßgebend ist allerdings nicht mehr die Klassenzugehörigkeit, sondern das verfügbare Geld.
  • Baudrillard kritisiert Kommunismus und Kapitalismus gleichermaßen: Die klassenlose Gesellschaft ist ebenso eine Utopie wie die Freiheit der Marktwirtschaft.
  • Baudrillard gilt als einer der führenden Theoretiker der Postmoderne.

Zusammenfassung

Wie sich die Alltagsdinge ordnen lassen

Die Dinge des täglichen Gebrauchs vermehren sich rasant und ungebremst. Ihre ungeheure Fülle scheint in keine Systematik zu passen; selbst ein Katalog oder ein Handbuch könnte sie nur nach willkürlichen Kriterien wie Größe, Handhabung oder Lebensdauer ordnen. Ein zusammenhängendes System lässt sich erst erkennen, wenn man die Alltagsdinge zu ihren Benutzern in Beziehung setzt: Für diese bilden sie ein Netz von ideellen, imaginären Bedeutungen, das alle Lebensbereiche erfasst. Besonders aufschlussreich ist der Bereich des Wohnens: Die Wohnungseinrichtung spiegelt die sozialen Strukturen und Werte einer Epoche wider.

Bürgerliche und moderne Wohnungen

In der bürgerlichen Wohnung ist alles in ein festes patriarchales Gefüge gebunden. Genauso, wie sich die Familie um ihr Oberhaupt schart, gruppieren sich die Möbel um einen Mittelpunkt: Im Speisezimmer ist das der Esstisch, im Schlafzimmer das Ehebett. Alles ist eindeutig, unverrückbar und hierarchisch angeordnet; jedes Möbelstück hat seinen Platz und seine Funktion. Der bürgerliche Wohnraum grenzt sich in seiner Einheitlichkeit nach außen ab und stiftet Identität.

„Vermag man die unendliche Welt der Gegenstände genauso in Familien und Klassen einzuteilen wie das Pflanzen- und Tierreich mit seinen tropischen und glazialen Gattungen, mit seinen erstaunlichen Mutationen und aussterbenden Arten?“ (S. 9)

Anders richtet sich das moderne Individuum ein. Es sieht sich als emanzipiert und an keinerlei Konventionen gebunden. So frei, wie es in seinen Handlungen sein will, so flexibel und dezentral gestaltet es seine Wohnung: Ob Kippcouch, Regal oder Schiebetür, die Möbel sind beweglich und strikt funktional, ohne das theatralische Pathos von früher. Ein modernes Bett ist einfach nur ein Bett – so wie der moderne Einzelne nur ein Einzelner ist, der sich keiner Religion oder Bürgermoral verpflichtet fühlt. Er tritt nicht als Oberhaupt, sondern als Raumgestalter auf, der Wohnideen verwirklicht und die Möbel nach seinen Vorstellungen anordnet.

Warme und kalte Atmosphären

Die Einrichtung der modernen Wohnung lässt sich von emotionalen Werten leiten. Dafür werden Farben und Stoffe von ihrer klassischen Symbolik abgelöst: Grün steht nicht mehr für Hoffnung, sondern strahlt, je nach Tönung, Wärme oder Kälte aus. Holz gilt nicht einfach als besonders natürlich, Waschbeton nicht mehr als besonders künstlich. Jeder Stoff kann nach Belieben verwendet werden, um warme oder kalte Atmosphären herzustellen, jedes Möbel wird im Hinblick darauf gestaltet, ob es lockere oder feste Sozialkontakte ermöglichen soll. Die moderne Sitzgruppe ist ein gutes Beispiel dafür: Erzwang ihre bürgerliche Vorgängerin noch eine korrekte aufrechte Sitzhaltung, so laden moderne Sofas zum Zurücklehnen ein. Sie rechnen immerfort mit müden Gästen, die sich erholen müssen.

Die Herrschaft der Geräte

Auch moderne Geräte greifen ins Sozialleben ein. Früher forderte etwa das Schrubben der Wäsche auf dem Waschbrett den vollen Einsatz der Körperkraft, heute genügt ein Knopfdruck, und die Waschmaschine besorgt die Reinigung. Die Hand ist nicht mehr Greif-, sondern Tastorgan, der Mensch nicht mehr mit dem ganzen Körper bei der Sache, sondern nur noch als Bediener und Kontrolleur.

„In der Ausgestaltung des Wohnraumes spiegeln sich die Familien- und Gesellschaftsstrukturen einer Epoche wider.“ (S. 23)

Doch so autonom die neuen Geräte funktionieren, ihre symbolische Leistung bleibt ungenügend. Während die Arbeit früher menschliche Lust sublimierte – die Hacke stand für den Phallus, die Furche für die Vagina –, ist bei den heutigen Tätigkeiten nichts Derartiges mehr zu spüren. Dieser Verlust wird in anderen Bereichen kompensiert: Ein großer Kotflügel, der die Tragfläche eines Flugzeugs nachahmt, verbessert weder die Fahreigenschaften des Autos, noch befriedigt er existenzielle Bedürfnisse. Vielmehr ist er von symbolischer Bedeutung: Er steht für Geschwindigkeit und vermittelt subtil den Eindruck, das Gefährt könne über sich hinauswachsen. Das Ding wird zum bloßen Zeichen, das Stimmungen, Wünsche oder sozialen Status ausdrückt.

Sammler und Eigentümer

Auch praktisch Nutzloses passt in dieses Zeichensystem der Dinge. Antiquitäten beispielsweise sind zwar nicht als Alltags-, dafür aber als Ausstellungsstücke begehrt. Sie sollen Authentizität vermitteln, indem sie das Wissen des Meisters, der den Gegenstand schuf, oder die Prominenz der Person, die ihn besaß, andeuten. Der Zauber des Echten steigert das soziale Prestige.

„Die Stühle ‚bedienen‘ nicht mehr den Tisch: Heute haben die Sitze ihr eigene Bedeutung erlangt, und der Tisch ‚erniedrigt‘ sich.“ (S. 58)

Der Sammler macht seinen Besitz zu etwas Exklusivem, Emotionalem und Persönlichem und sucht damit einen Mangel zu kompensieren. Sammelleidenschaft entwickeln nämlich vor allem vorpubertäre Kinder oder Männer über 40, also ein Personenkreis, bei dem der aktive Geschlechtstrieb zurückgedrängt ist. Der Sammler befriedigt sich beim Sammeln selbst; was ihn beglückt, ist das Vermögen, den besonderen Wert seiner Stücke ermessen zu können. Der Sammelleidenschaft kommt allerdings immer wieder das serielle Wesen der Sammlung in die Quere: Indem sie sich beständig erweitern lässt, scheint ihr stets das letzte, das wichtigste Stück zu fehlen. So geht es dem Sammler wie dem Liebhaber, der von Affäre zu Affäre lebt.

„Wie es kaum noch ein Material gibt, das nicht seine Entsprechung in Kunststoff hätte, so gibt es keine menschlichen Gebärden, die nicht durch ein technisches Äquivalent ausgedrückt werden könnten.“ (S. 66)

In gewisser Hinsicht gleicht der Sammler dem Eigentümer: Auch er macht jedes Ding zu einem persönlichen. Die Armbanduhr etwa – ein typisch modernes Ding – lässt ihn die Todesangst überwinden, indem sie ihm scheinbar ermöglicht, den Fluss der Zeit zu unterbrechen. Insofern spendet das Eigentum auf dieselbe Weise Trost wie ehedem die Religion oder die Familie. Gesammelte oder in Besitz genommene Dinge wachsen sich gerne zum Fetisch aus und ersetzen damit das menschliche Gegenüber. Soziale Beziehungen verlieren so an Bedeutung.

Der perfekte Automat

Die Technik versucht den Menschen insgesamt überflüssig zu machen. Diese Tendenz lässt sich am wichtigsten Ideal der Moderne ablesen, dem Automatismus. Mit ihm versucht der Mensch sich einen Herzenswunsch zu erfüllen: Alles möge von selbst ablaufen und ihn in einen Rausch versetzen, der seine Potenz als Erfinder und Kontrolleur erlebbar werden lässt. Jedes moderne Gerät scheint mit derartigen Mythen ausgestattet, das extremste Beispiel aber ist der Roboter. Er verkörpert das Gefährliche aller Maschinen: Roboter könnten sich verselbstständigen und totale Macht über die Menschheit erlangen. Die Science-Fiction-Literatur lebt von solchen Katastrophen und beschwört sie lustvoll herauf. Allerdings ist sie nie um die Rettung verlegen: Entweder weiß sie die bösen Roboter moralisch zu bändigen oder treibt sie in die Selbstzerstörung. In jedem Fall triumphiert der Mensch über die enthemmte Technik und versichert sich seiner Überlegenheit.

Übersättigte Dinge

Allen Mythen zum Trotz können Dinge auch maßlos enttäuschen. Der Keim dafür liegt bereits in der Herstellung: Je mehr Wunschbildern die Waren gerecht werden müssen, desto stärker leidet ihre technische Qualität. Der moderne Fortschrittsglaube verstärkt diese Dynamik noch: Er verlangt stets nach Neuheiten, auch wenn sich diese technisch gar nicht realisieren lassen. In der Folge werden die alten Produkte einfach in neuem Design verkauft, und etwaige Mängel bleiben unbehoben. Um von den funktionellen Defiziten abzulenken, werden Waren zusammen mit allerlei Gadgets verkauft, unnützem Beiwerk.

„Schließlich führt dieser ganze Prozess zu dem kulturell absurden, aber ökonomisch lukrativen Erfolg, dass nur noch Fälschungen diesen unstillbaren Hunger nach ‚Echtem‘ befriedigen können.“ (S. 109)

Derselbe Widersinn findet sich auch in der sozialen Utopie, die der Fortschrittsglaube heraufbeschwört: Eines Tages soll für jedes soziale Problem ein Produkt erfunden sein, das die Lösung bringt. Tatsächlich stellt aber jeder Fort- auch einen Rückschritt dar. Das Auto etwa hätte eine gleiche Mobilität für alle schaffen können, stattdessen wurde es mit sekundären Tugenden wie Prestige und Komfort überlastet und beförderte damit den Klassenunterschied, den es eigentlich hätte aufheben sollen. In der Konsumgesellschaft siegen stets die irrationalen Kräfte, soziale Probleme werden nur zum Schein gelöst.

„Das Sammeln ist im Verhältnis zur Sexualität eine Regression auf die anale Stufe, die sich durch anhäufendes und ordnendes Verhalten sowie durch aggressive Zurückhaltung auszeichnet.“ (S. 112)

Der Fortschritt entwickelt eine zweifelhafte Eigendynamik: Die Nachfrage muss hochgehalten werden, nur so steigen die Gewinne und nur so bildet sich Kapital, das in Neuheiten investiert werden kann. Diese wiederum sind auf funktionelle und soziale Defizite angewiesen, denn nur schnelllebige, mangelhafte Waren halten den Konsumenten, trotz wachsendem Wohlstand, unbefriedigt und zwingen ihn zu stetem Neukauf.

Massen- und Luxusgüter

Zwei Typen von Waren prägen das Angebot: Modell und Serie. Ob man ein Kleid der Haute Couture oder eines von der Stange erwirbt, hängt nicht mehr vom sozialen Status ab, sondern allein vom verfügbaren Geld. Genau darin besteht die grundlegendste Ideologie der modernen Konsumgesellschaft: Alle Produkte sollen für jeden zu haben und nach Lust und Laune zu konsumieren sein. Die freie Wahl, zu der die Warenfülle animiert, ist allerdings trügerisch: Serien geben sich als Modelle aus, ohne modellhafte Qualität zu besitzen. Die Mode lässt sie schnell alt aussehen, und Mängel werden gleich mitproduziert. Ähnliches gilt für technische Geräte, die nicht selten Funktionselemente enthalten, deren Lebensdauer bei der Herstellung gezielt vermindert wurde.

„Was der Mensch in den Gegenständen findet, ist nicht die Gewissheit des Fortlebens, sondern der kreislaufmäßige und gesteuerte Prozess seiner Existenz als die symbolische Überwindung des tatsächlichen Lebenslaufes, dessen irreversibles Ereignis außerhalb“

Modell und Serienprodukt lassen sich nur im Detail unterscheiden: Das eine wirkt gekonnt, dem anderen fehlt der letzte Schliff, das eine betört eine Minderheit mit Nuancen, das andere beschenkt die Mehrheit mit Wahlfreiheit. So wird im Kleinen genau jener Klassenunterschied mitverkauft, den man im Großen für abgeschafft hält. Dabei soll der vermeintlich freie Konsum eigentlich die Demokratie stützen: Freiheit und Gleichheit sollen für stetig steigenden Wohlstand sorgen und die Durchlässigkeit sozialer Schichten gewährleisten. Dafür müssen jedoch immer feiner nuancierte Serien hergestellt werden, sodass ein gleicher Konsum für alle vorgespiegelt werden kann. Zuletzt dient die Wahlfreiheit nur als Alibi. Solange die Geldmittel ungleich verteilt sind, verfestigt der Konsum die Klassenunterschiede.

Kaufen auf Kredit

Einen Ausgleich könnte der Kredit schaffen, der sich zu einer Art Bürgerrecht entwickelt und das soziale System grundlegend verändert hat. Dank dem Kreditsystem wird der Verbrauch mittlerweile höher bewertet als Eigentum und Vermögen. Früher folgte der Warenkauf auf tatsächlich geleistete Arbeit und sollte als Kapital die Zukunft absichern helfen. Heute kann man ein Produkt kaufen und von seinem Prestige profitieren, ohne es tatsächlich erarbeitet zu haben. Die Werbung deckt diesen Bluff gezielt. Natürlich wird der Käufer auf Kredit irgendwann von den Schulden eingeholt. Aber eben zeitverzögert und mit der Möglichkeit, sich gleich mit einem neuen Kredit zu trösten.

Der umworbene Konsument

Die Werbung versucht nicht nur den Absatz eines Produktes zu steigern, sondern insgesamt den Konsum anzuregen. Dafür werden Waren mit Ideen und Gefühlen angereichert, die den Einkauf zu einem Akt der Liebe oder des Gemeinsinns machen. Durch Warenkäufe wollen die Menschen ihre sexuellen oder ideellen Träume verwirklichen. Damit dieser Mechanismus funktioniert, genügt es, an ihn zu glauben. Zuletzt allerdings läuft er ins Leere: Die Werbung weckt Sehnsüchte, ohne sie zu befriedigen. Stattdessen macht sie dem Verbraucher ein latent schlechtes Gewissen. Wer ihre Bilder und Slogans wahrnimmt, hat das Beworbene ja noch nicht unbedingt gekauft und lässt sich womöglich unterschwellig von dem Schuldgefühl plagen, dem Konsumgebot nicht zur Genüge nachgekommen zu sein.

Ewiger Verbrauch

Der Begriff „Verbrauch“ muss in Bezug auf die moderne Gesellschaft neu definiert werden. Weil sich die Objekte in Zeichen verwandelt haben und nicht mehr rein materiell konsumiert werden, folgt dem heutigen Konsum keine Sättigung; die zugrunde liegenden Bedürfnisse werden nie ganz befriedigt. Die Bilder, Gefühle und Ideen, die verbraucht werden, erschaffen eine konsumfreundliche Schweinwelt, die – abgekapselt von der Realität – stets neue Wünsche weckt. Den Verbrauch einschränken zu wollen, ist deshalb naiv. Für die Konsumgesellschaft ist er ein Grund zum Leben, und das kann er nur bleiben, solange er sich ständig selbst erneuert.

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Aufbau und Stil

Das System der Dinge ist in vier Teile gegliedert, wobei jeder die Welt der Alltagsgegenstände unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet: zu Beginn in funktionaler Hinsicht, dann aus psychologischer Perspektive, anschließend als symbolisches System und letztlich in Bezug auf den Verbrauch, das Prinzip, das den Dingen ihren Wert gibt. Die vier Kapitel bauen nicht systematisch aufeinander auf, sondern ergänzen sich gegenseitig und bieten durch Bezüge und Verweise mehrere Knotenpunkte. Die Studie verfährt damit sehr „strukturalistisch“: Weder fragt sie nach dem Wesen der Dinge, noch pflegt sie eine strenge Argumentation. Prämissen werden nicht selbstkritisch geprüft, und anstelle einer logischen Schlussfolgerung steht manches Mal ein treffendes Beispiel. Baudrillards Sprache packt einen mit der Suggestivkraft und Wucht ihrer Metaphern, sein assoziatives Denken ist ebenso selbstbewusst wie kühn. Man kann das aufdringlich finden – oder einfach nur brillant.

Interpretationsansätze

  • Mit Das System der Dinge reagierte Baudrillard auf einen epochalen Wandel, der den Marxisten entgangen war: Moderne Gesellschaften werden nicht von der Produktion, sondern vom Konsum geprägt. Gemäß Baudrillards Konsumtheorie entfremden folglich nicht allein die Arbeitsbedingungen, sondern der Lebensalltag insgesamt den Menschen.
  • Nach Marx setzt sich der Wert einer Ware zu gleichen Teilen aus Gebrauchs- und Tauschwert zusammen. Baudrillard wertet den Tauschwert nun zur alles bestimmenden, totalitären Kraft auf. Als Zeichen lassen sich die Dinge beliebig verwerten, verwenden oder vertauschen, ohne an soziale oder materielle Realitäten gebunden zu sein.
  • Das System der Dinge übt Ideologiekritik: Der Kommunismus traut es dem Menschen zu, aus eigener Kraft eine bessere, klassenlose Gesellschaft hervorzubringen. Baudrillard hingegen stellt fest: Der Konsum hat ein geschlossenes, auf Selbsterhaltung bedachtes Zeichensystem erschaffen. Es funktioniert irrational und führt nicht zum Zusammenbruch der Gesellschaft, sondern sichert deren Fortbestand.
  • Auch der Kapitalismus bekommt sein Fett weg: Wachsender Wohlstand und technologischer Fortschritt sollen angeblich für soziale Gerechtigkeit sorgen. Doch die angebotsorientierte Marktwirtschaft erzwingt künstliche Bedürfnisse und befriedigt sie scheinbar mit Produkten, die den Konsumenten auf Dauer enttäuschen. Der Fortschritt simuliert nur Besserung, anstatt sie tatsächlich zu schaffen.
  • In Das System der Dinge denkt Baudrillard die Moderne zu Ende: Kaum hat sich der Einzelne mittels seiner Vernunft aus der Bevormundung durch Familie, Religion und Staat befreit, wird das Freiheitsstreben durch den Kapitalismus vereinnahmt: Als frei gilt, wer Waren kaufen und konsumieren kann.
  • Baudrillard sieht die Postmoderne anbrechen: Begriffe wie Utopie, Wahrheit, Vernunft, Theorie und Geschichte wirken verbraucht und sind zu beliebig konsumierbaren Zeichen geworden, die nur noch den postmodernen Leitspruch beweisen: Anything goes.

Historischer Hintergrund

Die Welt des Konsums und ihre Gegner

Der globale Streit zwischen Kapitalismus und Kommunismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde auch in Frankreich zum Glaubenskrieg um die richtige gesellschaftliche Utopie. Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg und der stetig wachsende Konsum beflügelten den Fortschrittsglauben. Das Wachstum, meinten viele, würde alle sozialen Probleme lösen können. Die allgegenwärtige Reklame in den Straßen, im Kino, in der Presse und im Fernsehen setzte die Errungenschaften der Moderne spektakulär ins Bild. Die neuen Reichtümer schienen für alle greifbar zu sein.

Gleichzeitig wuchs die Skepsis: Viele machten den Konsum für soziale Ungerechtigkeiten verantwortlich, zumal der Staat mit seinem machtvollen Präsidenten Charles de Gaulle offenbar alles dafür tat, die Klassendifferenzen zu erhalten. Als in den 60er Jahren die Zahl der Arbeitslosen stieg, gaben schließlich die Pariser Studentenunruhen vom Mai 1968 dieser Kritik gewaltsam Ausdruck. Sie begannen in Nanterre und an der Pariser Sorbonne und richteten sich zunächst nur gegen Polizeispitzel in Zivil. Bald aber verließ der Protest die Universitäten und legte über Wochen das öffentliche Leben lahm. Straßenschlachten wurden gefochten, Barrikaden errichtet und ein Generalstreik ausgerufen. Die Revolte gegen eine autoritäre, konservative Gesellschaft einte Studenten- und Arbeiterschaft. Gemeinsam forderten sie ein von Grund auf liberal gestaltetes soziales Gefüge.

Frankreichs Intellektuelle ließen sich für die studentischen Ideale begeistern. 1957 gründeten Guy Debord u. a. die Situationistische Internationale. Sie suchte nach basisdemokratischen Verfahren und Formen subversiver Stadtguerilla, um das „Diktat des Konsums“ auszuhebeln. Ware, Arbeit, Technokratie und Hierarchie sollten abgeschafft und durch Situationen ersetzt werden, in denen sich das Leben zum Kunstwerk befreien konnte. Mit Slogans wie „Verbieten ist verboten!“, „Unter dem Pflaster der Strand“ oder „Arbeit? Niemals“ provozierte sie die etablierten Kräfte.

Entstehung

Baudrillard konzipierte Das System der Dinge als Doktorarbeit, die er 1966 bei dem marxistischen Philosophen Henri Lefebvre einreichte. Dessen Engagement für eine Soziologie des Alltagslebens prägte die Studie; Baudrillard teilte mit ihm das Bestreben, den Alltag nicht von der Arbeit, sondern vom Konsum her zu begreifen. Starken Einfluss übten auch die Vorlesungen aus, die in den 60ern an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales gehalten wurden. Bei Roland Barthes machte sich Baudrillard mit dem Strukturalismus, bei Pierre Bourdieu mit der soziologischen Feldtheorie vertraut.

Auch die Situationistische Internationale ließ Baudrillard nicht unbeeindruckt. Mit ihr teilte er die zeitgeschichtliche Diagnose: Die Gesellschaft habe sich von Produktion auf Konsum umgestellt und sich rückhaltlos dem Spektakel verschrieben. Von der utopischen Kraft des Situativen ließ sich Baudrillard allerdings nicht mitreißen. Er hielt es für ausgeschlossen, durch subversive Performances die Allmacht des Konsums brechen zu können.

Wirkungsgeschichte

Berühmt wurde Baudrillard mit seinem Erstling zunächst nicht. In akademischen Zirkeln stießen sein dogmatischer Stil und seine kühnen Behauptungen auf heftigen Widerspruch; seine Schriften wurden als „Unsinn“ oder „Kauderwelsch“ abgetan. Insbesondere Naturwissenschaftler störten sich an Baudrillards assoziativem Denken und warfen ihm Unwissenschaftlichkeit vor: Er verwende Elemente aus der Mathematik oder Physik in einer Art und Weise, die der klar definierten Bedeutung dieser Begriffe keine Rechnung trage und mehr verwirre als erhelle. Der amerikanische Physiker Alan Sokal machte sich gar offen über Baudrillard, Paul Virilio und Co. lustig: Er bot der postmodernen Zeitschrift Social Text 1996 einen Artikel an mit dem bedeutungsschwangeren Titel Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. Die renommierte Zeitschrift druckte den Beitrag – und Sokal gab bekannt, dass es sich um eine Parodie gehandelt habe. Er habe Versatzstücke verschiedener postmoderner Autoren zu einem vollkommenen Nonsens kombiniert. Die „Sokal-Affäre“ schaffte es auf die Titelseite der New York Times. Baudrillard konnte diese Häme allerdings nicht viel anhaben: Dass er sich nicht für fixe Begriffe interessiere, sondern für das, was mitschwinge, sei keine Schwäche, sondern gerade der Kern seines Denkens, argumentierten seine Anhänger.

In der intellektuellen Szene Frankreichs fand Das System der Dinge nur verzögert Widerhall. Es musste erst den Umweg über die USA nehmen, ehe es im Verbund mit späteren Schriften des Autors die Debatten der 80er zu beherrschen begann. Seither allerdings gehört Baudrillard neben Jean-François Lyotard, Virilio und Marshall McLuhan zu den führenden Theoretikern der Postmoderne und der Popkultur. Sowohl für die postmoderne Medientheorie als auch für die Konzeptkunst ist Baudrillard ein wichtiger Lieferant von Zeitdiagnosen.

Über den Autor

Jean Baudrillard wird am 27. Juli 1929 in Reims geboren. Sein Großvater ist Bauer, sein Vater einfacher Beamter. Nach dem Abitur in seiner Heimatstadt nimmt Baudrillard 1947 das Studium der Germanistik an der Pariser Sorbonne auf. Von 1958 bis 1966 unterrichtet er Deutsch an einer Mittelschule. Nebenbei übersetzt er Marx und Brecht ins Französische, studiert Philosophie und Soziologie. 1968 schreibt er bei Henri Lefebvre seine Dissertation Das System der Dinge (Le Système des objets) und arbeitet zunächst als dessen Assistent. Nach seiner Habilitation 1972 ist er selbst als Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre tätig, einem Zentrum der Studentenbewegung von 1968. Als scharfer Gegner des Algerien- und des Indochinakriegs nähert Baudrillard sich in den 60er-Jahren der französischen Linken an. In den 80er- und 90er-Jahren zählt Baudrillard – inzwischen wissenschaftlicher Direktor an der Universität Paris-Dauphine – zu den bekanntesten Denkern der Postmoderne. In dieser Zeit wendet er sich als erklärter Feind des französischen Egalitarismus von der Linken ab und liebäugelt zeitweilig mit der Rechten. In Interviews zieht er polemisch über Amerikas Ideologie der Freiheit und die westliche Konsumgesellschaft her. Aufsehen erregt er mit der Aussage, der Irakkrieg habe nicht stattgefunden, sondern sei ein reines Medienspektakel gewesen. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 begrüßt Baudrillard als „metaphorischen Selbstmord“, als Wiederkehr des Realen in unsere Welt des Scheins. Im islamistischen Fundamentalismus erkennt er die Rache für den westlichen Konsum- und Warenfetischismus, der sich bis in den letzten Winkel der Welt auszubreiten drohe. Mit solchen extremen Äußerungen macht sich Baudrillard unter Kollegen unbeliebt, die ihm mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwerfen. Zugleich finden seine Ideen Eingang in die Populärkultur: Im amerikanischen Science-Fiction-Film The Matrix (1999) etwa spielt sein Buch Simulacres et simulation (1981) eine bedeutende Rolle. Baudrillard stirbt am 6. März 2007 in Paris.

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    A. vor 1 Jahrzehnt
    Es erfordert doch schon einiges an Durchtriebenheit, um Behauptungen aufzustellen wie "die Hacke stand für den Phallus, die Furche für die Vagina". Diese Behauptung konnte mir bisher noch kein Bauer oder Hobbygärtner bestätigen...