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Der Geheimagent

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Der Geheimagent

Eine einfache Geschichte

S. Fischer,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Joseph Conrad erfand mit diesem Roman das Genre des Agententhrillers praktisch im Alleingang – und prägte es für alle Zeiten.


Literatur­klassiker

  • Kriminalroman
  • Moderne

Worum es geht

Terrorismus damals und heute

Eine internationale Sicherheitskonferenz soll abgehalten werden. Im Ausland macht man sich Sorgen, denn die englische Gesetzgebung erscheint viel zu liberal. Was also tun? Ganz einfach: Man beauftragt einen Agenten damit, ein Bombenattentat in London durchzuführen. Sobald die Stadt unter Schock steht, werden auch die Briten ihre Gesetze verschärfen, so das Kalkül. Was wie die neueste Intrige aus dem Kampf gegen den Terrorismus des 21. Jahrhunderts klingt, ist tatsächlich die Handlung von Joseph Conrads Roman Der Geheimagent, der vor 100 Jahren verfasst wurde. Nicht nur erfand der polnisch-englische Autor mit diesem Buch das später so erfolgreiche Genre des Agententhrillers, seine Weltsicht erwies sich auch als geradezu visionär. Noch heute ist die genaue psychologische Zeichnung der Romanfiguren beeindruckend und aufschlussreich. Dass Conrads Schreibstil mit dem Abstand von 100 Jahren etwas gemächlich erscheint, mindert das Lesevergnügen kaum.

Take-aways

  • Joseph Conrads Der Geheimagent gilt als erster Agententhriller überhaupt.
  • Der Roman beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Terrorismus und ist auch 100 Jahre nach seiner Entstehung noch verblüffend aktuell.
  • Inhalt: Der Geheimagent Adolf Verloc wird von einer ausländischen Regierung beauftragt, ein Bombenattentat auf die Sternwarte in Greenwich auszuüben. Er lässt den Anschlag von seinem geistig behinderten Schwager Stevie ausführen, der die Bombe versehentlich zu früh zündet und ums Leben kommt. Verlocs Frau Winnie ist außer sich über den Tod ihres Bruders und ersticht ihren Mann. Anschließend begeht sie Selbstmord.
  • Joseph Conrad erzählt die Geschichte aus mehreren unterschiedlichen Perspektiven, die sich zu einem düsteren Gesellschaftsporträt zusammensetzen.
  • Der Roman beschäftigt sich z. T. mit radikalen anarchistischen Theorien, das Verbrechen selbst wird jedoch von einem naiven Kindskopf begangen.
  • Es geht nicht um die Schuld eines Einzelnen, sondern um eine schuldige Gesellschaft.
  • Conrad würzt das ernste Thema mit makabrem Humor.
  • Seine Zeitgenossen empfanden das Buch als zu düster. Zu Lebzeiten des Autors wurden nur wenige Exemplare verkauft.
  • Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist Der Geheimagent oft als Buch zitiert worden, das die Funktionsweise des Terrorismus erklären könne.
  • Zitat: „Wenn ein Bombenanschlag heute die öffentliche Meinung beeinflussen soll, so muss es sich dabei um mehr als einen Rache- oder Terrorakt, es muss sich um reine Zerstörung handeln.“

Zusammenfassung

Der verschlafene Geheimagent

Im düsteren Londoner Stadtteil Soho besitzt Adolf Verloc einen kleinen Laden, in dem schmuddelige Bücher und Fotografien verkauft werden. Gewöhnlich lässt er das Geschäft unter der Aufsicht seiner Frau Winnie. Er selbst vertrödelt den Vormittag im Bett, frühstückt ausgiebig, verlässt dann das Haus und kommt erst spät wieder heim. Am Abend empfängt er oftmals Gäste, die ohne viele Worte an Winnie vorbei ins Hinterzimmer verschwinden. Verloc erklärt seiner Frau, dass seine Arbeit etwas mit Politik zu tun habe. Als loyale und fleißige Gattin fragt sie nicht weiter nach; sie ist froh, dass er ihren Bruder Stevie und ihre Mutter bei sich aufgenommen hat. Stevie ist ein hochsensibler, geistig behinderter junger Mann. In seiner Kindheit hat der blonde Knabe oft Prügel vom Vater bezogen, Winnie hat sich damals jeweils vor ihn stellen müssen.

„Seine Tätigkeit sei, so hatte er Winnie einmal mitgeteilt, in gewisser Weise mit Politik verquickt, und sie werde seinen politischen Freunden mit großer Liebenswürdigkeit zu begegnen haben.“ (über Verloc, S. 22)

Verloc hat einen Termin in der Gesandtschaft eines ausländischen Staates. Er arbeitet seit einiger Zeit als Geheimagent für diese Auslandsvertretung und hat nun das Pech, einen neuen Vorgesetzten zu bekommen: Wladimir. Die Gesandtschaft ist der Meinung, dass die Gerichte und die Polizei Londons sich gegenüber den anarchistischen Umtrieben in der Stadt zu nachlässig verhalten. Wladimir berichtet von einem internationalen Kongress, der in Mailand stattfinden soll und auf dem Maßnahmen zur Verhinderung politischer Verbrechen besprochen werden sollen. Damit die liberalen Engländer die Entschlusskraft dieser Konferenz nicht bremsen, soll Verloc im Land für Aufruhr sorgen. Wladimir stellt ihn vor die Wahl: Entweder er inszeniert innerhalb eines Monats einen Sprengstoffanschlag auf die Sternwarte von Greenwich oder er wird von der Gehaltsliste gestrichen.

Anarchistische Debatten

Verloc hat bei sich im Kaminzimmer eine Gruppe von anarchistischen Verschwörern zu Gast. Der dicke Michaelis ist gerade vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Karl Yundt ist ein alternder, zorniger Terrorist. Der Genosse Alexander Ossipon ist etwas schöngeistiger veranlagt als der Rest und verfasst für gewöhnlich die Flugblätter der Gruppe. In der Diskussion behauptet Michaelis, die gesellschaftliche Entwicklung werde allein von der Wirtschaft bestimmt. Karl Yundt gibt ihm Recht: Alle Gesetze seien überhaupt nur dafür da, die Reichen und ihren Besitz vor den Armen zu schützen. Ossipon findet alle Theorie überflüssig: Man müsse das Volk auf der Gefühlsebene ansprechen, um es zur Aktion zu bewegen. Nachdem die Anarchisten gegangen sind, ist Verloc unzufrieden. Er weiß, dass die Gruppe trotz der vielen Worte viel zu bequem für einen tatsächlichen Anschlag ist. Einzig der debile Stevie, der die aggressive Diskussion miterlebt hat, ist aufgewühlt.

Der Anschlag auf die Sternwarte

In einer Kellerbar trifft sich Ossipon mit einem Mann, der sich „der Professor“ nennt und illegal mit Sprengstoff handelt. Dieser hat keine Angst, je gefasst zu werden, da er einen Zünder am Leib trägt und sich zur Not innerhalb von 20 Sekunden selbst in die Luft sprengen kann. Ossipon berichtet, dass es an diesem Tag einen Sprengstoffanschlag auf die Sternwarte von Greenwich gegeben habe, bei der eine Person ums Leben gekommen sei, offenbar der Attentäter selbst. Da Ossipon befürchtet, er und die anderen Anarchisten könnten wegen des Anschlags Ärger mit der Polizei bekommen, will er vom Professor wissen, ob dieser in letzter Zeit etwas von seinem Sprengstoff verkauft hat. Tatsächlich hat er das – an Verloc. Der Professor erklärt, er habe die Bombe allerdings mit einem Zeitzünder ausgestattet; der Attentäter sei also sehr ungeschickt vorgegangen, wenn er sich selbst getötet habe.

„Die Engländer bremsen. Dieses Land mit seiner sentimentalen Rücksichtnahme auf die Freiheit des Individuums macht sich einfach lächerlich.“ (Wladimir, S. 45)

Zuständig für die Aufklärung des Anschlags ist Polizeiinspektor Heat. Die Arbeit scheint zunächst nicht leicht: Der Körper des Attentäters ist so zerfetzt, dass sich die Leiche nicht identifizieren lässt. Man weiß lediglich, dass es sich um einen schmalen Mann mit blonden Haaren handelte. Übrig geblieben ist zudem ein blauer Samtkragen, den eine Zeugin kurz vor der Explosion am Bahnhof Maze Hill an einem jungen Mann gesehen haben will. Der Täter ist offenbar in Begleitung einer weiteren männlichen Person von einem Landbahnhof angereist, der in der Nähe des Wohnsitzes des Anarchisten Michaelis liegt. Inspektor Heat untersucht den Samtkragen und entdeckt eine Spur: Auf der Innenseite des Stoffs steht die Adresse Verlocs. Heat kennt den Geheimagenten, der zwar nicht direkt für die Londoner Polizei arbeitet, gelegentlich aber schon als Informant ausgeholfen hat.

Audienz beim Innenminister

Inspektor Heats Vorgesetzter ist der Kriminaldirektor – ein Mann mit einer großen Sehnsucht nach Abenteuern, der sich in seinem Beamtenberuf langweilt. Regelmäßig besucht er deshalb den Salon einer älteren Gesellschaftsdame, bei der auch der Anarchist Michaelis ein gern gesehener Gast ist. Michaelis wirkt trotz seines langen Gefängnisaufenthalts und seiner Fettleibigkeit vollkommen unverbittert und jungenhaft, weshalb er im Salon wie ein Heiliger verehrt wird. Da der Kriminaldirektor die Gesellschaftsdame nicht verprellen will, hofft er, der dicke Anarchist habe nichts mit dem Attentat zu tun. Inspektor Heat dagegen möchte Michaelis hinter Gitter bringen, weil dieser bei seiner Freilassung aus dem Gefängnis von der Presse als unschuldiges Justizopfer gefeiert worden ist und so den Polizeiapparat lächerlich gemacht hat.

„Wenn ein Bombenanschlag heute die öffentliche Meinung beeinflussen soll, so muss es sich dabei um mehr als einen Rache- oder Terrorakt, es muss sich um reine Zerstörung handeln.“ (Wladimir, S. 48)

Der Kriminaldirektor spricht beim Innenminister Sir Ethelred vor, um Heat den Fall entziehen zu lassen. Er glaubt, dass der Geheimagent Verloc den Anschlag im Auftrag einer ausländischen Macht begangen hat, und geht davon aus, dass nicht Verloc selbst bei dem Attentat umgekommen ist, sondern dass er jemanden aus dem Ausland hat kommen lassen, der mit dem Zeitzünder der Bombe nicht zurechtkam. Der Kriminaldirektor äußert die Befürchtung, Inspektor Heat verkenne die internationale Dimension der Angelegenheit. Daraufhin bekommt er vom Innenminister den Fall tatsächlich übertragen.

Familienangelegenheiten

Einige Zeit vorher: Winnies Mutter hat sich entschieden, in ein Altenheim zu ziehen. Sie will Verloc nicht länger zur Last fallen, der schließlich schon für Winnie und Stevie aufkommt. Die Familie unternimmt die Fahrt zum Altenheim gemeinsam. Stevie hat großes Mitleid mit dem vom Kutscher geprügelten Gaul, sodass er von der fahrenden Kutsche absteigt. Auf dem Rückweg grübelt er über die Ungerechtigkeit der Welt nach: Das arme Pferd wird vom Kutscher geschlagen, weil dieser ebenfalls ein armer Kerl ist und Geld für seine Kinder verdienen muss. Winnie erklärt ihm, dass er an dem üblen Zustand der Welt nichts ändern kann. Stevie meint, die Polizei müsse sich doch für die Armen einsetzen. Aber auch da wird er von seiner Schwester belehrt: Die Polizei sei lediglich dafür da, die Armen davon abzuhalten, dass sie den Reichen ihr Hab und Gut stehlen.

„Der Terrorist und der Polizist stammen aus dem gleichen Nest. Revolution – Gesetzlichkeit: das sind Gegenzüge im gleichen Spiel (...)“ (der Professor, S. 89)

Abends überlegt der inzwischen trübsinnige Verloc, ob er seiner Frau von seinem Agentendasein erzählen soll. Er entscheidet sich aber doch dagegen und erklärt ihr lediglich, dass er für zehn Tage auf den Kontinent fahren müsse. Die Ehepartner haben sich nicht viel zu sagen, und das Schweigen entfremdet sie zusehends.

Was am Tag des Anschlags geschah

Im Anschluss an seine Reise ist Verloc noch immer nicht in besserer Stimmung. Eines Tages macht er einen Spaziergang und lässt sich dabei auf Wunsch seiner Frau von Stevie begleiten. Die gemeinsamen Gänge werden in den folgenden Tagen zur Routine. Stevie lernt die anarchistischen Freunde Verlocs kennen. Schließlich zieht er zu Michaelis aufs Land – Verloc und seine Frau sind der Meinung, das werde ihm guttun.

„Hauptinspektor Heat hielt den Anarchismus nicht für besonders wichtig (...). Er sah darin mehr eine Art groben Unfugs, dem allerdings der menschliche Milderungsgrund der Trunkenheit fehlt, die doch wenigstens auf Geselligkeit und einen liebenswerten Hang zu kleinen Festlichkeiten hätte schließen lassen.“ (S. 118)

Eines Tages kommt Verloc vor Kälte und Nässe zähneklappernd nach Hause. Die Frage seiner Frau, ob er Stevie besucht habe, verneint er. Verloc hat sein gesamtes Geld von der Bank abgehoben und gibt es Winnie, damit sie es aufbewahrt. Am liebsten möchte er die Stadt sofort verlassen und ins Ausland gehen, nach Frankreich oder Kalifornien, wovon seine Frau allerdings nichts hören will. Am selben Abend bekommt Verloc Besuch vom Kriminaldirektor. Da ihr Ehemann sehr aufgeregt und nervös reagiert, vermutet Winnie, der Fremde könnte mit den Gesandtschaftsleuten zu tun haben, von denen Verloc in letzter Zeit im Schlaf gesprochen hat. Kurz nachdem Verloc und der Kriminaldirektor in einer Droschke davongefahren sind, betritt Inspektor Heat den Laden. Da ihm der Fall entzogen wurde, stellt er nun Nachforschungen auf eigene Faust an. Er zeigt Winnie den blauen Mantelkragen, der am Tatort gefunden wurde. Sie erkennt den Fetzen – er gehört ihrem Bruder Stevie. Da kommt Verloc von seinem Ausflug mit dem Kriminaldirektor zurück und zieht sich mit Heat ins Nebenzimmer zurück. Winnie belauscht die beiden und bekommt entsetzt mit, wie sie sich über das Bombenattentat unterhalten, über Verlocs Doppelleben und über das Verbrechen, das ihr Ehemann den unschuldigen Stevie hat begehen lassen. Und sie hört, dass Stevie bei dem Attentat ums Leben gekommen ist, weil er über eine Baumwurzel gestolpert ist und damit die Explosion frühzeitig ausgelöst hat.

Mord

Im Salon der Gesellschaftsdame trifft der Kriminaldirektor auf den Gesandtschaftsdiplomaten Wladimir, der ihm von Verloc als Drahtzieher des Attentats genannt worden ist. Die beiden Männer verlassen die Veranstaltung und der Direktor droht Wladimir, dass er die Machenschaften ausländischer Agenten nicht länger dulden werde. Er kündigt an, Verlocs Aussagen, die Wladimir mit dem Verbrechen in Verbindung bringen, an die Presse weiterzugeben und so einen möglichst großen Skandal zu provozieren. Eingeschüchtert steigt Wladimir in eine Kutsche.

„,Nicht die Peitsche‘, sagte Stevie heftig, ,das tut weh.‘ ,Nicht die Peitsche‘, wisperte der Kutscher nachdenklich und machte auf der Stelle von ihr Gebrauch.“ (S. 182)

Verloc wollte nicht, das Stevie etwas zustößt. Er hat mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass der Junge über eine Wurzel stolpert. Winnie sitzt starr und schweigend vor ihm auf dem Stuhl. Er versucht ihr zu erklären, dass er nur seine Arbeit getan hat. Vermutlich werde er ins Gefängnis gehen müssen, sie solle sich zusammenreißen und sich in der Zwischenzeit um den Laden kümmern. Während er in langen Monologen seiner Wut auf den Gesandtschaftschef Wladimir Luft macht, kann Winnie nur an Stevie denken. Ein Leben lang hat sie sich für ihn aufgeopfert, ihn vor den Tritten des Vaters geschützt und dann den vergleichsweise wohlhabenden Verloc geheiratet, obwohl es durchaus attraktivere Bewerber gab. In ihren Augen ist Verloc ganz klar der Mörder des Jungen. Sie verabscheut ihren Mann, und weil sie sich jetzt nicht mehr um ihren Bruder kümmern muss, hält sie nichts mehr bei ihm. Sie will das Haus verlassen, wird aber von Verloc zurückgehalten. In diesem Moment legt sich in ihrem Kopf ein Schalter um: Der Mörder ihres Bruders will sie einsperren! Sie nimmt ein Messer und ersticht ihren Mann.

Der feige Genosse

Winnie kommt zu sich. Sie hat Angst vor dem Galgen und will auf keinen Fall in einem anonymen Gefängnishof hingerichtet werden. Lieber will sie sich von einer Brücke stürzen. Auf dem Weg zum Fluss trifft sie den Genossen Ossipon, der schon seit geraumer Zeit ein Auge auf sie geworfen hat. Sie nutzt die Gelegenheit und wirft sich dem Mann in die Arme. Da kommt es zu einem Missverständnis: Er hat in der Zeitung von dem Attentat gelesen und glaubt, dass Verloc selbst, nicht Stevie, dabei umgekommen ist. Da er also vom Tod ihres Mannes spricht, geht Winnie davon aus, dass er sie als Mörderin entlarvt hat. Sie erklärt, sie wolle mit ihm am nächsten Morgen aufs Festland fliehen, und geht in seiner Begleitung zurück zum Laden. Er entdeckt die Leiche und ist schockiert; einen Mord hätte er ihr niemals zugetraut. Er hält sie für wahnsinnig und will nun nicht mehr mit ihr ins Ausland, weil er Angst hat, selbst eines Morgens mit einem Messer in der Brust im Bett zu liegen. Ossipon lässt sich von Winnie die Ersparnisse des Verstorbenen geben und besteigt mit ihr einen Zug zur Küste. Als dieser anfährt, springt er im letzten Moment aus dem Abteil auf den Bahnsteig zurück und lässt Winnie – ohne das Geld – allein.

Das Ende der Schwachen

Ossipon ist zu Besuch beim Professor. Der Bombenbauer macht sich lustig über den dicken Michaelis, der ein Buch geschrieben hat und dafür plädiert, dass die Starken auf der Welt den Schwachen helfen sollen. Der Professor ist vielmehr der Meinung, dass alle Schwachen ausgerottet werden müssten – am besten wäre es gar, wenn es am Ende nur noch ihn selbst gäbe. Die beiden gehen in eine Kneipe. Ossipon holt einen Zeitungsartikel hervor, den er bereits seit zehn Tagen mit sich herumträgt und über den er unentwegt nachgrübelt. Unter der Überschrift „Selbstmord einer Reisenden von Bord eines Kanaldampfers aus“ wird beschrieben, wie Winnie Verloc sich während der Überfahrt zum Festland in ihrer Verzweiflung über die Reling gestürzt hat.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Geheimagent ist ein psychologisches Kriminalpuzzlespiel, das aus zahlreichen Perspektiven wiedergegeben wird. Der Erzähler folgt nicht nur dem titelgebenden Agenten Adolf Verloc, sondern lässt den Leser auch am Innenleben von Verlocs Frau, seinen Gegenspielern bei der Polizei, der anarchistischen Hinterzimmergruppe und selbst noch der Schwiegermutter teilhaben. Nach und nach ergibt sich dadurch ein alle Schichten umfassendes Gesellschaftsporträt, das die Tragödie um Stevies Tod in ihrer ganzen Komplexität nachvollziehbar macht. Der Text enthält lange beschreibende Passagen, in denen das Leben auf den Straßen Londons eingefangen wird. Zudem finden sich ausführliche gesellschaftspolitische Reflexionen, die den Charakter einer jeden Figur im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte erklären. Mitten im Roman kommt es zu einem unkommentierten Zeitsprung: Nachdem die Polizeibeamten wie auch die anarchistische Gruppe das Attentat längst diskutiert und sogar aufgeklärt haben, springt die Geschichte zum Tag der Katastrophe zurück und wird aus der Sicht von Verloc und Winnie erzählt.

Interpretationsansätze

  • Conrad bezieht in seinem Roman keine moralische Stellung. Einen klassischen Bösewicht gibt es ebenso wenig wie einen Helden. Adolf Verloc organisiert den Anschlag und verführt den unschuldigen Stevie zur Tat. Er ist direkt schuldig an dessen Tod. Trotzdem bleibt sein Verhalten nachvollziehbar: Verloc ist gefangen in Alltagszwängen, ein besorgter Familienmensch, der von seinen Geldgebern unter Druck gesetzt wird.
  • Nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft ist schuldig. Die Familie ist zu einer Zweckgemeinschaft verkommen, in der sich der Ehemann seiner Frau gegenüber wie ein Vater verhält und die Schwester für ihren Bruder wie eine Mutter ist. Die Politik setzt sich nicht für das friedliche Miteinander ein, sondern inszeniert tödliche Bombenattentate. Und die anarchistischen Verbrecher schließlich sind zu bequem geworden, um sich selbst noch aktiv für einen Umsturz einzusetzen.
  • Die Stadt London dient als Symbol für diese pessimistische Interpretation des modernen Lebens. An keiner Stelle wird sie als sonnig oder sauber dargestellt, selten werden fröhliche oder gesunde Menschen beschrieben. Stattdessen qualmt und stinkt es in den meist düsteren Straßen.
  • Die staatliche Überwachung ersetzt im Buch die zwischenmenschliche Kommunikation. Die Behörden sind bestens über ihre Bürger informiert: Der Innenminister, der Polizeichef, der einfache Inspektor – alle wissen stets, wer sich wo aufhält und in welcher Verfassung er ist. Die Verlocs dagegen sind dermaßen unfähig zum Gespräch, dass sie einander zu hassen beginnen und es schließlich zum Mord kommt.
  • Trotz der düsteren Stimmung und des tragischen Ausgangs entbehrt der Roman nicht einer gewissen Komik. Conrads schwarzer Humor entfaltet sich gerade dann, wenn die Geschichte auf einem tragischen Höhepunkt steht – etwa wenn die Polizisten in der Pathologie stehen und das kleine Häuflein betrachten, das von Stevie übrig geblieben ist.

Historischer Hintergrund

Ursprünge des Anarchismus

Die politische Idee des Anarchismus begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland, Europa und Amerika zu verbreiten. Basierend vor allem auf den Theorien der beiden politischen Philosophen Pierre-Joseph Proudhon und Mikhail Bakunin sprach sich der Anarchismus gegen jede Form von staatlicher Autorität aus. Alle Menschen sollten ohne Regierung leben. Auch die Arbeit, beispielsweise in den Fabriken, sollte der anarchistischen Idee zufolge selbst organisiert und nicht von einem besser verdienenden Chef geleitet werden. Gebündelt wurde die anarchistische Bewegung in der 1864 von Karl Marx mitgegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation, auch Erste Internationale genannt. Da Marx sich jedoch immer deutlicher dem Staatssozialismus zuwandte, was Anarchisten wie Bakunin ablehnten, kam es 1872 auf einem Kongress in Den Haag zur Spaltung.

Während Marx und die Sozialisten sich später gesellschaftlich etablieren konnten, wurden die Anarchisten immer radikaler und gingen vielfach in den Untergrund. Es entstand die anarchistische Maxime, der zufolge das politische Ideal nicht mehr über Worte, sondern über Taten verbreitet werden sollte, was zu etlichen aufsehenerregenden Anschlägen führte. Der russische Zar Alexander II. wurde 1881 von einer Gruppe von Anarchisten in St. Petersburg ermordet. Der französische Präsident Marie Francois Sadi Carnot fiel 1894 in Lyon einem Attentat zum Opfer. Der Bombenanschlag auf das Königliche Observatorium im Londoner Stadtteil Greenwich, von dem Joseph Conrad sich zu seinem Roman inspirieren ließ, erfolgte im selben Jahr und gilt als der erste Terroranschlag auf der britischen Insel. Gesellschaftliche Relevanz erlangte der Anarchismus noch einmal im Spanischen Bürgerkrieg, wo er sich in den 1930er Jahren regional als politisches System durchsetzen konnte und für kurze Zeit als funktionierende Form des Zusammenlebens galt.

Entstehung

Joseph Conrads Roman basiert auf einem historischen Vorfall: Am 15. Februar 1894 zündete der Franzose Martial Bourdin eine Bombe außerhalb des Königlichen Observatoriums im Londoner Stadtteil Greenwich Park. Der erst 26-jährige Mann kam bei dem Attentat als Einziger ums Leben. Joseph Conrad erschien das Verbrechen vor allem aufgrund seiner Sinnlosigkeit als Tragödie: Nicht einmal die Außenwände der Sternwarte wurden beschädigt; keine noch so abstruse politische Idee wurde der Öffentlichkeit auch nur im Geringsten nähergebracht. Als Conrad seinem Schriftstellerkollegen Ford Madox Ford sein Entsetzen über diesen Vorfall schilderte, gab der Kollege trocken zur Antwort, der Täter sei ohnehin ein halber Idiot gewesen und seine Schwester habe übrigens später wegen der Sache Selbstmord begangen. Damit hatte Conrad bereits das Gerüst seiner Romanhandlung.

Die tatsächlichen Ereignisse des 15. Februar 1894 ähneln stark dem im Roman beschriebenen Attentat. Bourdin verließ früher am Tag sein Zimmer in der Londoner Innenstadt und fuhr mit der Straßenbahn nach Greenwich Park. Dabei wurde er von Zeugen mit einem Paket in der Hand beobachtet. Wie im Roman explodierte die Bombe offenbar durch ein Missgeschick zu früh: Bourdin zog sich schwerste Verletzungen zu und starb eine halbe Stunde später in einem Krankenhaus in der Nähe des Tatorts.

Wirkungsgeschichte

Mit Der Geheimagent erfand Joseph Conrad ein literarisches Genre, das im 20. Jahrhundert große Beliebtheit erlangte: den Agententhriller. Viele Zutaten, die in Conrads Roman Verwendung finden, tauchen auch in späteren Agentengeschichten wieder auf: So gibt es beispielsweise politische Verstrickungen bis auf die höchste Regierungsebene, die mit der Einsamkeit des allein für sich arbeitenden Agenten kombiniert werden. Auch dass eine vom Agenten geliebte Frau in den Fall hineingezogen wird, ist ein Umstand, mit dem sich Spione wie James Bond noch heute herumschlagen müssen. Zu Conrads Lebzeiten hatte Der Geheimagent allerdings nur bescheidenen Erfolg. Die Kritik lobte das Buch, verkauft wurden in den ersten Jahren nach der Publikation aber kaum mehr als 6500 Exemplare. Vielen Zeitgenossen war Conrads Blick auf die menschliche Psyche schlicht zu düster. 1936 verfilmte Alfred Hitchcock den Roman unter dem Titel Sabotage. Oft besprochen wurde das Werk nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Zahlreiche Journalisten sahen in Conrads psychologischer Geschichte einen Erklärungsansatz für die Funktionsweise des modernen Terrorismus. Ein Artikel im englischen Daily Telegraph empfahl seinen Lesern sogar: Wer das Terrornetzwerk al-Qaida verstehen wolle, müsse die Zeitung aus der Hand legen und sich diesem Roman zuwenden, in dem – vergleichbar mit den Ereignissen in New York – die Aktivitäten einer kleinen, staatsfinanzierten Terroristengruppe beschrieben würden.

Über den Autor

Joseph Conrad wird als Józef Teodor Konrad Korzeniowski am 3. Dezember 1857 im polnischen Berdyczew geboren. Zu dieser Zeit ist Polen kein eigenständiger Staat, sondern aufgeteilt unter Russland, Österreich und Preußen. Josephs Vater, der dem Adel angehört, engagiert sich im Kampf gegen die russische Herrschaft; deshalb wird die Familie nach Russland verbannt. Die Mutter stirbt an den gesundheitlichen Folgen der Verbannung. Als auch der Vater 1869 stirbt, kommt Joseph in die Obhut seines Onkels. Dieser ist entsetzt, als der Junge den Wunsch äußert, zur See fahren zu wollen. Er unternimmt alles, um ihn davon abzubringen, muss aber schließlich doch nachgeben. 1874 beginnt Joseph seinen Dienst in der französischen Handelsmarine. Bald lässt er sich in Schmuggelgeschäfte verwickeln und verliert so sein ganzes Geld. Hoch verschuldet unternimmt er einen Selbstmordversuch. Danach entschließt er sich, in die englische Handelsmarine einzutreten und die Offizierslaufbahn einzuschlagen. 1886 erhält er sein Kapitänspatent und die britische Staatsbürgerschaft. 1889 beginnt er seinen ersten Roman, Almayer´s Folly (Almayers Wahn) – bemerkenswerterweise in Englisch, seiner dritten Sprache. Eine Fahrt in den Kongo 1890 wird zu einem traumatischen Erlebnis: Der grausame Umgang der Weißen mit den Einheimischen schockiert Conrad. Außerdem wird seine Gesundheit so schwer angegriffen, dass er vorzeitig nach England zurückkehren muss. Als er, auch wegen anhaltender gesundheitlicher und psychischer Probleme, keine Arbeit mehr findet, beendet er 1894 seinen ersten Roman und veröffentlicht ihn unter dem Namen Joseph Conrad, den er von da an beibehält. Das Werk wird von der Kritik positiv aufgenommen, und Conrad beschließt, sich in Kent niederzulassen und als Schriftsteller zu leben. Viele seiner Texte greifen seine Erlebnisse als Seemann auf. Ein wichtiges Werk ist die Erzählung Heart of Darkness (Herz der Finsternis, 1899), in der er seine Erlebnisse im Kongo verarbeitet. Conrad stirbt am 3. August 1924 an Herzversagen.

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