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Der kurze Sommer der Anarchie

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Der kurze Sommer der Anarchie

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Leben und Tod eines spanischen Volkshelden und der anarchistischen Bewegung.


Literatur­klassiker

  • Dokumentarliteratur
  • Moderne

Worum es geht

Geschichte als Roman

Historiker und Romanautoren unterscheiden sich oft nicht sehr in ihrem Vorgehen: Sie sichten Informationen und Quellen zu einem Thema, wählen aus und grenzen ein, sie sprechen mit Zeitzeugen, sofern möglich, und kondensieren ihr Material zu einer stimmigen Erzählung. Hans Magnus Enzensberger verzichtet allerdings auf den letzten Schliff und lässt das Material, so scheint es zumindest, für sich sprechen. Natürlich hat auch hier eine Auswahl stattgefunden, und indem er einige Quellen frei nacherzählt und das Werk in acht Glossen kommentiert, ist auch sein Ergebnis alles andere als unparteiisch. Doch einen Anspruch auf Objektivität oder gar Wissenschaftlichkeit erhebt er auch gar nicht: Eine Lebensgeschichte, so abenteuerlich wie die von Buenaventura Durruti, könne eben nicht mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft eingefangen werden. Sie brauche die Freiheit des Romans. So tritt aus einem Konvolut aus Reportagen, Tagebucheinträgen, Interviews und Reden die historische Figur des Buenaventura Durruti hervor – proletarischer Held, Anarchist und Lichtgestalt der spanischen Revolution.

Take-aways

  • Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie ist eine literarische Biografie des spanischen Volkshelden Buenaventura Durruti.
  • Inhalt: Der Metallarbeiter Durruti steigt in den 1920er-Jahren zu einer der zentralen Figuren des spanischen Anarchismus auf, führt den Widerstand gegen den Faschisten Franco an und stirbt unter ungeklärten Umständen im Bürgerkrieg 1936.
  • Der Anarchismus fand in Spanien ab 1870 viele Anhänger und war einflussreicher als Kommunismus oder Sozialismus.
  • Der kurze Sommer der Anarchie erklärt, warum die Revolution von 1936 scheiterte.
  • Das Werk vereint Elemente der Dokumentation mit solchen des Romans.
  • Enzensberger verarbeitete Material, das er bei der Recherche für einen Film über Durruti gesammelt hatte, und setzte die Quellen zu einer Collage zusammen.
  • Daraus ergibt sich kein stimmiges Gesamtbild: Mitunter stehen Aussagen in Widerspruch zueinander.
  • In acht Glossen ordnet der Autor die Quellen ein und stellt sie in einen größeren Zusammenhang.
  • Enzensberger schrieb später weitere literarische Biografien wie Requiem für eine romantische Frau und Hammerstein.
  • Zitat: „Wer die Gewissheit liebt, den kann die Geschichte des spanischen Anarchismus leicht zur Verzweiflung bringen. Wo er Tatsachen sucht, werden ihm Versionen entgegentreten.“

Zusammenfassung

Rückblick auf ein rebellisches Leben

Ganz Barcelona war auf den Beinen, als der Anarchist Buenaventura Durruti beerdigt wurde. Das ist 35 Jahre her, doch niemand hat es auf sich genommen, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie würde zu sehr einem Abenteuerroman gleichen. Die Quellen widersprechen sich, und Zeitzeugen haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Erinnerungen zu vielfach wiederholten Erzählungen glatt geschliffen. Deswegen bleibt nur, Durrutis Leben als Collage der Zeugnisse seines außergewöhnlichen Lebens zu präsentieren.

„(…) sie wehren sich verzweifelt gegen ein System, das ihnen unmenschlich scheint, und gegen die Entfremdung, die es mit sich bringt. Sie hassen den Kapitalismus mit einem Hass, dessen ihre Genossen in Westeuropa nicht mehr fähig sind.“ (über die spanischen Anarchisten, S. 37)

Durruti wird 1896 in einem Arbeiterviertel von León geboren. Er ist ein guter Schüler, liest viel und macht eine Ausbildung zum Mechaniker. Schon als Kind fragt er, warum einige so viel und andere so wenig besitzen. Seine Freunde bringen ihm den Anarchismus näher. Im spanischen Generalstreik von 1917 schließt er sich militanten Gruppen an. Da ihm die Verhaftung droht, flieht er nach Paris, wo er drei Jahre als Mechaniker arbeitet. Die anarchistische Bewegung in Spanien nimmt derweil Fahrt auf. Bei seiner Rückkehr schließt sich Durruti ihr an. Er bleibt im Norden des Landes umtriebig und immer in Bewegung, um nicht festgenommen zu werden.

Der spanische Anarchismus

Die Idee des Anarchismus Bakuninʼscher Prägung wird 1868 von dem Italiener Guiseppe Fanelli nach Spanien gebracht, wo sie begeistert aufgenommen wird und sich rasant ausbreitet. Bis 1936 sind die Anarchisten in der spanischen Arbeiterbewegung die stärkste Kraft. Über die Gründe, warum diese Lehre in Spanien auf so fruchtbaren Boden fällt, während überall sonst in Europa Sozialismus und Marxismus Blüten treiben, ist viel gerätselt worden. Die Kombination des riesigen, bitterarmen Landproletariats im Norden und des wachsenden, gut organisierten Industrieproletariats in Barcelona mag eine Erklärung sein.

„Durruti hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Er war riesig, athletisch gebaut, mit einem mächtigen Kopf, eine Art Danton. Seine Stimme war gewaltig. Freilich, wenn er wollte, konnte er auch gutmütig sein, ja fast zärtlich.“ (Federica Montseny, S. 76)

1910 wird der anarchistische Gewerkschaftsbund CNT gegründet, der vollständig selbstorganisiert ist, ohne Bürokratie auskommt und der noch 1936 nur einen einzigen bezahlten Funktionär besitzt. Die CNT will den Staat abschaffen und setzt bei der Umsetzung ihrer Ziele auf Streik und Guerillataktik. Kleine konspirative Gruppen, die 1927 in der Iberischen Anarchistischen Föderation (FAI) organisiert werden, übernehmen den militanten, illegalen Teil der Aktionen. Der spanische Anarchismus will nicht, wie andere Arbeiterbewegungen, einen anderen Kapitalismus, der die Arbeiter beteiligt, sondern wendet sich gegen den Kapitalismus als solchen und zweifelt an der Idee des wirtschaftlichen Fortschritts.

Exil in Paris und anderswo

Durruti und seine besten Freunde Francisco Ascaso, Gregorio Jover und García Oliver sind Teil einer solchen bewaffneten Gruppe, der Solidarios, die von 1923 bis 1926 besteht. Sie beschaffen mit Überfällen Geld und Waffen und kämpfen gegen die bewaffneten Söldnertrupps der Unternehmer, die viele politisch aktive Arbeiter ermorden. Die Freunde landen Dutzende Male im Gefängnis.

„Wer auf die Eroberung der Macht verzichtet, schanzt sie denen zu, die sie immer gehabt haben, nämlich den Ausbeutern.“ (Leo Trotzki, S. 139)

Die sozialdemokratische Partei UGT nimmt von ihrer Gründung 1879 an eine gemäßigte Haltung ein und will mit der herrschenden Klasse zusammenarbeiten. Doch davon ist sie noch lange Zeit weit entfernt: 1923 folgt auf die Niederlage der Armee in Marokko die Diktatur Primo de Riveras, die bis zur Wirtschaftskrise 1929 Bestand hat. Durruti und seine Mitstreiter gehen ins Exil nach Paris, wo sie den Internationalen Anarchistischen Verlag gründen. Weil ihnen für einen Banküberfall Gefängnis droht, setzen sie sich vorübergehend nach Lateinamerika ab.

„Wir nehmen die Gewehre auf, warten. (…) Wie intensiv alles rings um mich her existiert! Krieg ohne Gefangene. Wenn man in die Hände der andern fällt, wird man erschossen.“ (Simone Weil, S. 159)

Zurück in Paris, planen sie ein Attentat auf den spanischen König, werden aber verraten, vor Gericht gestellt und verurteilt. Sie treten in den Hungerstreik. Die Bevölkerung fordert ihre Freilassung, während lateinamerikanische Botschafter sich für die Auslieferung der Männer einsetzen, die auch in ihren Ländern gesucht werden. 1927 kommen Durruti, Ascaso und Jover frei. Durruti trifft seine Lebensgefährtin Emilienne Morin in Paris und verbringt die folgenden Jahre im Untergrund in Lyon, Berlin und Brüssel.

Die Republik

1931 wird Spanien zur Republik, regiert von den bürgerlichen Parteien. Am Alltag der Menschen ändert sich wenig. Durruti kehrt nach Spanien zurück. 100 000 Menschen folgen dem Aufruf der Anarchisten zu einer Kundgebung. Durruti wird nach einem öffentlichen Auftritt festgenommen, kommt aber nach drei Tagen wieder frei. Im Januar 1932 beginnen Bergarbeiter in Katalonien einen bewaffneten Aufstand und rufen in den umliegenden Städten den Kommunismus aus. Nach fünf Tagen unterliegen sie der Armee. Im Februar folgt in Barcelona ein erneuter Generalstreik, in dessen Verlauf Durruti und Ascaso verhaftet und deportiert werden. Sie lösen jedoch auf dem Dampfer, der sie in die Verbannung bringen soll, eine Meuterei aus und sind wenige Tage später zurück in Barcelona. Durruti findet keine Arbeit, sodass Emilienne den Unterhalt für die Familie verdienen muss. Durruti kümmert sich derweil um ihre gemeinsame Tochter.

„Wir haben seit jeher in Hütten und Löchern gewohnt. Wir werden uns auch noch eine Zeit lang darin einzurichten wissen. Aber vergessen Sie nicht, dass wir auch bauen können. Wir sind es nämlich, die all diese Paläste und Städte gebaut haben (…).“ (Durruti, S. 173)

Bei den Wahlen 1933 sorgen die Anarchisten mit einer großen Wahlboykott-Kampagne dafür, dass in den meisten Provinzen etwa 40 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme verweigern. Infolgedessen kommt die rechte CEDA an die Macht, und die Lage verschärft sich. Die Sozialdemokraten rufen nun ebenfalls zur bewaffneten Revolution auf. Es folgt der Asturische Aufstand, der unter der Führung von General Franco blutig niedergeschlagen wird. Rund 30 000 Menschen werden verhaftet und eingesperrt, darunter auch Durruti. Die Linke schließt sich zu einem Aktionsbündnis zusammen, um bei der Wahl im März 1936 den Sozialdemokraten zum Sieg zu verhelfen, die im Gegenzug den Gefangenen Amnestie versprechen.

Die Revolution

1936 gewinnt ein breites Bündnis aus bürgerlichen Parteien, Sozialdemokraten und Kommunisten die Wahl. Die Regierung übernehmen die Sozialdemokraten unter Lluís Companys i Jover. Die Anarchisten fordern ein entschlossenes Vorgehen gegen den Kapitalismus und weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Mehr noch: In Erwartung eines faschistischen Staatsstreichs rüsten sie weiter auf und bereiten sich auf einen Bürgerkrieg vor. Mitte Juli ist es so weit: In Barcelona kommt es zu Straßenkämpfen zwischen Teilen der Armee, die sich den putschenden Faschisten angeschlossen haben, und Anarchisten. Beim Kampf um die Atarazanas-Kaserne wird Ascaso tödlich getroffen. CNT und FAI tragen den Sieg davon, und Barcelona wird von einer Welle des Terrors überschwemmt. Viele nutzen die Gelegenheit, um offene Rechnungen zu begleichen. 25 000 Menschen sterben.

„Wir sehen, wie sich Formen des Zwanges entwickeln und Fälle von Unmenschlichkeit ereignen, die dem menschlichen und freiheitlichen Ideal der Anarchisten direkt entgegengesetzt sind. Die Notwendigkeiten des Bürgerkrieges und seine Atmosphäre gewinnen die Oberhand über die Wünsche, zu deren Verwirklichung der Bürgerkrieg begonnen worden ist.“ (Simone Weil, S. 186)

Die Macht ist den Anarchisten in die Hände gefallen, die sie eigentlich gar nicht wollen. Ihre Optionen bestehen nun darin, selbst eine Diktatur zu errichten oder mit der gewählten Regierung zusammenzuarbeiten. Companys i Jover überlässt Durruti und seinen Mitstreitern die Entscheidung. Die beschließen die Zusammenarbeit mit den Parteien und anderen Kräften im Land: Es wird ein Ausschuss gegründet, aus dem später das Zentralkomitee der anarchistischen Milizen hervorgehen wird. Die Frage nach dem Umgang mit der neuen Macht und nach Schritten in Richtung eines freiheitlichen Kommunismus wird nicht beantwortet, und das Zentralkomitee wird zum Verwaltungsorgan, das die Aufgaben der alten Regierung übernimmt.

Der Bürgerkrieg

Eine dringliche Aufgabe ist nun die Aragón-Front, an der weiterhin gegen die Faschisten gekämpft wird. Im Juli machen sich Milizen von Barcelona aus auf in Richtung Zaragoza, unter ihnen auch Durruti. Die Anarchisten sind voller Enthusiasmus, aber es mangelt ihnen an Munition, zudem sind sie schlecht ausgebildet und haben keine Strategie. Auch ohne militärische Disziplin geben sich die Milizen strenge Regeln – Raub, Beschlagnahmung von Eigentum, Vergewaltigung werden hart bestraft, Deserteure erschossen. Dennoch kommt es zu Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung, Priester und Gutsbesitzer werden verfolgt und hingerichtet. In den Dörfern, durch die die Milizen ziehen, werden die Gefängnisse geöffnet und die Grundbücher verbrannt.

Kompromisse

In Barcelona gehen die Umwälzungen weiter: Fabriken und Klöster werden enteignet, Hafenanlagen, Verkehrsbetriebe und Schulen von Gewerkschaften und Räten übernommen. Während an manchen Orten die Produktion wie früher weiterläuft, entsteht an anderen Chaos. Unterdessen gehen Durruti und den anderen Truppen an der Front Munition und Waffen aus. Durruti ruft eine zukünftige Provinzregierung aus, deren Präsident Joaquín Ascaso werden soll. Die anderen Parteien werfen ihm daraufhin vor, eine anarchistische Diktatur errichten zu wollen.

„Vor seiner Abreise nach Madrid sagte Durruti zu seinen Männern: ‚Die Lage in Madrid ist bedrückend, fast aussichtslos. Gehen wir also hin, lassen wir uns umbringen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in Madrid zu sterben.‘“ (Ramón García López, S. 245)

Die CNT-FAI steht im Bürgerkrieg zwischen allen Fronten: Sie führt Krieg gegen die Faschisten und damit gegen große Teile der ursprünglichen Armee, gegen Truppen also, die erfahrener, besser ausgebildet und strategisch überlegen sind. Zugleich muss sie sich mit den bürgerlichen Parteien arrangieren, die eigentlich nur gegen die Faschisten kämpfen, weil sie den Status quo erhalten wollen.

„Wer die Gewissheit liebt, den kann die Geschichte des spanischen Anarchismus leicht zur Verzweiflung bringen. Wo er Tatsachen sucht, werden ihm Versionen entgegentreten.“ (S. 257)

Das Ziel der Anarchisten, den Staat abzuschaffen und eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten, rückt mit jedem Kompromiss weiter weg. Während sie mit ihrer einfachen Botschaft, der schlagfertigen dezentralen Organisation und dem Versprechen der unmittelbaren Umsetzung ihre Anhänger beflügeln, führen dieselben Prinzipien die Anführer in immer neue Zwickmühlen: Soll man die freiwilligen Milizionäre zur Disziplin zwingen? Wie ist mit der neuen Macht umzugehen? Wie will man sich landesweit organisieren? Wie soll man mit Bündnispartnern umgehen? Über all diesen Entscheidungen schwebt das Negativbeispiel der russischen Revolution, die in Unterdrückung endete.

Tod eines Volkshelden

Die Offensive in Zaragoza bleibt erfolglos und nun bedrohen faschistische Truppen Madrid. Durruti und seine Leute beschließen, die Stadt zu verteidigen. Sie machen sich mit mehreren Tausend Mann auf den Weg. Viele ahnen, dass sie in den Tod ziehen. Die Regierung flieht am 6. November, und Durruti trifft am 13. November mit seiner Kolonne ein. Er ruft die Massen zur Einheit auf. In den kommenden Tagen fallen 60 Prozent seiner Männer, darunter viele Mitglieder seines Stabs.

„Die meisten bilden sich ein, sie bräuchten nur nach Spanien zurückzukehren, wenn es so weit ist, und da wieder anzufangen, wo sie 1936 aufgehört haben. Aber was vorbei ist, ist vorbei. Man macht nicht zweimal dieselbe Revolution.“ (Emilienne Morin, S. 293)

Durruti erleidet einen Brustschuss und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Während einige Zeugen über die Umstände Stillschweigen schwören, sind schon kurz nach seinem Tod Gerüchte in Umlauf. Ist er in einen Hinterhalt der Faschisten geraten und von einem Scharfschützen getroffen worden? Rückstände auf seinem Hemd widersprechen dieser These. Wurde er von den eigenen Leuten erschossen? Gab es ein Attentat? Auch dagegen spricht einiges. Schließlich wird eine weitere Erklärung vorgebracht: Durruti sei beim Aussteigen aus dem Auto mit seinem Gewehr hängen geblieben und habe sich selbst erschossen. Diese Erklärung, die zu den Indizien passt, hätte den anarchistischen Helden der Lächerlichkeit preisgegeben und seinem Tod etwas Ironisches verliehen. Umso nachvollziehbarer wäre es, wenn diese Erklärung mit allen Mitteln unterdrückt worden wäre. Die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt.

Durrutis Tod wird vom ganzen Land betrauert. Seine Leiche wird nach Barcelona gebracht, wo ihm Hunderttausende das letzte Geleit geben.

Das Ende

Auch nach der Revolution bleibt Spanien eine bürgerliche Republik, in der die Anarchisten ab 1936 eine starke oppositionelle Kraft darstellen. Es kommt zu einer Art Doppelherrschaft, die im Herbst des Jahres ein Ende nimmt, als die CNT-FAI nach immer mehr Zugeständnissen das Zentralkomitee aufgibt und offiziell Teil der Regierung wird, in der sie fortan eine untergeordnete Rolle spielt. Die Regierung fordert Anfang 1937 die Entwaffnung der Arbeiter von Barcelona und löst damit einen letzten großen Aufstand aus. Anfang Mai kommt es zum Generalstreik und zu offenen Straßenkämpfen in Barcelona, die mehr als 500 Opfer fordern. Wenig später wird die FAI verboten. Im August wird als letztes anarchistisches Organ der Verteidigungsrat von Aragón aufgelöst. Die Faschisten unter Franco gewinnen den Bürgerkrieg. 1939 gibt die Regierung auf und die spanische Republik findet ihr Ende.

Zum Text

Aufbau und Stil

Auf rund 300 Seiten entfaltet Hans Magnus Enzensberger ein facettenreiches Bild des Lebens von Buenaventura Durruti. Zusammengesetzt unter anderem aus Artikeln, Flugblättern, Briefen, Zeitungsnotizen und Interviewausschnitten, die Enzensberger teils wörtlich zitiert, teils paraphrasiert und teils frei nacherzählt, zeichnet die Materialsammlung ein mitunter widersprüchliches Bild. Besonders wenn es um die mutmaßlichen Taten der Anarchisten und um Durrutis Tod geht, stehen mehrere Versionen nebeneinander. Acht Glossen unterbrechen die Collage und unterfüttern sie mit zusätzlichen Informationen. Darin geht Enzensberger unter anderem auf die Geschichte des spanischen Anarchismus ein und stellt sein Material in einen größeren Zusammenhang. In den Glossen lässt er keinen Zweifel an seiner Sympathie für die anarchistische Lehre. Auffällig ist, angesichts der Verschiedenheit des Materials, der relativ homogene Stil mit seiner Neigung zu kurzen, klaren Sätzen.

Interpretationsansätze

  • Der kurze Sommer der Anarchie ist eine Mischung aus Roman und Dokumentation. Die historischen Quellen machen das Werk objektiv nachprüfbar, während die literarischen Freiheiten, die die Romanform zugesteht, eine fiktionale Zuspitzung der Biografie erlauben.
  • Enzensberger zeigt die Parteilichkeit von Geschichtsschreibung. Indem er dem Anspruch auf historische Korrektheit entsagt, wirft er die Frage auf, wo genau der Unterschied zwischen seinem Projekt und dem des Historikers liegt. Dies ist auch im Zusammenhang mit der These zu sehen, dass Geschichtsschreibung allzu oft die Geschichte der Sieger erzählt.
  • Das Werk hat eine starke politische Dimension: Der proletarische Held Buenaventura Durruti und die spanischen Anarchisten waren aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis Europas verschwunden. Indem Enzensberger ihnen und ihren Forderungen eine Bühne gab, brachte er die Ideen des Anarchismus wieder ins Bewusstsein. Deren Scheitern spiegelt die unerfüllten Utopien der 1968er.
  • Die Widersprüche zwischen den Zielen der Anarchisten und den Anforderungen der Realität, denen sie sich ausgesetzt sehen, werden nicht aufgelöst, sondern finden ihre Entsprechung in den mitunter unvereinbaren Aussagen der Quellen. Das ist gewollt: „Gerade auf den Fugen des Bildes ist zu beharren“, schreibt Enzensberger, „Vielleicht steckt in ihnen die Wahrheit, um derentwillen (…) erzählt wird.“
  • Eine Geschichte des spanischen Anarchismus zu schreiben, erweist sich als beinah unmöglich. Die Anarchisten operierten bis 1936 sehr konspirativ und führten nicht Buch über ihre Aktionen. Sie waren dezentral organisiert, ihre Veröffentlichungen dienten der Mobilisierung, nicht der Information, und auch Jahrzehnte später zogen es viele Zeitzeugen, vor zu schweigen.
  • Durruti bleibt konturlos, wie Enzensberger selbst festhält. Sein Leben wurde zur Legende, die eigenen Regeln gehorcht und die sich nicht in Schulbüchern findet. Und wie es sich für einen richtigen Helden gehört, ist sein Tod bis heute ein Rätsel.

Historischer Hintergrund

Spanien zwischen Monarchie, Republik und Diktatur

1868 kam es in Spanien zur Revolution gegen die Monarchie, als deren Ergebnis Königin Isabella II. abgesetzt wurde. Doch die nun ausgerufene Erste Republik war nicht von langer Dauer: Bereits 1874 wurde die Monarchie wiederhergestellt, und Alfons XII., Isabellas Sohn, bestieg den Thron. 1898 wurden Spaniens Kolonialgebiete durch den Krieg gegen die USA stark dezimiert. Im Frieden von Paris trat Spanien unter anderem Puerto Rico und die Philippinen an die USA ab. Alfons XIII., der ab 1902 auf dem spanischen Thron saß, erklärte das Land im Ersten Weltkrieg für neutral.

Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte weiterhin Unruhe im Land, das in zwei Klassen gespalten war: Die noch immer feudal denkende Oberschicht stand einer breiten Arbeiterschaft gegenüber, die sich zunehmend radikalisierte. Eine gemäßigte Mittelschicht fehlte beinah völlig. 1923 riss Miguel Primo de Rivera, in Absprache mit dem König, mit einem Militärputsch die Macht an sich und hob die Verfassung auf. Seine Militärdiktatur währte sechs Jahre, dann scheiterte sie und mit ihr die Monarchie. In landesweiten Wahlen setzten sich die republikanischen Kräfte durch. Mit der Ausrufung der Zweiten Republik wurde eine demokratische Grundordnung eingeführt. Die Spannungen zwischen den Klassen blieben bestehen und verschärften sich.

1936 wurde durch eine Militärrevolte in Spanisch-Marokko unter General Francisco Franco der Bürgerkrieg ausgelöst. Italien und Deutschland unterstützten Franco; Frankreich und Russland die Volksfrontregierung unter Francisco Largo Caballero in Madrid. Franco setzte sich schließlich durch und wurde zum Staatschef proklamiert. Erst 1939 erkannten ihn auch Frankreich und England an, und der Bürgerkrieg fand mit dem Einzug von Francos Truppen in Madrid ein Ende. Spanien erklärte sich auch im Zweiten Weltkrieg als neutral. Die Diktatur Francos währte bis 1975.

Entstehung

Im Frühjahr 1972 drehte Hans Magnus Enzensberger für den Westdeutschen Rundfunk eine Dokumentation über Buenaventura Durruti. Darin kommen Zeitzeugen zu Wort. Abschriften dieser Interviews bildeten eine wichtige Grundlage für den dokumentarischen Roman Der kurze Sommer der Anarchie. Neben den Interviewpartnern erwies sich das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam als reicher Fundus für schriftliche Quellen aus dieser Zeit. Auch die Zusammenarbeit mit Abel Paz, der etwa zeitgleich eine wissenschaftliche Biografie über Durruti verfasste, schlug sich in Enzensbergers Werk nieder.

Enzensberger übersetzte viele Quellen selbst, einige von ihnen wörtlich, andere sinngemäß. Mitunter erzählte er den Inhalt auch frei nach. Im Mittelpunkt seines Projekts stand nicht die historische Korrektheit, die er in diesem Fall ohnehin für unerreichbar hielt, sondern der Versuch, ein möglichst umfassendes, facettenreiches Bild jener Epoche der spanischen Geschichte zu zeichnen. Von seinen Treffen mit überlebenden Zeitzeugen berichtet er im letzten Teil des Werks. Es sind stille Helden, die ihre Überzeugungen bewahrt haben. Ihre Stimmen sind es vor allem, die dem Werk einen ganz eigenen Ton geben.

Wirkungsgeschichte

Der Film Durruti – Biographie einer Legende wurde 1972 zum ersten Mal ausgestrahlt. In gut einer Stunde breiteten Enzensberger und sein Team in Originalaufnahmen und Interviewmitschnitten das Leben des legendären Anarchisten aus. Aus dem gesammelten Material erarbeitete der Autor dann den dokumentarischen Roman Der kurze Sommer der Anarchie, der 1977 erschien. Durrutis Leben und Wirken wurde danach in weiteren Dokumentarfilmen thematisiert.

Der kurze Sommer der Anarchie wird oft als Enzensbergers erster, teils sogar als sein einziger Roman benannt, wobei die klare Zuordnung zu dieser Gattung schwerfällt. Der fließende Übergang zwischen fiktionaler Erzählung und Biografie blieb auch für weitere seiner Prosawerke prägend, zum Beispiel Requiem für eine romantische Frau (1995) und Hammerstein (2008).

Welcher Schluss aus Enzensbergers Werk zu ziehen sei, in dieser Frage gingen und gehen die Meinungen der Kritiker auseinander. Für die einen ist es die hoffnungsvolle Geschichte der wahr gewordenen Utopie, die an den Gegebenheiten scheiterte, für andere der traurige Abgesang auf einen schönen Traum, der in der Wirklichkeit keinen Platz hatte.

Über den Autor

Hans Magnus Enzensberger wird am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und wächst in Nürnberg auf. Sein Vater, der Oberpostdirektor der Stadt, und seine Mutter, eine Erzieherin, haben drei weitere Söhne. Wegen seiner widerspenstigen Art wird Enzensberger aus der Hitlerjugend ausgeschlossen. Nach Kriegsende macht er sein Abitur und hält die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als Stipendiat studiert er Literaturwissenschaft und Philosophie und promoviert 1955 über Clemens Brentanos Poetik. Als Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk arbeitet Enzensberger an Radio-Essays. Sein erster Gedichtband, die verteidigung der wölfe (1957), beweist seine These, dass Lyrik mehr kann, als nur Stimmungen zu vermitteln. 1963 wird er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Der Heinrich-Böll-Preis (1985) und der Ludwig-Börne-Preis (2002) sowie etliche weitere Auszeichnungen folgen. Zwischen 1965 und 1975 ist er Herausgeber der Zeitschrift Kursbuch, die wegweisend für die Studentenbewegung ist. Er unterstützt die außerparlamentarische Opposition APO und stellt sein Haus der Kommune 1 zur Verfügung, bezieht aber selten eindeutig Stellung. Als Peter Weiss ihm dies vorwirft, antwortet er: „Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments.“ 1970 erscheint die Anthologie Freisprüche, die das Verhältnis von Recht und Revolution untersucht. Enzensberger setzt sich für einen emanzipatorischen Umgang mit Medien ein. Zwischen 1985 und 2007 ist er Mitherausgeber der Buchreihe Die andere Bibliothek. 2000 präsentiert er seinen Landsberger Poesieautomaten. Politisch äußert er sich ab den 2000er-Jahren eindeutiger: unter anderem für den Irakkrieg und kritisch in Bezug auf die Europäische Union. Sein Werk, das auch Kinderbücher, Dramen und Hörspiele umfasst, übergibt er 2014 an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach.

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