Der Seewolf

Rettung und Verderben auf einen Schlag

Literaturkritiker Humphrey van Weyden besucht einen Kollegen in Mill Valley im Schatten des Mount Tamalpais. Auf der Rückfahrt mit der Fähre von Sausalito nach San Francisco kommt es im dichten Nebel zur Havarie, die Fähre sinkt und van Weyden treibt hilflos im Meer, bis er schließlich bewusstlos wird. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich an Bord der "Ghost", eines Robbenfangschoners. Matrose Johnson und der schmuddelige Koch Mugridge kümmern sich um ihn, sodass er wieder auf die Beine kommt. Kurze Zeit später lernt der Schiffbrüchige an Deck den Kapitän Wolf Larsen kennen. Schnell wird klar, dass Larsen die Mannschaft durch seine körperliche Überlegenheit auf brutale Art und Weise unterdrückt. Van Weydens Wunsch, umgehend nach San Francisco gebracht zu werden, stößt auf Ablehnung. Der Ästhet gerät somit in ein unfreiwilliges Dienstverhältnis zu Wolf Larsen und muss als Kajütenjunge auf dem Segelschoner arbeiten.

Das Leben an Bord

Van Weyden wird unsanft mit seinen Aufgaben als Kajütenjunge vertraut gemacht. Als er am Abend bei hoher See der Mannschaft das Essen servieren soll, wird er auf dem Zwischendeck von einer großen Welle erfasst, über das Schiff gewirbelt und mit einer üblen Knieverletzung wieder ausgespuckt. Mit schrecklichen Schmerzen endet der erste Tag an Bord der "Ghost" wie ein Albtraum.

„Er mochte an Wuchs fünf Fuß zehn Zoll oder zehneinhalb messen, aber das war nicht mein erster Eindruck oder meine erste Empfindung von dem Mann, sondern der seiner Kraft.“ (über Wolf Larsen, S. 25)

Van Weyden stellt fest, dass ihm aus seinen inzwischen getrockneten Kleidern Geld gestohlen wurde, und meldet dies dem Kapitän. Hieraus entwickelt sich ein erstes Gespräch zwischen den beiden Männern und es wird deutlich, dass Wolf Larsen noch ein anderes, sanfteres Gesicht hat.

Eines Abends wird der junge Matrose Harrison in die Takelung geschickt, um das Vorgaffeltoppsegel in schwindelnder Höhe zu wechseln. Die Aktion ist für Harrison lebensbedrohlich, aber der Kapitän kennt kein Pardon und auch der Rest der Mannschaft schaut tatenlos zu, um sich an der Angst des Mannes zu ergötzen, der es erst nach langer Zeit wagt, wieder herunterzuklettern.

Der Seewolf zeigt seinen Geist

Van Weyden bekommt immer tiefere Einblicke in die Persönlichkeit des Mannes, dem er hilflos ausgeliefert ist. Eines Abends verspielt Mugridge im Suff sein ganzes Geld an den Kapitän. Dieser zählt laut den erspielten Gewinn. Es ist genau der Betrag, der van Weyden aus seinem Rock gestohlen wurde. Larsen denkt aber nicht daran, dem Schiffbrüchigen sein Geld wiederzugeben, sondern nutzt die Gelegenheit, um van Weyden sein Verständnis von Ethik, Moral und Altruismus darzulegen.

„Mit der Zeit lernen Sie vielleicht, auf eigenen Füßen zu stehen und möglicherweise ein bisschen zu laufen.“ (Wolf Larsen zu van Weyden, S. 33)

Van Weyden verbringt drei ruhige Tage, in denen er ausschließlich als Gesprächspartner für Wolf Larsen dient, während Mugridge seine Arbeiten an Bord mit übernehmen muss. Als Weyden aber anfängt, Larsens Seele bloßzulegen, schlägt die Laune des Kapitäns in die gewohnte Rohheit um. Er zerquetscht van Weyden um ein Haar den Oberarm mit bloßer Hand.

„Bis zum heutigen Tag kann ich meiner Männlichkeit nicht gestatten, auf jene Vorfälle zurückzublicken und sich völlig freigesprochen zu fühlen. Die Situation war so, dass sie das Maß rationaler Rezepte wirklich überschritt und mehr erforderte als die leidenschaftslosen Schlüsse der Vernunft.“ (S. 53)

Dennoch wächst die Vertrautheit zwischen Larsen und van Weyden. Beide Männer scheinen fasziniert von ihrer Unterschiedlichkeit. Der Kapitän erzählt von seiner traurigen Kindheit und von seinem dümmlichen und noch brutaleren Bruder Tod Larsen. Der Kapitän ist davon überzeugt, dass er durch das Lesen von Büchern dazu gelangt ist, mehr von der Welt zu wissen, als ihm guttut. Aus heiterem Himmel erleidet er eine Kopfschmerzattacke, die ihn drei Tage lang zu einem völlig hilflosen Menschen werden lässt.

Die "Ghost" wird zum Hexenkessel

Larsen und van Weyden vertiefen ihre Gespräche. Passagen aus der Bibel werden zur Grundlage ihres Gedankenaustauschs über die Unsterblichkeit und die Willkür des Lebens. Aber wieder schlägt die Laune des "Seewolfs" urplötzlich um und er würgt van Weyden bis zur Bewusstlosigkeit - um die Macht des Körpers über den Geist zu demonstrieren.

„Der Mann ist so eigenwillig wie Luft- oder Wasserströmungen. Nie kannst du ahnen, welchen Kurs er nimmt.“ (ein Matrose über Larsen, S. 91)

Kurze Zeit später wird Matrose Johnson vom Kapitän aus nichtigem Anlass fast zu Tode geprügelt. Für Leach, den ehemaligen Kajütenjungen, wird diese brutale Aktion des Kapitäns zu einer Art Initialzündung und er schreit seine ganze Wut gegen Larsen hinaus. Jeder weiß, dass nun bald auch Leach seine Lektion bekommen wird. Vorher reagiert dieser jedoch seine Wut an Mugridge ab und verprügelt den Koch mit der gleichen Brutalität, die er gerade noch angeprangert hat. Selbst van Weyden entdeckt plötzlich die ersten rauen Züge an sich, als er eine Art Schadenfreude empfindet, weil der diebische Mugridge nun endlich eine Strafe für seine Boshaftigkeit erhält. Johnson scheint nach seiner brutalen Züchtigung durch den Kapitän innerlich gebrochen zu sein.

„Ich spreche von dem Lebensinstinkt, der Leben bedeutet und der, wenn der Tod nah und groß sichtbar wird, den so genannten Unsterblichkeitsinstinkt besiegt.“ (Wolf Larsen, S. 114)

In einer der nächsten Nächte geschieht etwas völlig Unerwartetes: Wolf Larsen wird an Deck niedergeschlagen und über Bord geworfen. Doch sein Lebenshunger und seine unglaubliche Kraft lassen ihn diesen Anschlag überstehen und zurück an Bord klettern. Kurz danach kommt es im Dunkel der Kajüte zu einem Kampf und erneut versuchen einige Männer der Besatzung, darunter Johnson und Leach, den Kapitän zu töten. Doch Larsen gelingt es wieder, sich in Sicherheit zu bringen. Van Weyden wird vom Kapitän zum Steuermann ernannt.

Blutrünstige Jagd

Vor der Küste Japans angelangt, beginnt der Robbenfang, bei dem es ausschließlich um die Felle der Tiere geht. Van Weyden bekommt das Kommando an Deck und spürt wie nie zuvor, dass er ein anderer Mensch geworden ist. Einen Tag später, die Boote sind alle zum Robbenfang ausgelaufen, bricht ein heftiger Sturm los. Mit waghalsigen Manövern gelingt es dem Kapitän, den größten Teil seiner Mannschaft aufzusammeln, drei Boote allerdings bleiben im tosenden Meer vermisst. Kurze Zeit später nutzen Johnson und Leach das Ablegen für den Robbenfang zur Flucht. Wolf Larsen beginnt wutentbrannt die Suche nach dem Boot der Flüchtigen und stößt in einem neuen Sturm auf einige Menschen in Seenot. Er nimmt sie alle an Bord, darunter die Dichterin Maud Brewster. Van Weyden ist vom ersten Moment an angetan von der attraktiven und mutigen Frau. Aber er ist auch verzweifelt, weil er weiß, wie sehr sie unter der Boshaftigkeit des Kapitäns leiden wird. Bald macht Wolf Larsen Leach und Johnson ausfindig und treibt sie im Sturm so lange vor sich her, bis die beiden kentern und jämmerlich ertrinken.

Eine Frau verändert das Leben an Bord

Auch die neuen Schiffbrüchigen müssen gegen ihren Willen auf der "Ghost" bleiben und werden zur Arbeit eingeteilt. Wolf Larsen versucht Maud in seinen Bann zu ziehen, stößt aber auf große Gegenwehr, da sie eher dem feinsinnigen Schöngeist van Weyden zugewandt ist. Die Dichterin erkennt in ihm gleich im ersten Gespräch den Kritiker, der auch ihre Werke schon wohlwollend unter die Lupe genommen hat. Zunächst nur verbunden durch ihre intellektuellen Interessen, schließen beide einen unausgesprochenen Pakt, das Leben auf der "Ghost" gemeinsam zu meistern in der Hoffnung auf bessere Zeiten.

„Dieser Körper ist zum Gebrauch geschaffen. Diese Muskeln sind geschaffen, Lebewesen, die sich zwischen mich und das Leben drängen, zu packen, zu zerfleischen, zu zerstören.“ (Wolf Larsen, S. 149)

Das Verhältnis der beiden Männer verändert sich unter dem Einfluss der Frau und sie werden mehr und mehr zu Rivalen. Van Weyden warnt Maud eindringlich, sich nicht mit dem Kapitän anzulegen, und rät ihr, ihren Mut im wahrsten Sinne des Wortes über Bord zu werfen und sich dem Recht des Stärkeren unterzuordnen. Sie ist klug genug, sich an diese Empfehlung zu halten.

„Eins begann ich zu spüren, und zwar, dass ich nie wieder völlig derselbe sein konnte, der ich gewesen war.“ (S. 161)

Van Weyden wird sich immer klarer darüber, dass er in die junge Frau verliebt ist, und vergisst in Tagträumen kurzfristig die schreckliche Situation, in der sie beide sich befinden. Zur gleichen Zeit weckt Maud Brewster ungewollt auch das sexuelle Interesse des Kapitäns Wolf Larsen, der ihr täglich mehr Aufmerksamkeit widmet. Als aber kurze Zeit später die "Macedonia", der Robbenfänger, auf dem Larsens abgebrühter und ihm feindlich gesinnter Bruder Tod Kapitän ist, am Horizont auftaucht, tritt das Werben um die Gunst der Frau kurzfristig in den Hintergrund. Tod Larsen schafft es, seinen Bruder auszutricksen und ihn um seinen wertvollsten Robbenfang zu bringen. Wolf Larsen schwört Rache und lenkt sich mit weiteren philosophischen Gesprächen ab - bis die "Macedonia" plötzlich wieder auftaucht und er einen Plan entwickelt. Durch ein waghalsiges Manöver gelingt es ihm, die Fangboote seines Bruders samt Besatzung zu kapern und anschließend im dichten Nebel zu entkommen.

Die Flucht gelingt

In dieser Nacht kommt es zum Übergriff - Wolf Larsen dringt in die Schlafkabine von Maud Brewster ein. In letzter Minute kommt Humphrey van Weyden dazu, aber noch während er versucht, den "Seewolf" zu überwältigen, sinkt dieser unter einer neuen Kopfschmerzattacke über seinem Opfer zusammen. Van Weyden und Maud beschließen, in einem der offenen Boote zu fliehen. Schon kurze Zeit später stechen sie mit einem Vorrat an Decken und Proviant im Schutz der Dunkelheit in See, um nach Japan zu gelangen.

„Die ganze Szene war fantastisch, und als ich diese fremde Frau betrachtete und mir vergegenwärtigte, wie fehl am Platze sie hier war, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich selbst dazugehörte.“ (S. 201)

Am nächsten Morgen wird beiden klar, in welch schwieriger Lage sie sich befinden: Das Boot ist klein und offen und die Wetterlage völlig unberechenbar. Sie segeln tapfer Tag und Nacht durch das tosende Meer, aber schon bald sind sie mit ihren Kräften am Ende und haben kaum noch Hoffnung, diesen Kampf gegen die Naturgewalten zu überleben. Völlig orientierungslos treibt das Boot im Meer, als plötzlich am Horizont eine Insel auftaucht. Maud und van Weyden nennen das Eiland später die "Mühsalinsel", denn auch hier hat der Kampf ums nackte Überleben noch lange kein Ende. Mühselig versuchen die Gestrandeten, sich das Leben auf der Insel so angenehm wie möglich zu machen. Das Ergebnis sind zwei wetterbeständige Hütten, Proviant für den drohenden Winter und fieberhafte Überlegungen, wie ein baldiges Verlassen der Insel möglich gemacht werden kann. Van Weyden wird ein weiteres Mal deutlich, wie viel er bei allem Leid in den letzten Wochen und Monaten gelernt hat und wie lebenstüchtig er unter der harten Hand seines Widersachers Wolf Larsen geworden ist.

Schrecken am Morgen

Van Weyden wacht eines Morgens mit einem unguten Gefühl auf und glaubt seinen Augen kaum, als er unten am Strand die "Ghost" liegen sieht. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass der Einzige an Bord Kapitän Wolf Larsen ist. Der Rest der Mannschaft ist von der "Macedonia" gekapert worden und arbeitet jetzt auf Tod Larsens Schoner. Als kleines "Abschiedsgeschenk" hat Mugridge seinem verhassten Kapitän die Mastenaufhängungen zerstört, sodass die "Ghost" manövrierunfähig auf der Mühsalinsel gestrandet ist. Larsens gesundheitlicher Zustand scheint sich in der Zwischenzeit weiter verschlechtert zu haben, was ihn aber nicht davon abhält, den beiden Intellektuellen weiterhin nach dem Leben zu trachten. Nach diversen Übergriffen gelingt es Maud und van Weyden, das Ungeheuer für kurze Zeit in Ketten zu legen, aber schon bald fühlen sie sich moralisch verpflichtet, sich um den zunehmend hilflos werdenden Kapitän zu kümmern.

Die Rettung

Van Weyden und Maud Brewster versuchen, das Schiff manövrierfähig zu machen, werden aber in ihrem Tun immer wieder von der böswilligen Zerstörungswut und den körperlichen Attacken Wolf Larsens zurückgeworfen. Bei aller Verzweiflung werden Maud und van Weyden von ihren tiefen Gefühlen genährt und es ist mittlerweile weitaus mehr als die intellektuelle Verbundenheit, die beide zueinandertreibt. Ihre Liebe lässt sie stark genug sein, weiterzuarbeiten, bis tatsächlich eines Tages die Masten auf der "Ghost" wieder ihren gewohnten Platz eingenommen haben. Die Segel können gehisst werden und der Robbenfänger bewegt sich zurück aufs offene Meer. Fast zur gleichen Zeit geht es mit Wolf Larsen auf erbärmliche Weise zu Ende. Mittlerweile völlig erblindet und gelähmt, existiert nur noch sein Geist, während sich sein ehemals so starker Körper bereits von der Welt verabschiedet hat. Der "Seewolf" stirbt und erhält von seinen ehemaligen Gefangenen eine angemessene Seemannsbeerdigung. Noch während der Zeremonie taucht am Horizont ein Zollkutter der Vereinigten Staaten auf, die Rettung für die beiden Liebenden, die sich in diesem Moment überglücklich in die Arme sinken und ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Aufbau und Stil

Der Roman gliedert sich in zwei Bücher, wodurch bereits formal die reine Abenteuergeschichte von der sich daraus ergebenden Liebesgeschichte getrennt wird. Die emotionale Wellenbewegung zwischen dem Intellektuellen van Weyden und dem Kraftmenschen Larsen, die den Roman prägt, wird durch die fulminante Sprache des Autors zum Spiegelbild des Meeres: faszinierend, rau, intensiv und absolut unberechenbar. Wie sehr London selbst von seinen Eindrücken auf See fasziniert war, kommt im zweiten Teil des Romans zum Ausdruck, wo er in einwandfreier Seemannsterminologie sehr detailliert beschreibt, wie Humphrey van Weyden die Mastenaufhängungen der "Ghost" rekonstruiert, um das Schiff wieder manövrierfähig zu machen. Damit der Leser den Ereignissen an Bord folgen kann, hängte Jack London seinem Roman eine Erklärungsfibel der wichtigsten nautischen Fachausdrücke an.

Interpretationsansätze

• Jack London lässt in seinem Roman zwei Charaktere aufeinanderprallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Van Weyden, der feinsinnige Schöngeist, der die Probleme des Lebens weniger mit Geschick und Körperkraft als mit Vernunft und Moral zu lösen versucht, gerät in die Hände des brutalen Kraftmenschen Wolf Larsen. Voller Sehnsucht nach den Eigenschaften des jeweils anderen, ziehen sich beide Charaktere an, um sich kurzzeitig auszutauschen und sich danach wieder mit aller Heftigkeit abzustoßen.
• Das aufbrausende Wesen des Seewolfs Larsen ist der verzweifelte Versuch eines einsamen Mannes, seine Sehnsucht nach Wissen und seine Verletzlichkeit zu verbergen. Er selbst ist davon überzeugt, dass ihm das Lesen von Büchern nicht gut getan hat, weil er dadurch zu viel vom Leben erfahren hat, das er als wertlos verachtet.
• Der Intellektuelle van Weyden muss erst am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass sich das Leben nicht nur im Kopf abspielt, um endlich Verantwortung für sich selbst übernehmen zu können und in extremen Situationen über sich hinauszuwachsen.
• Dass sich Stärke und Schwäche in einer Person vereinen können, zeigt Jack London vor allem mit seiner dritten wichtigen Romanfigur, Maud Brewster. Die zierliche und zerbrechliche junge Frau entwickelt in der extremen Situation an Bord der "Ghost" eine Diszipliniertheit, die beide Männer fasziniert. Maud verkörpert in ihrer Weiblichkeit das ganze emotionale Spektrum, das der rauen Männerwelt abhanden gekommen ist.
• Der spannungsgeladene Wechsel des Geschehens findet sein Pendant im Wechsel der Naturgewalten. Sei es das heitere Wellenspiel, eine leichte Brise, die Ruhe vor dem Sturm oder der Sturm selbst, alle Spielarten des Wetters finden sich auch im Zusammenleben der Menschen an Bord der "Ghost" wieder.
• Am Ende des Romans haben beide Hauptfiguren eine Art Seelenaustausch vollzogen: Wolf Larsen verliert in seiner Krankheit seine fast übermenschliche körperliche Stärke und lebt nur noch im Geist, während sein Widersacher van Weyden durch Geschick und körperlichen Einsatz gerettet wird.

Amerika an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Amerika gekennzeichnet vom Bürgerkrieg zwischen Nordstaaten und Konföderierten (Südstaaten). Präsident Abraham Lincoln führte schließlich den Norden zum Sieg und setzte sich erfolgreich für das Ende des Sklavenhandels ein, bevor er 1865 ermordet wurde. Einige Jahre später kam es in Nordamerika zu heftigen Kriegen mit den Indianern, die man in kleine Reservate zu drängen versuchte. Mit dem Massaker von Wounded Knee wurde der Widerstand der Indianer 1890 endgültig gebrochen. Im Zuge der Industrialisierung wurden zwischen 1880 und 1910 rund 18 Millionen Einwanderer in den Vereinigten Staaten aufgenommen; die USA entwickelten sich zur größten Industrienation der Welt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Theodore Roosevelt zum Präsidenten gewählt. Als Vertreter der Republikanischen Partei versuchte er verstärkt Einfluss auf die Politik in den lateinamerikanischen Staaten zu nehmen. Als erster Amerikaner erhielt er den Friedensnobelpreis. Auch wenn die Zeit des "Wilden Westens" im Amerika der Jahrhundertwende längst vorbei war, blieb die Sehsucht nach einem Hauch von Abenteuer und unberührter Natur im Land weiter bestehen. Nicht zuletzt deshalb griffen zahlreiche Autoren die Themen Freiheit und Abenteuer immer wieder auf und verpackten sie in den unterschiedlichsten Geschichten und Romanen.

Entstehung

In den Jahren zwischen 1900 und 1916 flossen insgesamt rund 50 literarische und essayistische Texte zu den unterschiedlichsten Themen aus Jack Londons Feder. Im Mittelpunkt standen bei ihm immer die wesentlichen Menschheitsfragen, die sich mit der Würde, den unterschiedlichen geistigen Kräfteverhältnissen und dem Überlebenskampf beschäftigten. London schöpfte dabei aus seinem eigenen recht abenteuerlichen Leben. Bereits ein Jahr, nachdem er 1903 mit seinen Roman Ruf der Wildnis zu Weltruhm gelangt war, legte er mit Der Seewolf bereits sein nächstes Meisterwerk vor, das ebenso erfolgreich wurde. Während sich der Autor schon in früheren Kurzgeschichten und Essays immer wieder mit dem Konflikt zwischen Natur und Kultur auseinandergesetzt hatte, gelang ihm diesmal durch die Gegenüberstellung der Romanfiguren Wolf Larsen und Humphrey van Weyden eine besonders spannende und anschauliche Umsetzung dieses Konflikts.

Beeinflusst von den Ideen Charles Darwins, Herbert Spencers und Friedrich Nietzsches und nicht zuletzt auch geprägt durch seine eigenen Erfahrungen auf hoher See, ließ Jack London die philosophische Fragestellung nach dem Kampf ums Überleben kurzerhand auf dem offenen Meer stattfinden. Er schöpfte beim Seewolf aus seinen Notizen und aus seiner rastlosen Arbeit am eigenen Weltbild, sodass der Roman wie selbstverständlich in der Ich-Form geschrieben werden musste. In der amerikanischen Literatur ist er damit in bester Gesellschaft. Bereits vor der Jahrhundertwende gab es zahlreiche Werke, die in ähnlicher Weise aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben wurden. Dazu zählen Herman Melvilles Moby Dick (1851) und Mark Twains Huckleberry Finn (1884). Melvilles dämonischer Kapitän Ahab ist zudem klar ein literarischer Vorläufer von Londons Wolf Larsen.

Wirkungsgeschichte

Als Jack London 1904 im Alter von 28 Jahren den Seewolf der Öffentlichkeit präsentierte, war es bereits sein fünfter Roman und er erfreute sich zu diesem Zeitpunkt schon internationaler Popularität. Der Autor zeichnete sich sein Leben lang durch einen nicht zu stillenden Wissensdurst, einen ungeheuren Tatendrang und ein ausgeprägtes soziales Denken aus, was ihm aber nicht nur Freunde machte. Gerade in amerikanischen Akademikerkreisen belächelte man lange Zeit seine enthusiastischen und abenteuerlichen Geschichten und sprach ihnen ein ernst zu nehmendes literarisches Niveau ab. Dennoch hat Jack London heute zweifellos seinen Platz in der Weltliteratur.

Mehrere seiner Werke wurden verfilmt, darunter auch Der Seewolf. 1913 spielte der Autor selbst in einem Stummfilm die Rolle eines Matrosen. Die Titelfigur wurde 1971 von Raimund Harmstorf in einem vierteiligen Fernsehfilm eindrucksvoll verkörpert. Ein im Jahr 1976 entdeckter Asteroid wurde nach Jack London benannt.