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Der Tod des Vergil

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Der Tod des Vergil

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Am Ende ein Zweifler: Hermann Broch malt sich Vergils letzte Stunden aus.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Der Tod und das Dichten

Der Tod des Vergil ist sicherlich einer der anspruchsvollsten Prosaversuche des 20. Jahrhunderts. Broch nähert sich einer Erfahrung an, die uns allen bevorsteht: dem Sterben. Indem er dies an dem bekannten antiken Dichter durchexerziert, macht er Vergil zur überzeitlichen Figur. Zugleich werden mit der Schilderung des Reichs unter Kaiser Augustus Parallelen zum Nationalsozialismus gezogen: Beide Epochen sind dem Untergang geweiht, obwohl die Staatenlenker weiter vor Selbstbewusstsein zu strotzen scheinen. Welche Rolle kommt in solchen Zeiten dem Dichten zu? Keine, scheint Broch zu glauben: Sein Vergil will in den letzten Stunden sein Hauptwerk, die Äneis, verbrennen. Die Zeiten verlangen nach Taten, nicht nach schönen Versen, so die desillusionierende Erkenntnis. Broch verfolgte in seinem belletristischen Schaffen die Absicht, Schönheit mit Analyse zu verbinden. Das geht sprachlich nicht immer auf: Das Lyrische kippt zuweilen ins Pathetische, die gedankliche Klarheit driftet ab ins Abstrakte, und überlange, litaneihafte Sätze machen das Lesen vor allem im Mittelteil anstrengend. Dennoch ist die eindringliche Darstellung des Übergangs vom Leben zum Tod die anspruchsvolle Lektüre wert.

Take-aways

  • Der Tod des Vergil ist einer der radikalsten literarischen Annäherungsversuche an das Sterben.
  • Inhalt: Im Gefolge von Kaiser Augustus erreicht der sterbenskranke Dichter Vergil Brundisium. In den Stunden vor seinem Tod ereilen ihn schwere Zweifel an seinem gewählten Lebensweg, an seinem Werk und am römischen Staat. Sie gipfeln darin, dass er sein großes Werk, die Äneis, verbrennen will. Der Kaiser kann ihn schließlich von diesem Vorhaben abbringen.
  • Der Roman ist sehr handlungsarm, abstrakte Schilderungen dominieren über weite Strecken.
  • In den Prosatext sind lyrische Elemente und Zitate Vergils eingeflochten.
  • Brochs Vergil ist nicht der aus der Historie bekannte staatstreue Dichter, sondern ein aufrührerischer Zweifler.
  • Die kritischen Passagen lassen sich sowohl auf den autoritären kaiserlichen Staat als auch auf den Faschismus beziehen.
  • Besonders hebt Broch auf die Bedrohlichkeit aufgewiegelter Menschenmassen ab. Im amerikanischen Exil arbeitete er auch an massenpsychologischen Studien.
  • Eine Grundfrage des Romans lautet: Darf man in schweren Zeiten dichten?
  • Der gebürtige Jude Broch arbeitete zwischen 1936 und 1945 an dem Stoff, unter dem Eindruck des österreichischen Faschismus.
  • Zitat: „Die Tat ist die Aufgabe der Zeit, nicht das Wort, nicht die Kunst; einzig die Erkenntnistat ist es.“

Zusammenfassung

Ankunft in Brundisium

Die Flotte des Kaisers Augustus läuft zwei Tage vor dessen 43. Geburtstag im Hafen von Brundisium ein. Auf einem der Schiffe befindet sich der todkranke 51-jährige Dichter Vergil. Er hadert damit, auf Augustus’ Zureden eine Athenreise abgebrochen zu haben. Zudem bezweifelt er, sein großes Versepos, die Äneis, noch vollenden zu können. Manchmal denkt er, er hätte in gefestigter Gemeinschaft leben sollen, so, wie es seiner ländlichen Herkunft entsprochen hätte. Stattdessen ist er heute ein Getriebener.

„(...) es war etwas Neues in Erscheinung getreten, (...) nämlich des Volkes Unheilsabgründigkeit in ihrem ganzen Umfang, des Menschen Absinken zum Großstadtpöbel und damit die Verkehrung des Menschen ins Gegenmenschliche (...)“ (S. 23)

Im Hafen erwartet die jubelnde Menge den Kaiser. Für Vergil haben die Menschenmassen etwas Bedrohliches. Der Kranke wird auf einer Sänfte durch das Gewühl getragen. Unversehens taucht ein Knabe auf, der an den Kopf der Sänfte tritt und den Dichter lächelnd anschaut. Vergil kennt ihn nicht, der Junge weiß aber genau, wer Vergil ist: Er ruft dessen Namen in die Menge hinein, um dem Dichter den Weg zu bahnen, und gibt acht auf den Koffer mit dem Manuskript der Äneis, der neben der Sänfte hergetragen wird. Das Volk reagiert mit Spott auf den unheimlichen Anblick, den der kranke Mann bietet. Vergil registriert alles genau, während er über den Fischmarkt, den Obstmarkt und die Werftanlagen getragen wird. Was um ihn herum passiert, erscheint ihm als Spiegel seines Inneren. Die Atmosphäre von Werktätigkeit erinnert ihn an seine Kindheit in Andes. Wehmütig denkt er an das Gesicht seiner Mutter und an die surrende Töpferscheibe des Vaters, der erst durch die Heirat Bauer geworden war.

Von der Elendsgasse in den Kaiserpalast

Auf Befehl des Knaben halten die Sänftenträger plötzlich an. Er weist ihnen den Weg in eine schmale, dunkle Gasse mit ärmlichen Mietshäusern. Dort laufen Kinder und Ziegen herum, aus den Kellerläden dringen Geräusche des Feilschens und des Handwerkens, durch die glaslosen Fensterlöcher der Wohnungen sieht man in Lumpen gewickelte Säuglinge und Greise. Natürlich erregt der Mann auf der Sänfte Aufsehen: Die Frauen, die sich aus den Fenstern und von Balkonen herunterlehnen, verspotten und beschimpfen Vergil: Er halte sich wohl für etwas Besseres, werde aber als Toter genau so sein wie alle anderen. Als immer mehr Schimpfwörter und Lachsalven auf ihn niederprasseln, verbirgt Vergil verzweifelt sein Gesicht. In diesem Moment wird ihm bewusst, dass er gelebt hat, als gäbe es für ihn kein Sterben.

„(...) er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben.“ (S. 74)

Als die Elendsgasse durchschritten ist, kommt bald der prächtige, von Fackeln beleuchtete Kaiserpalast in Sicht. Noch einmal zieht der Dichter den Volkszorn auf sich, weil er, obwohl sterbenskrank, in die kaiserlichen Mauern eingelassen wird. Der Knabe weicht nicht von Vergils Seite. Als Hofbeamte ihn wegschicken wollen, gibt der Dichter ihn als seinen Schreiber aus. Dann wendet er sich dem Jungen zu und fragt ihn, warum er noch da sei. Der Knabe sagt, er sei ein bedingungsloser Bewunderer des Dichters. Die Nacht bricht ein, und von draußen dringt der dumpfe Lärm des Volksfestes zu ihnen. Vergil erinnert sich an eine Nacht, in der er seiner Geliebten Plotia ein Gedicht vorgetragen hat. Es war ihm gut gelungen, aber vor der Gemeinschaft der Ehe war er immer geflohen. Später schickt er den Jungen hinaus aufs Fest, denn das gibt ihm das Gefühl, selbst daran teilzunehmen. Der Kranke wird von Hustenkrämpfen geschüttelt, nur unter großer Anstrengung kann er sich vom Sessel ins Bett schleppen.

Die Nachthölle

Im Fieberwahn will Vergil dem Sterben lauschen. Vielleicht hat er das immer schon getan. Denn auf der Suche nach der Erkenntnis des Todes hat er viele Berufe ergriffen und wieder aufgegeben: den des Arztes, des Astronomen, des Philosophen und des Lehrers – bis er schließlich Dichter wurde. Er wollte sich der Grenzerfahrung des Sterbens über die Sprache annähern. Jetzt überkommt ihn die Schaffenslust und er tastet nach dem Manuskriptkoffer. Gleichzeitig fühlt er dieselbe Schaffensangst, die ihn seit Monaten daran hindert, die Arbeit an der Äneis fortzusetzen. Allein der Versuch, sich dem Tod sprachlich zu nähern, scheint ihm vermessen, denn der Tod ist absolut körperlich, und er holt jeden ein. In seiner Angst vor dem Sterben fühlt Vergil sich den Massen gleich. Er versteht die Sehnsucht des Pöbels nach einer starken Führergestalt, die Orientierung bietet und Rauschgefühle vermittelt. Mit einem Mal betrachtet er sein ganzes Leben als verfehlt, als Ansammlung von falschem Verzicht, von falschen Abschieden. Nichts, was ihm im Leben wichtig war, hat jetzt noch Bestand. Und so mangelhaft wie sein eigenes Leben wird auch die Äneis bleiben müssen. Er hat Angst zu ersticken und wankt unter großer Anstrengung zum Fenster.

„(...) oh, der Tod ist erfüllt von all der Vielfalt, die aus der Einheit hervorgegangen war, um sich in ihm wieder zur Einheit zu schließen (...)“ (S. 78)

Vergil erkennt, dass Scheitern und Irrtum zum Los des Menschen gehören, und auch das Entsetzen darüber ist ein Teil davon. Er versucht, dem Fieber zu trotzen und wachsam zu sein. Ihn dürstet nach konkreten, irdischen Vorgängen. Am Fenster wartet er darauf, dass etwas geschieht. Schließlich tauchen drei Betrunkene auf, ein Paar und ein weiterer Mann sind in einen lautstarken Handel verstrickt. Obwohl der Spott diesmal nicht ihm gilt, ist Vergil wieder über das höhnische Lachen des Pöbels entsetzt. Er begreift dieses Lachen als etwas, was die Starre der Schönheit auflöst, in die man sich flüchtet – die Schönheit der Nacht oder jene der Kunst. Das Lachen wirbelt die Hierarchien durcheinander und tritt auf, wenn man sich seinen Pflichten entzieht. Insofern ist er nicht anders als die lachenden Betrunkenen: Auch er gehört zu denen, die ihrer Pflicht nicht nachkommen. In seinem Fall die Pflicht des Dichters: Früher verband er das Dichten mit der Hoffnung, Menschen helfen zu können. Er dachte, die Schönheit der Verse könne den Menschen Erkenntnis bringen. Doch er hat die Kunst überschätzt. Seine Bestimmung zum Künstler sieht er jetzt als Fluch und sich selbst als unbeholfen und unfähig, etwas Sinnvolles zu tun.

Wahrheit und Schönheit

Eines allerdings muss die Kunst leisten und kann es auch: Sie muss Wahrheit enthalten. Tut sie es nicht, so wird die Schönheit zum eitlen Selbstzweck. Vergil macht sich zum Vorwurf, dass seine Werke zu wenig Wahrheit enthalten – allzu oft ist er einfach dem Rausch der Schönheit erlegen. Scham und Selbstverachtung überkommen ihn. Diesen Gefühlen meint er nur entrinnen zu können, indem er sich selbst auslöscht; er bricht am Fenster zusammen und erinnert sich an seine Geliebte Plotia, die schon vor langer Zeit gestorben ist. Auch die Beziehung zu ihr ist gründlich gescheitert: Zeit seines Lebens war er unfähig zur Liebe, immer flüchtete er bloß in die Schönheit. Doch Schönheit ist Starre und damit letztlich etwas Totes. Er hat Menschen immer nur beobachtet, um sie in Schönheit zu verwandeln. Vom Grauen ergriffen schleppt er sich zurück ins Bett. Ihm wird bewusst, dass er zeitlebens gar nicht dem Sterben gelauscht, sondern nur dieses Grauen abgewehrt hat. Schreckenerregende Fratzen lösen sich aus dem Wandschmuck und werden lebendig. Er vernimmt eine Stimme, die ihm befiehlt, alles zu vernichten, was dem Scheinleben gedient hat – einschließlich allem, was er je geschrieben hat. Bei diesem Gedanken schreit er unwillkürlich, man möge die Äneis verbrennen. Der Knabe eilt herbei. Nun fragt Vergil ihn nach seinem Namen – er heißt Lysanias. Der Dichter grübelt darüber nach, warum der Junge ihm geschickt wurde. Lysanias bringt ihm einen Schlaftrunk und trägt Verse aus dem unvollendeten Werk vor. Darüber schläft Vergil ein.

Freunde und Erscheinungen

Als er aufwacht, ist es hell; das Fieber hat nachgelassen. Seine Freunde Plotius Tucca und Lucius Varius sind aus Rom angereist. Sie verbreiten wohltuende Herzlichkeit im Krankenzimmer, aber Vergil hat auch das Gefühl, dass sie den Ernst seiner Lage nicht sehen wollen. Also spricht er seine Situation selbst an: Er werde noch am diesem Tag sterben und vorher die Äneis verbrennen. Die Freunde sind entsetzt. Mit aller Kraft versuchen sie ihn zu überzeugen, das Werkt doch noch fertigzustellen. Vergil diskutiert mit ihnen über Schönheit und Wirklichkeit. Weil sein Werk nur der Schönheit, nicht aber der Wirklichkeit standhalte, müsse er es vernichten. Schönheit sei nur ein Lockmittel, das auch im Blut- und Todesrausch der Zirkusspiele und Gladiatorenkämpfe eingesetzt werde und irgendwann zum Untergang Roms führe. An der Wirklichkeit aber sei er gescheitert – im Schreiben wie auch in der Liebe.

„(...) es entrang sich ihm wie ein winziger, unzulänglicher, niemals ausreichender Ausdruck für das äonengroß Unausdrückbare, entrang sich ihm in einem Atemzug, in einem Seufzer, in einem Schrei: ‚Die Äneis verbrennen!‘“ (S. 170)

Als er von seinen Freunden verlangt, die Äneis für ihn zu verbrennen, machen sie sich auf, um einen Arzt zu holen. Solange sie im Raum waren, blieb der Knabe verschwunden – jetzt sitzt er plötzlich wieder neben Vergil. Lysanias erklärt, dass er Vergil nur scheinbar vorangelaufen sei, in Wahrheit sei nicht er, sondern Vergil immer der Führende gewesen. Vergil erinnert sich, dass er als Knabe ein Menschenführer sein wollte, ein König, Feldherr oder Priester. Plötzlich ist Lysanias wieder verschwunden. Stattdessen spricht nun der anwesende Sklave mit dem Dichter. Er sei der Namenlose, sagt der Sklave, und das Namenlose habe Vergil immer begleitet, auf dass er letztlich in dieses eingehe. Der Arzt erscheint und gibt sich optimistisch. Vergil wird gewaschen und frisiert, er fühlt sich erfrischt und will leben. Plotia erscheint ihm, sie umgibt ihn mit Liebesworten und zärtlichen Berührungen. Der Sklave warnt ihn, sie sei tot. Plotia bittet Vergil, den Knaben Alexis fortzuschicken, der ihm früher viel bedeutet hat.

Kampf mit dem Kaiser

Augustus tritt ins Krankenzimmer. Vergil ahnt, dass der Kaiser sich von dem Sterbenden verabschieden und die Äneis an sich nehmen will. Beide Absichten äußert Augustus nicht offen, aber es kommt schnell zum Kampf um das Manuskript. Der Kaiser versteht nicht, warum Vergil sein Werk vernichten will. Zuerst appelliert er an das Pflichtgefühl des Dichters – schon jetzt gehöre die Äneis dem römischen Volk. Vergil fühlt sich unverstanden in seinem Scheitern. Ausserdem findet er sein Epos jetzt auch unoriginell; es sei ein Abklatsch von Homer. Augustus wirft ihm übersteigerten Stolz vor: Es sei ihm nicht genug, mit seiner Kunst dem Staat zu dienen. In der Tat will Vergil die Kunst von jeder Pflicht freihalten – andernfalls werde sie zur Unkunst. Überhaupt sei die Zeit der Kunst vorbei; was man jetzt brauche, sei „Erkenntnistat“. Augustus ist das alles zu abstrakt, er fühlt sich zusehends angegriffen. Erst recht, als Vergil auf die Sklaverei anspielt und sagt, dass in einem künftigen Reich die Freiheit des Menschen absolut sein werde.

„Du bist Rom.“ (Lysanias zu Vergil, S. 180)

Schließlich prophezeit der Dichter die Ankunft eines Heilsbringers, der sich selbst den Menschen opfern werde. Augustus, jetzt wirklich wütend, wirft Vergil vor, selbst der nebulöse Heilsbringer sein zu wollen, und geht noch weiter: Vergil habe ihn immer gehasst, weil er selber habe Kaiser werden wollen, und nur dieser Hass habe ihn schließlich zum Dichter gemacht – deshalb vernichte er jetzt lieber sein Werk, als es ihm, Augustus, zu widmen. Dieser Vorwurf bringt die Wende. Vergil gibt nach und überlässt Augustus das Epos. Er solle das Manuskript mit nach Rom nehmen, dort werde Vergil es vielleicht vollenden können. Augustus’ Krankenbesuch endet in Harmonie. Vergil hat mit der Unfertigkeit der Äneis seinen Frieden gemacht – er begreift das Unstimmige jetzt als das menschliche Schicksal schlechthin. Im Beisein der Freunde ändert er schließlich noch sein Testament. Lucius soll die Äneis herausgeben, und die Sklaven sollen nach seinem Tod freigelassen werden.

Die Auflösung

Jetzt muss er nichts mehr tun. Er findet sich auf einem Boot wieder, das Kurs ins Unendliche nimmt. Plotius rudert, vorne am Bug sitzt Lysanias. Begleitet werden sie von einem ganzen Zug anderer Boote, in denen vertraute Menschen sitzen. Nach und nach bleiben immer mehr Boote zurück und schließlich verschwindet auch Plotius. Niemand braucht jetzt mehr einen Namen, nichts muss mehr festgehalten werden. Die Fahrt hat sich verlangsamt, und es dämmert. Das Boot löst sich auf, der Knabe fliegt ihm voraus. Dann wird Lysanias zu Plotia, die ihm weiter den Weg weist. Gemeinsam mit ihr erreicht er ein Ufer, nackt gehen sie durch einen unendlich großen Garten, in dem friedliche Raubtiere leben. Er sieht Plotia als Kind und als Mutter, dann wieder als Lysanias, und in diesem erkennt er wiederum sich selbst. Schließlich schläft er ein. Als er erwacht, ist Plotia Teil seiner selbst geworden. Er wandert weiter, die Tiere begleiten ihn, und er selbst wird immer tierähnlicher. Sie wandern Flüsse entlang, die hinter ihnen zusammenfließen. Die Vögel tauchen ins Wasser, zwischen Fliegen und Schwimmen gibt es keinen Unterschied mehr. Aus Tieren werden Pflanzen, diese verschmelzen mit den Sternen, Himmel und Erde werden eins. Es herrscht Urfinsternis. Das Nichts ist aufgetan, der Ring der Zeit hat sich geschlossen. Zuletzt braust ein Wort daher, und Vergil beginnt mit ihm zu schweben. Das Wort ist jenseits der Sprache.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Tod des Vergil ist extrem handlungsarm. Auf 450 Seiten werden die 18 Stunden von Vergils Ankunft in Brundisium bis zu seinem Tod geschildert. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Jeder Teil ist einem der vier Elemente zugeordnet und steht für einen Abschnitt des Sterbeprozesses. Erzählt wird in erlebter Rede: Die Gedanken der Hauptfigur werden unmittelbar wiedergegeben, aber nicht in der ersten, sondern in der dritten Person. Nach Brochs eigenen Angaben enthält Der Tod des Vergil rund 100 Auszüge aus Vergils Dichtungen. Manche sind als Zitate markiert, viele jedoch mit Brochs Text verwoben. So mischen sich moderne Erzählstile mit alten Darstellungsweisen, wobei das Moderne überwiegt. Kennzeichnend ist außerdem das stilistische Nebeneinander der Szenen, in denen Vergil klar denkt (etwa im Gespräch mit Augustus), und jener, in denen er fiebert. Insbesondere der zweite Teil, in dem die Fieberträume und Visionen des Sterbenden dargestellt werden, ist sehr lyrisch gehalten. Die überaus bildhafte Sprache schwankt zwischen Prosa und Versform.

Interpretationsansätze

  • Hermann Broch deutet den historischen Vergil um: Der Autor demontiert den staatstreuen und dem Kaiser nahestehenden Dichter, der mit seinem Versepos über den Stammvater Äneas den Gründungsmythos Roms besungen hat. Im Roman ist Vergil ein Zweifler, der die Struktur seines Staates infrage stellt.
  • Broch zieht kulturkritische Parallelen zwischen Rom zur Zeit des Kaisers Augustus und dem Faschismus: Obwohl die totalitären Herrscher siegessicher auftreten und sich an pompösen Festen bejubeln lassen, gibt es Anzeichen des Verfalls. Auch die im Roman thematisierte Bedrohlichkeit der Masse kann in diesem Zusammenhang gesehen werden.
  • Entscheidend ist die Frage nach der Legitimation der Dichtung: Darf man in schweren Zeiten Verse schreiben? Brochs Vergil verneint das und entzieht sich damit selbst die Existenzberechtigung als Künstler. Gültig seien allein die Tat und die Erkenntnis.
  • Vergils Vorhaben, die Äneis zu verbrennen, steht für sein Streben nach Vernichtung des kaiserlichen Wertesystems. Damit würde er auch den eigenen Ruhm zerstören, der an diesem System hängt. Der Dichter lässt sich erst von Augustus umstimmen, als dieser ihm vorwirft, anmaßend zu sein und selbst Herrschergedanken zu hegen. Das Geschenk der Äneis an den Kaiser wird letztlich zu einem Akt des Verzichts und der Abkehr vom alten Ich.
  • Der Wunsch, die Äneis zu opfern, verweist außerdem auf das bevorstehende Selbstopfer eines von Vergil beschworenen Erlösers. Diese – bei Broch weitgehend enttheologisierte – Verkündigung findet sich auch bei anderen Autoren der 1930er Jahre: Man sieht den Untergang voraus und ordnet ihn in ein Heilsgeschehen ein.
  • Brochs Vergil ist ein Getriebener, der als Urfigur des Exilanten gesehen werden kann: Augustus holt ihn von Griechenland ins Römische Reich; dort wendet er sich von seinem Staat ab, zudem beschreibt er in seinem großen Versepos das Exil des Romgründers Äneas.

Historischer Hintergrund

Österreich im Faschismus

Der ab 1932 regierende christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzte 1933 eine Geschäftsordnungskrise des Parlaments für einen Putsch: Er schaltete das Parlament aus, führte die Pressezensur ein, hob die demokratische Gewaltenteilung auf und ließ gegnerische Parteien verbieten – davon waren nicht nur Sozialdemokraten und Sozialisten betroffen, sondern auch die Nationalsozialisten. Dollfuß’ Staat war zwar autoritär und antidemokratisch, grenzte sich aber klar von Adolf Hitler ab: Dollfuß sah die Österreicher als „die besseren Deutschen“. Unterstützt wurde er von Italiens Diktator Benito Mussolini und der katholischen Kirche. Doch die deutschen Nationalsozialisten hielten sich nicht lange zurück und verübten Terroranschläge in Österreich. Im Oktober 1933 wurde Dollfuß bei einem Attentat leicht verletzt; bei einem Putschversuch am 25. Juli 1934 scheiterte zwar die Machtübernahme, Dollfuß aber wurde getötet.

Kurt Schuschnigg folgte ihm als Bundeskanzler nach. Er schloss im Juli 1936 ein von Mussolini geduldetes Abkommen mit Deutschland, in dem Hitler Österreich gegen die Freilassung von 17 000 österreichischen Nationalsozialisten die Unabhängigkeit zusicherte. Im Februar 1938 schritt die deutsche Machtübernahme dennoch weiter voran: Hitler nötigte Schuschnigg, den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart in die Regierung aufzunehmen. Schuschnigg unternahm einen letzten Versuch zur Rettung der staatlichen Souveränität und setzte für den 13. März 1938 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs an. Daraufhin zwang Hitler ihn zum Rücktritt; Seyß-Inquart wurde sein Nachfolger. Am 12. März marschierten die Deutschen in Wien ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Zwei Tage später wurde Österreich dem Deutschen Reich einverleibt.

Entstehung

Brochs Beschäftigung mit Vergil begann 1930, als man den 2000. Geburtstag des antiken Dichters feierte. Zu diesem Anlass erschien Theodor Haeckers Studie Vergil – Vater des Abendlandes, die auf breites Echo stieß und auch Broch nachhaltig beeindruckte. Besonders interessierte ihn die Legende, wonach Vergil die Äneis verbrennen wollte. Eine erste Erzählung mit dem Titel Die Heimkehr des Vergil entstand 1936; sie umfasste nur wenige Seiten. 1937 schrieb Broch eine etwas längere Fassung. Die beiden Versionen beinhalteten mehr apokalyptische Elemente als der Text, den wir heute kennen. 1938 entstand unter dem Titel Erzählung vom Tode eine dritte, wiederum längere Fassung. Broch schrieb u. a. während einer dreiwöchigen Inhaftierung daran. Unter dem Eindruck der eigenen existenziellen Bedrohung sah er die Arbeit am Text als eine Art der persönlichen Vorbereitung auf den Tod: „Es war nicht mehr das Sterben des Vergil, es wurde die Imagination des eigenen Sterbens.“ Die vierte Fassung mit dem Titel Die Heimfahrt des Vergil entstand zwischen Dezember 1938 und März 1940 und umfasste bereits mehr als 300 Seiten.

An der fünften und letzten Fassung schließlich, dem Tod des Vergil, schrieb Broch zwischen Mitte 1940 und Anfang 1945 im amerikanischen Exil in Princeton. Er unterbrach die Arbeit mehrmals für längere Zeit, um sich massenpsychologischen Studien zu widmen. Ermutigung und Unterstützung – Geld, aber auch Gutachten für Stipendien – bekam er von Freunden, unter ihnen so prominente Mitexilanten wie Thomas Mann, Stefan Zweig und Albert Einstein. Während Broch den Roman überarbeitete, übersetzte Jean Starr Untermeyer den Text parallel ins Englische. Eigentlich sollte der Roman gleichzeitig in beiden Sprachen erscheinen, letztlich ging das englische Manuskript aber im Dezember 1944 in Druck, während das deutsche erst im Februar 1945 veröffentlicht wurde. Da Broch bis zuletzt Änderungen vornahm, unterscheiden sich die beiden Ausgaben in Details.

Wirkungsgeschichte

Sowohl die deutsche als auch die englische Fassung stießen sofort auf Resonanz. Das Echo blieb aber auf literarische Kreise beschränkt und drang nicht zu einer breiten Öffentlichkeit vor. Vielleicht war hier auch schlicht Pech im Spiel: Ausgerechnet an dem Tag, als in der literarischen Sonderausgabe der New York Times auf der ersten Seite eine positive Besprechung von Der Tod des Vergil erschien, gab es einen Streik, und die Zeitungen wurden nicht ausgeliefert. Thomas Mann schrieb 1946: „Brochs Vergil ist eines der ungewöhnlichsten und gründlichsten Experimente, das je mit dem flexiblen Medium des Romans unternommen wurde.“ Heute gilt Der Tod des Vergil als Brochs bedeutendster Roman, während Broch selbst als einer jener ungelesenen Autoren gilt, die immer mal wieder entdeckt werden sollten. Meist werden seine künstlerischen Absichten höher geschätzt als deren Umsetzung. So blieb sein Schaffen auch auf nachfolgende Schriftsteller beinahe ohne Wirkung. Milan Kundera sagte über ihn: „Broch hat mich nicht durch das, was ihm gelungen ist, sondern (...) durch das, was er anvisiert hat, ohne es zu erreichen, inspiriert.“ Und der Schweizer Autor Silvio Blatter präzisierte: „Broch hat als Erzähler Genie, intuitive Kraft. Nur verdirbt er sich manche Szenen mit dem analytischen Verstand. (...) In schiefen Bildern rächt sich der verratene Erzähler am penetranten Philosophen.“

Über den Autor

Hermann Broch wird am 1. November 1886 in Wien als Sohn einer jüdischen Textilindustriellenfamilie geboren. Den Weisungen des Vaters folgend, macht er eine Ausbildung zum Textilingenieur. Um 1908 beginnt er, erste schriftstellerische Arbeiten zu veröffentlichen; dabei verfasst er von vornherein sowohl philosophisch-wissenschaftliche als auch dichterische Texte. 1909 wird er Direktor in den Fabriken seines Vaters; im gleichen Jahr heiratet er die Industriellentochter Franziska von Rothermann, deren Familie zuliebe er zum Katholizismus übertritt. 1910 wird sein einziger Sohn geboren. Während des Ersten Weltkriegs leitet Broch ein Garnisonskrankenhaus. Obwohl er nach dem Krieg seine Fabriken zu modernisieren versucht, gerät er in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Auch seine Ehe scheitert. 1923 lässt er sich scheiden, vier Jahre später verkauft er die Firma und beginnt ein neues Leben als freier Schriftsteller. Nebenbei studiert er Mathematik, Philosophie und Psychologie. Sein erstes Hauptwerk, die Romantrilogie Die Schlafwandler, erscheint 1930/31 und schildert an drei Hauptfiguren und drei Zeitabschnitten exemplarisch das Ende der Wilhelminischen Epoche. Nach der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten kommt Broch im März 1938 wegen seiner Schriften für drei Wochen in Haft. Danach flieht er erst nach England, um im Oktober 1938 in die USA zu emigrieren; Thomas Mann besorgt ihm ein Visum. In ständigen Geldsorgen und auf Stipendien angewiesen, verbringt er seinen letzten Lebensabschnitt überwiegend in New Haven, Connecticut. Seine Hauptprojekte in den USA sind Der Tod des Vergil (1945) sowie diverse Studien zur Massenpsychologie. Der Roman Die Schuldlosen (1950) handelt vom Mitläufertum im Faschismus und fasst elf Erzählungen aus früheren Jahren zusammen. Hermann Broch stirbt am 30. Mai 1951 in New Haven.

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