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Die Falschmünzer

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Die Falschmünzer

Manesse,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wie stillt man seinen Lebenshunger in einer Welt voller Spießbürger? André Gide erfand mit seinem experimentellen Roman den Typus des „rebel without a cause“.


Literatur­klassiker

  • Metafiktion
  • Moderne

Worum es geht

Ein Roman wie das Leben

André Gide erfand den Typus des „rebel without a cause“, lange bevor James Dean durch das Amerika der 1950er Jahre stolperte: Zwar stammen seine jungen Rebellen in Die Falschmünzer aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und tragen adrette Anzüge statt abgewetzter Jeans. Doch sie leiden ähnliche Qualen: Was tun in einer Welt voller intellektueller Rattenfänger, bigotter Christen und scheinheiliger Spießbürger? Wie soll sich ein junger, lebenshungriger Mensch in diesem Mief entfalten? Für Gide führt der Weg zum Ich über die Sinne und einen offenen Umgang mit der Sexualität. Zwar deutet er die homosexuellen Abenteuer so subtil an, dass man zeitweise an ihrer Existenz zweifelt. Und sicherlich könnte man damit heute keine fromme Seele mehr provozieren. Doch 1925 sorgte Gide mit seiner Ehrlichkeit für einen Skandal. Auch stilistisch verunsicherte er seine Zeitgenossen: Er schrieb − wie andere Autoren erst drei Jahrzehnte nach ihm − als neutraler Beobachter, der sich mal in diese, mal in jene Person hineinversetzt und nie schlauer ist als der Leser. Tragödien bleiben unerklärt, Pläne werden nie umgesetzt, und das Ende bleibt offen – wie im wahren Leben.

Take-aways

  • Die Falschmünzer war einer der ersten experimentellen Romane in Frankreich.
  • Inhalt: Ein Gymnasiast läuft von zu Hause fort und kreuzt den Weg eines Schriftstellers, der in seinen Neffen verliebt ist und an einem Roman namens „Die Falschmünzer“ arbeitet – den er jedoch nie beendet. Parallel dazu bringt eine kriminelle Schülerbande Falschmünzen in Umlauf und treibt einen Mitschüler in den Selbstmord.
  • Es geht nicht nur um echte, sondern auch um geistige Falschmünzer: scheinheilige Konformisten, die sich eine falsche Persönlichkeit zugelegt haben.
  • Gide nahm das Credo der Existenzialisten vorweg: Es gilt, allen Götzen abzuschwören; jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich.
  • Der Roman ist stark autobiografisch geprägt; in der Figur des Schriftstellers Édouard sehen viele das Alter Ego des Autors.
  • Gides Coming-out hatte vor dem Erscheinen des Romans 1925 einen Skandal ausgelöst.
  • Durch wechselnde Perspektiven und ergebnisloses Erzählen wird der Leser gezwungen, im Kopf seinen eigenen Roman zu schreiben.
  • Der Nobelpreisträger Gide (er bekam die Auszeichnung 1947) schuf damit die Grundlage für den nackten Stil des Nouveau Roman der 50er Jahre.
  • 1952 setzte der Vatikan sein Werk auf den Index der verbotenen Bücher.
  • Zitat: „Der Romancier vertraut gewöhnlich viel zu wenig auf die Einbildungskraft des Lesers.“

Zusammenfassung

Ein Bastard büxt aus

Der Gymnasiast Bernard Profitendieu hat durch Schnüffelei herausgefunden, dass der Mann seiner Mutter nicht sein Vater ist. Er schreibt ihm einen bitter-zynischen Abschiedsbrief und läuft von zu Hause fort. Das Familienidyll des Untersuchungsrichters Albéric Profitendieu bricht damit wie ein Kartenhaus zusammen. Hat er nicht seiner Frau den Seitensprung großherzig verziehen und Bernard wie sein leibliches Kind erzogen? Bernard verbringt die erste Nacht bei seinem besten Freund Olivier Molinier. Dieser empfängt ihn zärtlich und bittet ihn zu sich ins Bett. Er erzählt Bernard von seinem „ersten Mal“ mit einer Dirne, das er als ekelhaft und entwürdigend empfunden habe. Dann berichtet er von dem Verhältnis seines älteren Bruders Vincent mit einer jungen Frau, die sich im Treppenhaus um Liebe flehend vor Vincents Füße geworfen habe.

„Monsieur, wie ich einer zufälligen Entdeckung entnehme, die ich heute Nachmittag machte, kann ich Sie nicht länger als meinen Vater betrachten, und dies ist mir eine ungeheure Erleichterung.“ (Bernard an Albéric Profitendieu, S. 21 f.)

Doch Olivier irrt: Sein Bruder hat kein Verhältnis mehr. An dem Abend, als Olivier an der Tür lauschte, hat Vincent es beendet. Er hatte während einer Kur in Südfrankreich mit der jungen, frisch verheirateten Frau angebandelt. Sie wurde schwanger und hat nun Angst, zu ihrem Mann zurückzukehren. Eigentlich wollte Vincent ihr 5000 Francs als Nothilfe geben. Doch dann lockte ihn der Graf Robert de Passavant in ein Casino, wo Vincent alles verspielte. Nun schleppt Robert ihn abermals dorthin, damit er noch einmal sein Glück versuche. Die 5000 Francs hierfür hat die reiche Lilian Griffith vorgestreckt, die sich für Vincent interessiert. Prompt gewinnt dieser 50 000 Francs. Er verbringt die Nacht mit Lilian. Die aber duldet nicht, dass er Schuldgefühle wegen seiner schwangeren Exgeliebten verspürt. Als Schiffbrüchige hat sie einst erlebt, wie verzweifelten Schwimmern Finger und Hände abgehackt wurden, damit nicht alle in dem übervollen Rettungsboot untergingen. Das schockierte sie zuerst, doch die Erfahrung wurde zu ihrem Lebensmotto: Auch Gefühle müsse man abhacken.

Édouards Tagebuch

Bernard erwacht noch vor dem Morgengrauen. Er löst sich aus Oliviers Umarmung und verlässt ihn ohne einen Gruß. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er nichts hat, keine Kleider, kein Geld, keine Bleibe, nur einen leeren Magen. Da erinnert er sich, dass Olivier seinen Onkel, den Schriftsteller Édouard, vom Bahnhof abholen wollte. Er schlendert langsam in die Richtung. Am Bahnhof angekommen, beobachtet er, wie Édouard aus Versehen seinen Beleg für die Gepäckaufgabe wegwirft. Unbemerkt hebt Bernard ihn auf und holt Édouards Koffer ab. Zu seiner Freude findet er darin ein Bündel Geld, ein Tagebuch und den brieflichen Hilferuf einer gewissen Laura Douviers. Bei dieser Freundin Édouards handelt es sich um niemand anders als Vincents verlassene Geliebte! Hastig blättert Bernard in dem Tagebuch und liest, dass Laura und Édouard einmal ein Liebespaar gewesen sind. Doch dann erlosch sein Interesse an ihr, und er überredete sie, den langweiligen Douviers zu heiraten. Ungefähr zur gleichen Zeit begann Édouard, sich für seinen Neffen Olivier zu interessieren. Außerdem hat Édouard Oliviers jüngeren Bruder Georges dabei erwischt, wie dieser in einem Buchladen einen Reiseführer über Algerien stehlen wollte. Im Tagebuch ist auch von Lauras Hochzeit die Rede. Die junge Frau stammt aus der protestantischen Pastorenfamilie Vedel-Azaïs, die eine Schülerpension betreibt. Édouard hat Laura dort kennengelernt. Heute schnürt ihm der scheinheilige, puritanische Mief die Kehle zu. Schließlich beschreibt Édouard noch ein Treffen mit seinem alten Klavierlehrer Monsieur de La Pérouse. Der alte Mann ist schwer depressiv und hat sich scheinbar aufgegeben. Seine Ehe ist zerrüttet, sein Sohn tot und seinen einzigen Enkel Boris hat er noch nie gesehen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Édouard und Olivier können sich ihre Wiedersehensfreude nicht eingestehen. Verlegen reden sie aneinander vorbei und trennen sich bedrückt voneinander. Bernard fasst derweil einen Entschluss: Er will Laura retten und sucht sie in ihrem Hotelzimmer auf, um ihr das Geld aus dem Koffer zu geben. Als er bei ihr ist, klopft Édouard an die Tür. Der Beklaute nimmt Bernards Erklärungen bezüglich des Koffers mit einem ironischen Lächeln hin und ist so angetan von dem Jungen, dass er ihn zu seinem Sekretär machen will. Olivier besucht unterdessen Robert de Passavant. Dieser, ein erfolgreicher Autor, bietet ihm den Posten des Chefredakteurs einer neuen Literaturzeitschrift an, die er herausgeben möchte. Noch ist Olivier auf der Hut, denn ihm gefallen weder der Graf noch dessen Bücher. Doch Robert hat Vincent in der Hand, und dieser wiederum überredet seine Eltern, den Bruder mit Passavant verreisen zu lassen. Édouard besucht derweil La Pérouse. Dieser möchte vor seinem Tod noch einmal seinen 13-jährigen Enkel sehen. Édouard verspricht ihm, nach Saas-Fee in die Schweiz zu reisen, wo Boris gerade Urlaub macht, und ihn nach Paris zu bringen. Laura und Bernard will er mitnehmen. In Saas-Fee angekommen, schickt Bernard Olivier einen überschwänglichen Brief: Édouard sei einfach toll, und er selbst habe sich in Laura verliebt. Da sie Laura im Hotel als Édouards Ehefrau hätten ausgeben müssen, schlafe er mit Édouard im Doppelzimmer. Blind vor Eifersucht geht Olivier zu Robert und will mit ihm verreisen.

Hinter den Masken

Die Stimmung zwischen den drei Sommerfrischlern ist nicht so gut, wie Bernard Olivier hat glauben lassen. Laura fühlt sich von Édouard betrogen: Sie liebt ihn immer noch und erkennt, dass er sie nur loswerden wollte, als er sie zur Heirat überredete. Bernard hat in seiner Funktion als Sekretär nichts zu tun, und Édouard stellt fest, dass der etwas störrische Junge nicht recht zu ihm passt. Bei einem Gespräch über seinen geplanten Roman „Die Falschmünzer“ fühlt er sich von den beiden in die Enge getrieben. Er besteht darauf, dass der Roman kein Thema habe, sondern nur vom Leben handle, doch seine Tischgenossen quittieren diese Ausführungen mit mitleidigen Blicken. Immerhin hat Édouard Boris gefunden, der mit seiner Ärztin Sophroniska und deren Tochter Bronja angereist ist. Der Junge leidet unter nervösen Ticks und Manien. Er hatte jahrelang mit einem Freund „Magie“ betrieben – ein anderes Wort für Masturbieren – und als man ihm sein Laster austrieb, entwickelte er sein Nervenleiden. Sophroniska glaubt, Boris sei so gut wie geheilt, hält den Einfluss seiner Mutter aber für schädlich. Édouard schlägt vor, ihn in die Pension von Lauras Eltern zu geben. Am Ende gesteht Bernard Laura seine Liebe. Diese hat sich aber bereits entschieden, zu Douviers zurückzukehren. Ihr Mann schwört, das Kind, das sie von Vincent erwartet, wie sein eigenes zu lieben. In einem Brief aus Korsika schwärmt Olivier, Robert nenne ihn „Olive“, sie hätten in einsamen Buchten „im Adamskostüm“ gebadet und amüsierten sich köstlich. Natürlich ist auch das gelogen.

Kleine und große Gauner

Édouard trifft sich mit seinem Schwager, dem Richter Oscar Molinier, Oliviers Vater, zum Mittagessen. Molinier fürchtet sich vor der Rückkehr seiner Frau Pauline. Er verdächtigt sie, einen Stapel Briefe seiner Geliebten entdeckt und entwendet zu haben. Außerdem erzählt er von einer Gruppe Minderjähriger, die vor den Sommerferien ein Bordell unterhalten hätten. Später wird sich herausstellen, dass sein Sohn Georges die Finger im Spiel hatte. Dann schaut Édouard nach Pérouse. Dessen erstes Treffen mit Boris war enttäuschend; die beiden hatten sich offenbar nichts zu sagen. Der Alte wollte sich noch am selben Abend erschießen, doch dann fürchtete er sich zu sehr vor dem Knall. Édouard greift den Vorschlag des alten Pastors Azaïs auf, Pérouse solle in die Schülerpension ziehen und als Repetitor arbeiten. Der Klavierlehrer hat schon seit Langem kaum noch Schüler und willigt resigniert ein.

„Es war jene zwielichtige Stunde, in der die Nacht sich ihrem Ende zuneigt und der Teufel die Rechnung aufmacht.“ (S. 59)

In der Pension bilden sich zum Schulbeginn neue Cliquen. Der träumerische Boris bleibt aber außen vor. Georges und sein Freund Philippe Adamanti tun sich mit dem dreisten Léon Ghéridanisol, Ghéri genannt, zusammen. Er ist der Cousin von Strouvilhou, der zu Édouards und Lauras Zeiten die Pension besuchte und heute der Kopf einer Falschmünzerbande ist. Ghéri heuert für ihn Georges und Philippe an, die die falschen Zehnfrancsstücke in Umlauf bringen sollen. Strouvilhou weiß, dass ihn die großbürgerlichen Eltern der kleinen Banditen indirekt beschützen, denn sollte das Verbrechen auffliegen, würden sie alles tun, um es zu vertuschen.

Das Bankett

Auch Olivier ist zurück in Paris, wohnt aber noch bei Robert. Bernard, der nun sein Abitur nachholt, trifft ihn nach seiner Französischprüfung. Olivier erscheint ihm seltsam manieriert; er äußert Ansichten, deren Gegenteil er vor wenigen Monaten vertreten hat. Offensichtlich redet er Robert nach dem Mund. Im Anschluss an das Treffen besucht Olivier in der Pension Lauras Bruder Armand, einen intelligenten, aber von Zynismus und Selbsthass zerfressenen Jungen. Nichts ist ihm heilig, am allerwenigsten die Religion seiner Eltern. Sein jüngster Beitrag zu den literarischen Versuchen der Freunde ist das Nonsens-Gedicht „Topf der Nacht“, für das er sich von seinem muffigen Hinterhofzimmer hat inspirieren lassen. Olivier lädt ihn zu einem literarischen Bankett am Abend ein. Doch Armand schlägt ihm vor, stattdessen seine jüngere Schwester Sarah mitzunehmen.

„(...) ich begriff, dass ein Teil meiner selbst mit der ,Bourgogne‘ versunken war, dass ich von nun an einem Haufen zarter Gefühle die Finger und die Handgelenke abhacken würde, damit sie nicht in mein Boot klettern und mein Herz versenken.“ (Lilian, S. 69)

Die Veranstaltung ist eine Farce. Alle Anwesenden verstecken sich hinter Masken und wollen so begehrenswert und originell wie möglich erscheinen. Der bekannte Autor Alfred Jarry fuchtelt plötzlich mit einer Pistole herum. Viele Gäste suchen unter den Tischen Deckung, auch der betrunkene Olivier. Jemand schimpft ihn einen Feigling; Olivier versucht den Mann zu ohrfeigen, schlägt daneben – und schon ist von einem Duell die Rede. Im Waschraum wirft er sich verzweifelt in die Arme seines Onkels. Er möchte nur noch weg und mit Édouard nach Hause. Bernard geht nachts zu Sarah aufs Zimmer. Als Armand die beiden am Morgen ineinander verschlungen auf dem Bett liegen sieht, ein blutbeflecktes Taschentuch unter dem Kissen, sinkt er auf die Knie und weint.

Schöner wird’s nicht

Als Édouard erwacht, stinkt es nach Gas. Olivier liegt scheinbar leblos vor dem Badeofen, besudelt von Erbrochenem. Es gelingt Édouard, ihn wiederzubeleben. Bernard erzählt ihm, was Olivier einmal gesagt hat: dass er sich vorstellen könne, auf dem Gipfel des Glücks Selbstmord zu begehen. Später kommt Pauline, um ihren Sohn zu besuchen. Ohne es direkt auszusprechen, toleriert sie das Verhältnis zwischen Édouard und Olivier. Wirkliche Sorgen macht sie sich um Georges. Sie glaubt, dass er in zwielichtige Geschäfte verwickelt ist. Nachdem sie gegangen ist, erscheint Albéric Profitendieu und bestätigt ihren Verdacht. Er bittet Édouard, seinen Neffen zu warnen: Seine Beamten seien Georges und seiner Bande im Fall der Bordellgeschichte und der falschen Münzen auf den Fersen. Er könne nicht länger garantieren, den Skandal zu verhindern, wenn Georges nicht endlich damit aufhöre. Dann kommt er auf Bernard zu sprechen und wird ganz sentimental. Seine Frau hat ihn nach Bernards Flucht verlassen. Er möchte, dass sein Sohn wieder zu ihm zurückkehrt.

„Der Romancier vertraut gewöhnlich viel zu wenig auf die Einbildungskraft des Lesers.“ (Édouards Tagebuch, S. 80)

Nach der letzten Abiturprüfung erscheint Bernard ein Engel. Er führt ihn erst in die Kirche, dann zu einer nationalkonservativen Versammlung. In der Nacht ringt Bernard lange mit ihm, ohne dass einer die Oberhand gewinnt. Am Morgen beschließt er, nach Hause zurückzukehren, sobald er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen kann. Armand arbeitet nun als Sekretär für Passavant und Strouvilhou, den Robert zum neuen Chefredakteur der geplanten Zeitschrift ernannt hat. Grinsend berichtet Armand Olivier, dass Mona Lisa auf dem Titelbild mit einem Schnurrbart erscheinen soll und auch ansonsten alles zertrümmert werde, was gemeinhin als Kunst gelte. Olivier bemitleidet seinen Freund. Am Ende zeigt Armand ihm einen Brief von seinem Bruder aus Westafrika. Darin ist von einem Mann die Rede, der seine Reisebegleiterin ermordet hat. Weder Olivier noch Armand ahnen, dass es sich um Vincent und Lilian handelt.

„Je mehr ein Mensch der Frömmigkeit anheimfällt, desto mehr verliert er den Sinn für die Wirklichkeit, desto weniger verlangt es ihn nach ihr, braucht und liebt er sie.“ (Édouards Tagebuch, S. 114)

Boris und sein Großvater sind in der Pension sehr unglücklich. Dieser, weil die Schüler ihm auf der Nase herumtanzen, jener, weil er sich ausgeschlossen fühlt. Dann stirbt auch noch die geliebte Bronja. Um Boris noch mehr zu quälen, gründen Georges, Ghéri und Philippe den „Bund der starken Männer“ mit der Losung „Der Starke verachtet das Leben“. Sie bieten Boris die Mitgliedschaft an, wofür er allerdings eine Bewährungsprobe bestehen muss: Im Zimmer von La Pérouse haben die drei eine Pistole gefunden. Einer von ihnen, der ausgelost wird, soll sie sich während der Übungsstunde an die Schläfe halten und abdrücken. Ghéri gibt Georges und Philippe gegenüber vor, dass die Pistole nicht geladen sei, weiß aber, dass eine Patrone drin ist. Auch schummelt er bei der Auslosung; das Los fällt auf Boris. Am nächsten Tag sieht La Pérouse, wie sein Enkel mit der Pistole am Kopf auf ihn zugeht. Boris drückt ab und fällt zu Boden. Édouard notiert in sein Tagebuch, dass er den Vorfall nicht in seinem Roman verwenden werde. Zu unbegreiflich ist ihm der Tod des Kindes. La Pérouse hat endgültig den Glauben an einen gütigen Gott verloren. Überall sieht und hört er den Teufel.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman erinnert an eine aufwändige Filmcollage: Aus ständig wechselnder Perspektive und mit unterschiedlichen Erzähltechniken werden parallel mehrere Geschichten geschildert. Erst spricht der anonyme Erzähler, dann liest man im Tagebuch Edouards oder im Brief Lauras. Haupthandlung und Nebenhandlungen durchdringen einander. Einige Erzählfäden lässt der Autor unvermittelt fallen, um sie an anderer Stelle wieder aufzunehmen oder auch ganz ins Leere laufen zu lassen. Indem er ein und dasselbe Ereignis oder Gespräch aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschreibt, macht er jede Illusion einer objektiven Romanwirklichkeit zunichte. Im Lauf der Handlung scheint er selbst die Kontrolle über die von ihm erschaffenen Figuren zu verlieren und zwingt den Leser, seine Geschichten weiterzuspinnen. Mitunter gibt er diesem sogar das Gefühl, die Charaktere besser zu verstehen als er selbst. Gide zeichnet sie mit einer Mischung aus Ironie und psychologischer Tiefe. Zugleich webt er unzählige Reflexionen über Literatur, griechische Mythologie oder Theologie in die Handlung ein, was die Lektüre noch vielschichtiger macht.

Interpretationsansätze

  • Der Roman handelt von Falschmünzern im wörtlichen und übertragenen Sinn: Die Falschmünzerei der Jungenbande spiegelt sich in der Scheinheiligkeit und den verlogenen Beziehungen aller anderen Romanfiguren wider, die bei dem Versuch sich anzupassen falsche Persönlichkeiten entwickelt haben. Robert de Passavant ist der Prototyp des geistigen Falschmünzers, dem Vincent und beinahe auch Olivier zum Opfer fallen. Die Moliniers stehen für das gescheiterte Modell der konventionellen Ehe. In der Pension Azaïs wird die christliche Scheinheiligkeit auf die Spitze getrieben, und auch Édouard erliegt einer Selbsttäuschung, als er den sensiblen Boris ausgerechnet in die stickige Vorhölle religiöser Eiferer schickt.
  • Alle gewöhnlichen, heterosexuellen Beziehungen scheitern. Einzig die homosexuelle Liebe zwischen Édouard und dem Jüngling Olivier erhält eine Chance und wird sogar von Oliviers Mutter abgesegnet. Gide rechtfertigte damit indirekt seine eigene Beziehung zu Marc Allégret, der im Alter von 16 Jahren sein Sekretär und Geliebter geworden war.
  • Überhaupt ist der Roman stark autobiografisch geprägt. Édouard wird oft als Gides Alter Ego bezeichnet. Gide ist jedoch mit dem fiktiven Schriftsteller nicht gleichzusetzen: Dieser scheitert nämlich an seinem Romanvorhaben, weil er, so Gide, „in allem und jedem nur sich selbst“ suche.
  • Gide nahm das Credo der Existenzialisten vorweg: Die jungen Leute rebellieren gegen die leeren Werte und die erstickende Moral ihrer Elterngeneration und laufen dabei anderen Falschmünzern in die Hände. Bernard erkennt schließlich, dass wahre Freiheit darin liegt, allen Götzen abzuschwören. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich.
  • André Gide war einer der ersten Autoren der modernen Metafiktion, d. h. des Romans im Roman, der die Rahmenhandlung widerspiegelt und das Schreiben selbst zum Thema macht. Er verwendete hierfür den Begriff „mise en abyme“, einen Ausdruck aus der Heraldik („abyme“ bezeichnet dort ein Wappen im Wappen).

Historischer Hintergrund

Die Krise der Sprache

Der Roman spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Belle Époque (ca. 1871–1914) mit ihren großen naturwissenschaftlichen Durchbrüchen und dem wirtschaftlichen Aufstieg des Großbürgertums lag in den letzten Zügen. Seit der Jahrhundertwende und den Exzessen der Fin-de-Siècle-Bewegung wurde eine heilige Kuh nach der anderen geschlachtet: christliche Religion, großbürgerliche Moralvorstellungen, menschliche Sexualität, objektive Wirklichkeit und künstlerische Ausdrucksformen – alles wurde seziert, auseinandergenommen, verworfen oder neu zusammengesetzt. Aufbruch- und Endzeitstimmung wechselten einander ab, und viele Künstler fühlten eine zunehmende Entfremdung vom Rest der Gesellschaft. Manche Schriftsteller litten an einer so genannten Sprachkrise, der Erkenntnis, dass Sprache die Wahrheit nicht mehr ausdrücken könne. Hugo von Hofmannsthal sprach 1902 davon, dass ihm die Worte „wie modrige Pilze“ im Mund zerfielen.

Mit Ausnahme von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1927) folgten die meisten französischen Romanciers mit ihrer linearen Charakterbeschreibung noch überwiegend der realistisch-naturalistischen Schule. André Gide brach als einer der Ersten mit der überlieferten Form, indem er den Roman selbst zum Thema machte und eine betont distanzierte Erzählhaltung einnahm. Er gilt damit als Wegbereiter der literarischen Moderne, insbesondere des Nouveau Roman in den 1950er Jahren. Gide selbst entzieht sich jeder Klassifizierung. Nach dem Ersten Weltkrieg, als er Die Falschmünzer schrieb, ging es ihm vor allem darum, diszipliniert zu denken, glasklar zu schreiben und als Künstler frei und unabhängig zu bleiben.

Entstehung

Der Autor hat die Entstehung des Romans 1926 im Tagebuch der Falschmünzer minutiös beschrieben und reflektiert. Sie begann 1919 mit dem „verrückten Gedanken, in einem einzigen Roman alles vereinen zu wollen, was das Leben hervorbringt“. Als Aufhänger dienten Gide Zeitungsausschnitte aus den Jahren 1907–1909 über eine Falschmünzeraffäre und den Selbstmord eines Schülers. Er ließ sich von Dostojewski inspirieren, doch das Projekt kam nur schleppend voran. Gide warf neue Fragen auf, verwarf Lösungsansätze, ließ monatelang seinen Geist „durchlüften“ und entschied sich schließlich für die distanzierte Perspektive: „Berücksichtigen, dass eine sich entfernende Gestalt nur von hinten zu sehen ist“, schrieb er Anfang 1921. Wie alle seine Werke nahm auch dieses teilweise die Form einer offenen Beichte an. Die Person Oliviers ist Marc Allégret nachempfunden, der 1917 im Alter von 16 Jahren sein Geliebter wurde. Wegen der Affäre überwarf er sich endgültig mit seiner Frau Madeleine, dem Vorbild für Laura. Die Falschmünzer seien das erste Werk, mit dem er sich nicht mehr um die Zustimmung seiner Frau sondern um die Anerkennung Marcs bemüht habe, notierte er in sein Tagebuch. Die realen Vorbilder hinderten ihre fiktiven Abbilder jedoch nicht daran, sich selbstständig zu machen. „Manchmal scheint das Buch jetzt wie von selbst zu wachsen wie eine austreibende Pflanze; mein Kopf ist nur der Behälter voll Humus, in dem sie wurzelt und der sie nährt.“ Gide beendete sein Werk am 8. Juni 1925.

Wirkungsgeschichte

Der Roman erschien 1925 zunächst in der Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française. Die ersten Reaktionen waren verhalten. Zu ungewohnt war die Form und zu skandalös der Inhalt. Der katholische Nationalist Henri Massis hatte Gide bereits einige Jahre zuvor beschuldigt, mit seinen Werken die öffentliche Moral zu verderben. Gide antwortete auf diese Vorwürfe mit der Veröffentlichung von Corydon (1924), einer Verteidigung der Homosexualität und Päderastie, sowie seiner Memoiren Si le grain ne meurt (Stirb und werde, 1924), in denen er seine ersten homosexuellen Abenteuer in Algerien detailliert schilderte. Nach Ansicht vieler seiner Zeitgenossen überschritt er damit die Grenzen des Anstands. Aus heutiger Sicht war er seiner Zeit mit dieser radikalen Aufrichtigkeit um Jahrzehnte voraus.

Gide selbst sah Die Falschmünzer als den Höhepunkt seiner literarischen Karriere. Er teilte sein Umfeld in zwei Lager: Befürworter und Gegner seines „ersten“ Romans, wie er ihn selbstkritisch nannte. Die Bedeutung seiner revolutionären Erzähltechnik wurde erst 25 Jahre später offensichtlich, als französische Autoren wie Nathalie Sarraute oder Alain Robbe-Grillet mit dem Nouveau Roman weiterführten, was er begonnen hatte: Sie überließen es gänzlich dem Leser, ihren Geschichten Sinn zu verleihen. „Seine Klarheit, Rationalität und Ablehnung jeglichen Pathos erlaubten anderen, sich mit ihren Gedanken in dunklere und gefährlichere Gegenden zu wagen“, schrieb Jean-Paul Sartre, für dessen Generation Gide ein Vorbild war. Zwar konnte sich das breite Publikum nie für den Literaturnobelpreisträger begeistern. Unter Kennern wird er aber als großer Moralist, als Streiter für die individuelle Freiheit des Menschen und als einer der größten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gefeiert.

Über den Autor

André Gide wird am 22. November 1869 in Paris in eine wohlhabende protestantische Familie geboren. Als er elf Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Der junge Gide ist kränklich und erleidet mehrere Nervenkrisen. Seiner Mutter gesteht er einmal unter Tränen, dass er einfach anders sei als seine Schulkameraden. Nach seinem Abitur 1890 schließt er sich einem Literatenkreis an, in dem er Stéphane Mallarmé und Oscar Wilde kennen lernt. Er schreibt symbolistische Werke, nimmt die Vertreter der „L’art pour l’art“ allerdings schon früh aufs Korn. 24-jährig reist er nach Nordafrika, wo er seine ersten homosexuellen Erfahrungen macht. Er empfindet die Reise als Befreiung von den puritanischen Werten und erstickenden Moralvorstellungen seiner Kindheit. Im Mai 1895 stirbt seine Mutter; wenige Monate darauf heiratet Gide seine Cousine Madeleine Rondeaux. Die Ehe wird angeblich nie vollzogen. Schreibend verarbeitet Gide seine Schuldgefühle, plädiert aber zugleich für individuelle Freiheit und Selbstverantwortung. Den literarischen Durchbruch erzielt er 1902 mit dem psychologischen Roman L’Immoraliste (Der Immoralist). Er handelt von einem Mann, der seine homosexuellen Neigungen ohne Rücksicht auf seine kranke Frau auslebt. 1909 gründet Gide mit befreundeten Literaten die einflussreiche Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française. 1911 schreibt er Corydon, eine Rechtfertigung der Homosexualität und Päderastie, die erst 13 Jahre später unter seinem Namen erscheint. Als er 1917 eine langjährige Beziehung mit Marc Allégret beginnt, ist dieser 16 Jahre alt. Das Ehepaar Gide lebt von nun an getrennt, und Madeleine verbrennt all seine Briefe. 1923 wird seine unehelich gezeugte Tochter Catherine geboren, die Gide aber erst nach Madeleines Tod 1938 adoptiert. In den 1930er Jahren sympathisiert er mit den Kommunisten, wird jedoch nach einem desillusionierenden Besuch in der Sowjetunion deren entschiedener Gegner. 1947 erhält André Gide den Literaturnobelpreis. Er stirbt am 19. Februar 1951. Ein Jahr später setzt der Vatikan sein Werk auf den Index.

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