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Die Physiker

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Die Physiker

Eine Komödie in zwei Akten

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Seltsame Vorgänge in einem Schweizer Sanatorium: Morde, verrückte Physiker und der Kampf um die Weltherrschaft. Eine rabenschwarze Komödie.


Literatur­klassiker

  • Komödie
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Schwarze Komödie über die Verantwortung der Wissenschaft

Viele haben sie gesucht, er allein hat sie gefunden: die „Weltformel“ und das „System aller möglichen Erfindungen“. Und was macht der geniale Physiker Möbius mit seiner Entdeckung? Er verheimlicht sie, flieht in eine psychiatrische Anstalt und spielt den Irren. Er will dadurch die Menschheit vor seiner Entdeckung bewahren, denn die praktische Anwendung der Formel würde eine Katastrophe bedeuten. Aber die Mächte der Welt sind an Möbius’ Wissen brennend interessiert: Zwei Geheimdienstler, die sich ebenfalls als geisteskranke Physiker ausgeben, haben von ihrer jeweiligen Regierung den Auftrag erhalten, an die Weltformel heranzukommen. Nachdem drei Krankenschwestern ihr Leben lassen mussten, gelingt es Möbius, seine beiden Mitinsassen auf eine verantwortungsvolle Haltung einzuschwören – und doch tritt die schlimmstmögliche Wendung à la Dürrenmatt ein: Die Irrenärztin Mathilde von Zahnd, paradoxerweise die einzige wirklich Verrückte, hat Möbius’ Formel kopiert und schickt sich an, die Weltherrschaft zu übernehmen. In Zeiten des Kalten Krieges entstanden, besticht das Stück auch heute noch durch Brillanz, Sprachwitz und eine perfekte dramaturgische Konstruktion.

Take-aways

  • Dürrenmatts Die Physiker ist neben Der Besuch der alten Dame der zweite Theater-Welterfolg des Schweizer Schriftstellers
  • Die Komödie spielt in einer psychiatrischen Anstalt, die von der buckligen Chefärztin Mathilde von Zahnd geleitet wird.
  • Der geniale Physiker Möbius hat die „Weltformel“ gefunden und spielt nun den Irren, um die Menschheit vor den furchtbaren Auswirkungen seiner Entdeckung zu schützen.
  • Zwei Geheimdienstler, die vorgeben, sich für Einstein und Newton zu halten, wollen zugunsten ihres jeweiligen Landes an Möbius’ Formel herankommen.
  • Alle drei Physiker ermorden je eine Krankenschwester, nachdem diese das Geheimnis ihrer Doppelexistenz gelüftet hat.
  • Am Ende stellt sich heraus, dass die Chefärztin – die einzige wirklich Verrückte – Möbius’ Aufzeichnungen kopiert hat und damit einen weltbeherrschenden Konzern aufbaut.
  • Dürrenmatt demonstriert mit dem Stück seine These, dass eine Geschichte dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.
  • Das Drama entstand nicht zuletzt aufgrund Dürrenmatts Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts aufklärerischer Theatertheorie, die er ins radikal Negative dreht.
  • In Brechts Leben des Galilei ist es die Aufgabe des Wissenschaftlers, seine Erkenntnisse zum Wohle der Menschheit zu verbreiten – bei Dürrenmatt ist es gerade umgekehrt: Der verantwortungsvolle Wissenschaftler behält die Resultate seiner Forschung für sich.
  • Die von Zufall und Chaos beherrschte Welt ist laut Dürrenmatt auf der Bühne nicht mehr durch die Tragödie, sondern einzig noch durch die Komödie darstellbar.
  • Den realgeschichtlichen Hintergrund des Stücks bilden der Kalte Krieg sowie die Bedrohung der Menschheit durch die Atomtechnik.
  • Die Physiker war vor allem in Westeuropa ein riesiger Erfolg, während die Komödie in den Ländern des Ostblocks und in den USA eher skeptisch aufgenommen wurde.

Zusammenfassung

Mord im Irrenhaus

In der Villa des privaten Sanatoriums „Les Cerisiers“, eines Irrenhauses, ist zum zweiten Mal binnen dreier Monate ein Mord geschehen. Einer der drei Insassen – allesamt Physiker – hat eine Krankenschwester erdrosselt. Im Salon des Instituts sind Polizisten dabei, Spuren zu sichern. Die Leiche liegt noch auf dem Parkett, und die Zeichen eines Kampfes sind überdeutlich: durcheinandergeratene Möbel, umgestürzte Sessel, ein auf dem Boden liegender Tisch und eine umgekippte Stehlampe. Die beiden Verbrechen sind umso beunruhigender, als die drei Wissenschaftler eigentlich harmlos scheinen und leicht zu behandeln sind. Die Mahlzeiten nehmen sie jeweils gemeinsam ein, wobei sie über ihr Fachgebiet diskutieren oder einfach nur still vor sich hin starren.

„Diese Theorie schreibe ich in der Sprache der Mathematik nieder und erhalte mehrere Formeln. Dann kommen die Techniker. Sie kümmern sich nur noch um die Formeln. Sie gehen mit der Elektrizität um wie der Zuhälter mit der Dirne.“ (Newton, S. 22)

Das Irrenhaus wird von einer Ärztin namens Mathilde von Zahnd geführt: einer buckligen alten Jungfer und Psychiaterin von Weltruhm, deren Briefwechsel mit C. G. Jung soeben erschienen ist. Die Villa, in der die drei verrückten Physiker untergebracht sind, ist von einem mit riesigen Bäumen bestückten Rasen umgeben und liegt an einem See. Sie war einst die Sommerresidenz der einflussreichen Familie von Zahnd. Daneben verfügt das Institut über einen Neubau, in dem sich die dem Wahnsinn anheimgefallene Elite des halben Abendlandes behandeln lässt: Millionäre, Künstler, Politiker, Großindustrielle, Aristokraten.

„Für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich. Ich kenne sie weitaus besser, als sie sich selber kennen.“ (von Zahnd, S. 25)

Kriminalinspektor Richard Voss befragt Oberschwester Marta Boll zu den Umständen des Mordes. Das Opfer war 22 und wurde mit der Schnur der Stehlampe erdrosselt. Der Täter ist Ernst Heinrich Ernesti, den man in der Anstalt Einstein nennt. „Weil er sich für Einstein hält“, antwortet die Oberschwester auf die Frage nach dem Grund dieses Spitznamens. Jedes Mal wenn der Polizist von „Mord“ oder „Täter“ spricht, reagiert sie ungehalten: Es handle sich um einen kranken Menschen, und das Ganze sei kein Verbrechen, sondern ein Unglücksfall. Eine Vernehmung komme aus medizinischen Gründen nicht infrage, weil man Einstein ungestört geigen lassen müsse. Die Chefärztin von Zahnd sei unabkömmlich, weil sie Einstein auf dem Klavier zu begleiten habe – andernfalls beruhige sich dieser nicht.

Einstein und Newton

Während die Leiche hinausgetragen wird, brüllt der wütende Inspektor, dass er auf die Ärztin warten werde. Plötzlich kommt ein in ein Kostüm des beginnenden 18. Jahrhunderts gekleideter Mann aus einem der Patientenzimmer: Herbert Georg Beutler, der sich für Newton hält. Er bedauert den Tod der Krankenschwester und räumt das Zimmer auf, weil er Unordnung nicht erträgt – eigentlich sei er nur aus Ordnungsliebe Physiker geworden. Die Tat seines Mitpatienten versteht er nicht. Als der Inspektor ihn auf einen Mord anspricht, den Newton selbst vor drei Monaten mit der Vorhangkordel verübt hat, sagt dieser, das sei etwas ganz anderes, er sei schließlich nicht verrückt. Er sei in sein Opfer verliebt gewesen, doch habe ihn dies von seinem wissenschaftlichen Denken abgehalten. Und dann vertraut er dem staunenden Inspektor ein Geheimnis an: In Wahrheit sei er gar nicht Newton, sondern Einstein. Aber dies müsse geheim bleiben, um Ernesti, der wirklich verrückt sei und sich ebenfalls für Einstein halte, nicht zu verwirren. Jedenfalls habe er eine Theorie über die Elektrizität aufgestellt, und danach seien die Techniker gekommen, um darauf aufbauend die Atombombe zu konstruieren. Und dass der Inspektor einfach an einem Lichtschalter drehe, ohne etwas von der zugrunde liegenden Naturwissenschaft zu verstehen, mache ihn zum einzig wahren Kriminellen.

„Sie wollte mich heiraten. Sogar die Bewilligung hatte sie schon. Von Fräulein Doktor von Zahnd. Da erdrosselte ich sie. Die arme Schwester Irene. Es gibt nichts Unsinnigeres auf der Welt als die Raserei, mit der sich die Weiber aufopfern.“ (Einstein, S. 48)

Endlich hat die Chefärztin und Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd ihren Patienten Einstein beruhigen können. Sie stellt sich dem Gespräch mit dem Inspektor, verwirrt diesen aber zusätzlich, als sie ihm sagt, dass sich Newton in Wahrheit nicht für Einstein, sondern eben doch für Newton halte. Der Polizist sagt, dass der Staatsanwalt wegen der beiden Morde tobe und die Sicherheitsvorkehrungen in der Anstalt verbessert werden müssten. Die Ärztin weist das Ansinnen entrüstet zurück. Die Vorfälle seien völlig unvorhersehbar gewesen. Die einzige mögliche Erklärung sei eine krankhafte Veränderung des Gehirns durch Radioaktivität, der die beiden Täter vor der Einlieferung in ihrem Berufsleben ausgesetzt gewesen seien. Schließlich verspricht von Zahnd, die Schwestern im Haus durch Pfleger zu ersetzen, wonach der Inspektor halbwegs besänftigt geht.

Möbius bekommt Besuch

Der dritte Physiker – der einzige, der noch keinen Mord begangen hat – heißt Johann Wilhelm Möbius. Mathilde von Zahnd empfängt dessen Exfrau mit den drei Söhnen. Gleich zu Beginn des Gesprächs teilt sie der Ärztin mit, dass sie einen anderen Mann geheiratet habe, nämlich den Missionar Rose. Dieser begleitet die Familie auf ihrem Krankenbesuch. In Kürze wird Rose eine Missionsstation auf der Inselgruppe der Marianen übernehmen; die fünf sind gekommen, um sich von Möbius zu verabschieden. Von Zahnd blättert im Dossier des Kranken und teilt den Angehörigen mit, sein Zustand sei unverändert. Er puppe sich in seiner eigenen Welt ein und behaupte hartnäckig, dass ihm der König Salomo erscheine.

„Ich habe drei Mörder gefunden, die ich mit gutem Gewissen nicht zu verhaften brauche. Die Gerechtigkeit macht zum ersten Mal Ferien, ein immenses Gefühl.“ (Inspektor, S. 60)

Als Möbius’ Exfrau weinend gesteht, dass sie für die Klinikkosten nicht mehr aufkommen könne, wird sie von Mathilde von Zahnd beruhigt: Der Patient habe sich eingelebt und könne bleiben, und schließlich gebe es ja genug Stiftungen. Die Ärztin lässt Möbius rufen und zieht sich zurück. Der Physiker braucht eine Weile, bis er seine Familie erkennt, dann begrüßt er seine drei Söhne und fragt, was sie werden wollen. Der erste will Pfarrer, der zweite Philosoph und der jüngste wie der Vater Physiker werden. Möbius fährt entsetzt zurück und sagt, das dürfe er auf keinen Fall. Wäre er, Möbius, nicht Physiker geworden, säße er jetzt nicht im Irrenhaus.

„Es war meine Pflicht, die Auswirkungen zu studieren, die meine Feldtheorie und meine Gravitationslehre haben würden. Das Resultat ist verheerend. Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Fantasie spottet, falls meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele.“ (Möbius, S. 69)

Zum Abschied spielen die drei Buben dem Vater ein Liedchen auf der Blockflöte, doch Möbius fordert energisch, sie sollen damit aufhören. Der Missionar versucht ihn zu besänftigen: Gerade dem Psalmdichter Salomo würde doch das Spiel der unschuldigen Kinder gefallen. Möbius wird wütend und sagt, Salomo sei längst nicht mehr der erhabene König. Er habe seinen Purpurmantel von sich geworfen, sitze nackt und stinkend als König der Wahrheit in einer Ecke und dichte ganz andere Psalmen – etwa jene über die Astronauten, die sich in den grässlichen, sinnlosen Weiten des Alls verlieren. Aufgeregt fordert der Physiker seine Familie auf, endlich auf die Marianen abzuhauen, und als Frau und Kinder samt Missionar sich weinend davonschleichen, ruft er ihnen Flüche hinterher.

Auch Möbius mordet

Gleich darauf beruhigt Möbius sich wieder und redet in normalem Ton mit Schwester Monika. Diese sagt, sie habe längst bemerkt, dass er seinen Wahnsinn nur spiele. Möbius antwortet, er habe soeben das System aller möglichen Erfindungen abgeschlossen, das ihm von König Salomo diktiert worden sei. Monika teilt ihm mit, dass sie ab morgen nicht mehr in der Villa, sondern im Hauptgebäude arbeite. Sie gesteht ihm, dass sie an die Erscheinungen Salomos glaube, weil sie einfach fühle, dass er nicht verrückt sei. Möbius springt auf und befiehlt ihr, zu gehen, doch sie gesteht ihm ihre Liebe. Und Möbius erwidert, dass er sie auch liebt.

„Merkwürdig. Jeder preist mir eine andere Theorie an, doch die Realität, die man mir bietet, ist dieselbe: ein Gefängnis. Da ziehe ich mein Irrenhaus vor. Es gibt mir wenigstens die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenützt zu werden.“ (Möbius, S. 73)

In diesem Moment erscheint Einstein. Auch er und Schwester Irene hätten sich geliebt, doch er habe nicht hinnehmen können, dass sie sich für ihn opfern wollte, dass sie plante, ihn zu heiraten und ihn aus der Anstalt hinauszuführen. Einstein empfiehlt Monika, Möbius’ Rat zu befolgen und zu fliehen – sonst sei sie verloren. Obwohl Möbius der verliebten Krankenschwester immer eindringlicher sagt, es sei verrückt, derartige Gefühle für einen Geisteskranken zu hegen, lässt sie nicht von ihm ab: Sie wolle mit ihm schlafen, Kinder zeugen, eine Familie gründen. Sie wolle nicht mehr andere pflegen, sondern nur noch für ihn da sein. Und Doktor von Zahnd habe ihr die Erlaubnis erteilt – Möbius sei frei. Ja, sie habe sogar mit seinem ehemaligen Lehrer geredet, und dieser habe versprochen, Möbius’ Manuskripte unvoreingenommen zu prüfen. Nun gelte es, die Koffer zu packen, denn der Zug fahre um 8.20 Uhr. Es wird dunkel im Zimmer, der Physiker ist zu Tränen gerührt, stammelt etwas von Liebe, umarmt die Krankenschwester – und reißt plötzlich den Vorhang hinunter. Es kommt zu einem kurzen Kampf. Möbius erdrosselt seine Geliebte.

„Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“ (Möbius, S. 75)

Wieder muss die Polizei anrücken. Der Inspektor will den Täter nicht einmal mehr sehen, und inzwischen tobe auch der Staatsanwalt nicht mehr, er brüte nur noch vor sich hin. Von Zahnd meint, nun könne sie abdanken, ihr medizinischer Ruf sei dahin. Monika sei ihre beste Krankenschwester gewesen. Drei ehemalige Boxmeister, die nun als Pfleger arbeiten, schieben das Abendessen für die Physiker in den Salon, aus einem der Patientenzimmer klingt Einsteins Geigenspiel. Auf von Zahnds Vorwürfe entgegnet Möbius, König Salomo habe ihm den Mord befohlen. Erschüttert zieht sich von Zahnd zurück, während der Inspektor eine Havanna raucht und Cognac trinkt. Möbius’ Bitte, ihn zu verhaften, schlägt der Beamte aus – schließlich habe ja der König Salomo den Mord befohlen. Er genieße es geradezu, einmal in seinem Polizistenleben drei Mörder gefunden zu haben, ohne sie verhaften zu müssen. Mit einem freundlichen „Leben Sie wohl!“ verlässt der Inspektor die Anstalt.

Lieber verrückt als schuldig

Nun begeben sich Newton und Möbius zum Abendessen, während Einstein in seinem Zimmer geigt. Es gibt Leberknödelsuppe, Poulet à la Broche und Cordon bleu. Newton erklärt, er wolle die Anstalt verlassen. Er sei nicht verrückt und halte sich auch nicht für Newton. In Wahrheit sei er Alec Jasper Kilton, der Begründer der Entsprechungslehre. Er habe sich im Auftrag des Geheimdienstes seines Landes in das Irrenhaus eingeschlichen, um Möbius zu überwachen und hinter dessen geniale physikalische Theorie zu kommen. Als Schwester Dorothea ihn enttarnt habe, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als sie zu ermorden. Inzwischen ist Einstein unbemerkt aus seinem Zimmer getreten. Er stellt sich als Joseph Eisler vor, der Entdecker des Eisler-Effekts, und gibt zu, ebenfalls einem Geheimdienst anzugehören. Auch sein Wahnsinn sei nur gespielt. Plötzlich ziehen die beiden Agenten ihre Waffen, doch sie sehen schnell ein, dass keiner von ihnen als Sieger aus einem Duell hervorgehen würde. Einstein sagt, auch er habe seine Krankenschwester ermorden müssen, weil sie seine wahre Identität entdeckt habe. Da treten die drei Pfleger ins Zimmer, um an sämtlichen Fenstern die Gitter hinunterzulassen. Die Anstalt wird zu einem Gefängnis.

„Sie hielt mich für ein verkanntes Genie. Sie begriff nicht, dass es heute die Pflicht eines Genies ist, verkannt zu bleiben.“ (Möbius über Schwester Monika, S. 75)

Möbius erklärt, er habe die Weltformel gefunden und mit ihr das System aller möglichen Erfindungen. Doch dadurch lasse sich eine Technik schaffen, die in ihren Auswirkungen ungeheuerlicher sei als alles, was die Wissenschaft bisher hervorgebracht habe. Die beiden Geheimdienstler wollen den genialen Physiker für ihr jeweiliges politisches System gewinnen, einer im Namen wissenschaftlicher Freiheit, der andere zugunsten ungeschminkter Machtpolitik. Wiederum sind sie drauf und dran, sich um den Besitz seiner Manuskripte ein tödliches Duell zu liefern. Zu ihrem Entsetzen sagt Möbius jedoch seelenruhig, er habe die Manuskripte vernichtet. Statt sich von Ideologien vereinnahmen zu lassen, lebe er lieber im Irrenhaus. Was die Menschheit mit seinen Erkenntnissen anrichten würde, sei derart schrecklich, dass er sich aus Verantwortungsbewusstsein die Narrenkappe übergestülpt habe. Möbius überzeugt seine Kollegen sogar, es ihm gleichzutun, um die Welt vor dem sicheren Untergang zu retten. Die drei Männer stoßen an und gedenken der ermordeten Krankenschwestern. Sie beschließen, wieder Verrückte zu sein, um ein Leben als gefangene Freie und unschuldige Physiker führen zu können.

Die wahre Wahnsinnige

Nachdem die drei Verbündeten sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben, tritt die Chefärztin von Zahnd mit den drei Pflegern auf. Sie befiehlt, die Insassen rufen zu lassen. Zu deren Erstaunen spricht von Zahnd sie mit ihren richtigen Namen an. Das vorherige Gespräch sei abgehört worden, und ohnehin habe sie längst Verdacht geschöpft. Die Pfleger nehmen den enttarnten Agenten die Waffen ab und werden dann von der Irrenärztin hinausgeschickt. Nun teilt sie den Physikern feierlich ihr Geheimnis mit: Auch ihr sei der goldene König Salomo erschienen. Er wolle die Macht auf Erden wieder übernehmen, und Möbius sei sein Werkzeug. Aber dieser habe ihn verraten, weshalb nun sie, Mathilde von Zahnd, dazu ausersehen sei, im Namen Salomos die Weltherrschaft zu übernehmen. Sie habe Möbius’ Aufzeichnungen heimlich kopiert und sei bereits dabei, das System aller möglichen Erfindungen auszubeuten. Den Physikern wird bewusst, dass die wahre Wahnsinnige die Irrenärztin ist, doch sie sind machtlos: Die Welt hält sie wegen der Morde an den Krankenschwestern für gefährliche Verrückte. Von Zahnd gesteht, sie habe die Krankenschwestern auf die Männer angesetzt, im Wissen, wie diese reagieren würden. Die Welt ist in die Hände einer Verrückten gefallen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Physiker besteht aus zwei ungefähr gleich langen Akten. Dürrenmatt hält sich weitgehend an die klassische, von Aristoteles begründete Dramenform mit ihrer Einheit von Zeit, Ort und Handlung: Es gibt weder Zeitsprünge noch Ortswechsel, der Ablauf der Ereignisse erfolgt linear und ohne Nebenstränge. In einer einleitenden Bemerkung ironisiert der Autor allerdings diese dramaturgische Wahl: „Einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei.“ Dürrenmatt spielt in dem Stück mit einer Vielzahl thematischer und stilistischer Vorlagen. Die Geschichte beginnt als Krimi – eine Leiche liegt auf der Bühne, der Inspektor ist bereits am Tatort –, enthält jedoch auch Elemente der Agentenstory und, aufgrund der zahlreichen philosophischen Dialoge und Monologe, des Ideendramas. Vorherrschend ist ein ironischer Grundton mit Übertreibungen und sarkastischen Seitenhieben. Die Ungewissheit, wer sich für wen hält und wer verrückt oder normal ist, führt außerdem immer wieder zu grotesken Wendungen und Überraschungseffekten, wie sie für die literarische Gattung der Komödie charakteristisch sind. Dürrenmatt war der Meinung, die von Zufall und Chaos beherrschte Welt sei nur noch mit den Mitteln der Komödie, nicht mehr mit denen der Tragödie darstellbar.

Interpretationsansätze

  • Im Zentrum von Die Physiker steht die Frage nach der Verantwortung der modernen Naturwissenschaft. In erster Linie ist hier natürlich an die Atomphysik zu denken, die die Weltzerstörung in den Bereich des Möglichen rückte. Aktueller ist die Debatte um die Gentechnologie: von ihren Befürwortern gepriesen wie einst die Atomkraft, von anderen gefürchtet wegen ihres zerstörerischen Potenzials.
  • Der Physiker Möbius erscheint als verantwortungsbewusster Einzelner, dessen Bemühen, die Menschheit vor den verheerenden Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts zu bewahren, an der Unvorhersehbarkeit des Zufalls scheitert – ein für Dürrenmatt typisches Motiv.
  • Die groteske Tragik des Physikers Möbius besteht in seinem Glauben, die Welt durch einen rationalen Plan ¬– nämlich den vorgetäuschten Wahnsinn – retten zu können, während diese und er selbst längst zum Spielball einer wirklich Wahnsinnigen geworden sind.
  • Dennoch ist die Figur Möbius moralisch ambivalent: Der Physiker ist bereit, zugunsten eines übergeordneten Ziels die eigene Familie zu verstoßen und sogar seine Geliebte zu ermorden.
  • Der selbst auferlegte Wahnsinn erscheint Möbius angesichts einer unausweichlich dem Abgrund entgegentreibenden Menschheit als die einzig vernünftige Existenzform. Das Irrenhaus wird zum Symbol für eine Welt, in der die Kategorien „verrückt“ und „normal“ ihre Unterscheidbarkeit verloren haben.
  • Die Frage nach der Verantwortung der modernen Naturwissenschaft erhält im Stück keine Antwort, schon gar keine positive. Dürrenmatts Weltanschauung ist von tiefem Pessimismus geprägt.

Historischer Hintergrund

Der Kalte Krieg, die Atombombe und J. Robert Oppenheimer

Obwohl in Dürrenmatts Die Physiker weder der Kalte Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion noch die Atombombe explizit erwähnt werden, ist der zeitgeschichtliche Bezug des Stücks offensichtlich. Die USA begannen mit Entwicklung und Tests von Kernwaffen während des Zweiten Weltkrieges, der Deckname der Forschungsarbeiten lautete „Manhattan Project“. Daran waren zahlreiche hochrangige Wissenschaftler beteiligt, u. a. Enrico Fermi, Richard Feynman, Edward Teller und – als wissenschaftlicher Leiter – der amerikanische Atomphysiker J. Robert Oppenheimer. Die erste Atombombe wurde am 16. Juli 1945 auf einem Versuchsgelände in New Mexico gezündet. Am 6. und am 9. August 1945 warfen amerikanische Flugzeuge auf Befehl des US-Präsidenten Harry S. Truman über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki je eine Atombombe ab. Bis 1950 starben in Japan 350 000 Menschen, größtenteils Zivilisten, an den sofortigen und mittelbaren Folgen. Ab 1949 verfügte auch die Sowjetunion über Kernwaffen.

Die apokalyptische Wirkung der Waffe ließen beim Leiter des Manhattan Project moralische Zweifel an der Berechtigung seines Tuns aufkommen: Oppenheimer geriet in ein Dilemma, das an jenes von Möbius in Dürrenmatts Stück erinnert. Der amerikanische Physiker sprach sich öffentlich gegen den Bau der Wasserstoffbombe aus und wurde 1954 vom Untersuchungsausschuss der Atomenergiekommission wegen Verrats angeklagt und seines Amtes als Berater der Atomenergiebehörde enthoben. Unter der Regierung von John F. Kennedy erfuhr der Physiker jedoch eine Rehabilitation. 1963 erhielt er mit dem Enrico-Fermi-Preis die höchste Auszeichnung der amerikanischen Atomenergiebehörde.

Entstehung

Der Stoff zu Die Physiker fiel Dürrenmatt 1959 während eines Aufenthalts im schweizerischen Unterengadin ein, mit der Niederschrift begann er eineinhalb Jahre später. Das Stück ist nicht zuletzt Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit der Theatertheorie des deutschen Dramatikers Bertolt Brecht und insbesondere mit dessen Stück Leben des Galilei aus dem Jahr 1939. Brecht schildert Galilei als Wissenschaftler, der aus Angst vor der katholischen Kirche sein Wissen zurückhält und sich dadurch an der Menschheit versündigt: Die neuen Erkenntnisse hätten den wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt beflügeln können. Dürrenmatt stellt diese Konstellation auf den Kopf: Auch Möbius will sein Wissen zurückhalten, dies jedoch aus der Überzeugung, dass es die Menschheit nicht voranbringen, sondern in die Katastrophe stürzen würde. Der Marxist Brecht vertritt ein grundsätzlich positives, Dürrenmatt ein radikal negatives Weltbild. Entsprechend gegensätzlich bewerten die beiden Autoren die Funktion des Theaters: Für Brecht kann das Theater den Menschen zur Besserung erziehen, für Dürrenmatt kann es nur noch das Chaos der Welt und die Hilflosigkeit des Einzelnen darstellen.

Wirkungsgeschichte

Die Physiker wurde am 21. Februar 1962 in Zürich uraufgeführt, unter der Regie von Kurt Horwitz und mit Therese Giehse in der Rolle der Irrenärztin. Ihr hat Dürrenmatt das Stück auch gewidmet. Zu diesem Zeitpunkt lag sein erster großer Bühnenerfolg, Der Besuch der alten Dame, bereits sechs Jahre zurück. Während das darauf folgende Stück Frank der Fünfte eher kühl aufgenommen wurde, gelang Dürrenmatt nun erneut ein Triumph: In der Saison 1962/63 war Die Physiker mit beinahe 1600 Aufführungen das meistgespielte Stück an deutschsprachigen Theatern; auch in London und New York kam die Komödie auf die Bühne. Außerdem wurde sie 1964 unter der Regie von Fritz Umgelter wiederum mit Therese Giehse in der Hauptrolle als Fernsehspiel inszeniert. Besonders enthusiastisch reagierte das Publikum in Westeuropa, während in den USA und in den Staaten des damaligen Ostblocks eine gewisse Skepsis vorherrschte. Dies hing sicher damit zusammen, dass die beiden von Geheimdiensten angeheuerten Physiker Einstein und Newton als Vertreter der USA und der Sowjetunion zu erkennen waren, auch wenn die beiden Länder im Stück nicht explizit erwähnt werden. Indem Dürrenmatt die beiden politischen Systeme Kapitalismus und Kommunismus moralisch auf eine Ebene setzte und beide gleichermaßen als Bedrohung für die Menschheit darstellte, beschwor er die Irritationen der jeweiligen ideologischen Anhänger herauf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor das Stück an politischer Brisanz, gegenwärtig ist es nicht mehr so oft auf der Bühne zu sehen. Dabei ist sein Kern nach wie vor aktuell: die Verantwortung des Naturwissenschaftlers für die Folgen seiner Forschung.

Über den Autor

Friedrich Dürrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protestantischer Pfarrer. In Bern besucht Dürrenmatt das Freie Gymnasium und das Humboldtianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmäßiger Schüler und bezeichnet die Schulzeit später als die übelste Phase seines Lebens. In Bern und Zürich studiert er Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaften. Seinen eigenen biografischen Schriften zufolge führt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr später heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er insgesamt drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes Theaterstück Es steht geschrieben uraufgeführt. Aus Geldnot verfasst Dürrenmatt Anfang der 50er Jahre seinen wohl bis heute bekanntesten Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begründen seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schriftsteller in einem eigenen Haus bei Neuchâtel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet Dürrenmatt 1984 die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein Verhältnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Max Frisch. Die anfängliche Freundschaft schlägt in gegenseitiges Ressentiment um, das auf persönlicher Antipathie und literarischen Differenzen beruht. Dürrenmatt erhält im Lauf seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Georg-Büchner-Preis. Sein literarisches Werk ist äußerst vielfältig: Neben Theaterstücken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, Erzählungen, Vorträge sowie autobiografische, literatur- und theatertheoretische Schriften. Daneben arbeitet Dürrenmatt zeitweise als Regisseur und ständig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.

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