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Dubliner

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Dubliner

dtv,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Joyce’ literarisches Debüt: ein Sittenporträt seiner Heimatstadt.


Literatur­klassiker

  • Erzählsammlung
  • Moderne

Worum es geht

Leben in der Sackgasse

Joyce’ Dubliner ist wahrlich keine Reklame für die irische Hauptstadt. Dublin wirkt darin derart marode und rückständig, dass man Moder, Staub und Asche buchstäblich auf dem Papier zu spüren meint. Joyce wirft einen schonungslosen Blick auf eine Gesellschaft voller Gescheiterter und Betrogener: Arbeitslose und Trinker, gelangweilte Angestellte und bevormundete Töchter. Manche haben künstlerische Ambitionen oder träumen von fernen Ländern, doch keinem gelingt es, aus seiner Routine auszubrechen. Stattdessen verharren die Bewohner Dublins in Lethargie und Benommenheit; Whisky und Bier fließen in rauen Mengen. Äußerlich geschieht in Joyce’ Geschichten wenig, die Handlungen sind banal, die Dialoge bisweilen lückenhaft und unverständlich. Innerlich wird jede Figur von etwas umgetrieben, das sich erst im Lauf der Erzählungen herauskristallisiert. Diese subtile Psychologisierung erschließt sich häufig erst beim zweiten Lesen. Wer Joyce’ Opus magnum Ulysses in Angriff nehmen möchte, für den ist Dubliner der perfekte Appetizer.

Take-aways

  • Diese Sammlung von 15 Erzählungen ist Joyce’ literarisches Debüt.
  • Inhalt: Dublin um 1900. Die Menschen sehnen sich danach, aus ihrem Trott auszubrechen, scheitern jedoch an ihren Ängsten. Sie verharren in Stagnation und werden sich in Alltagsgeschehnissen ihrer tristen Existenz bewusst. Noch mehr als Konfession oder Nationalität bestimmen materielle Zwänge das Leben. Das Streben nach Geld nimmt absurde Ausmaße an.
  • Die auf den ersten Blick nicht miteinander verbundenen Alltagsvignetten folgen einem genauen Strukturprinzip und bilden einen Lebenszyklus.
  • Entscheidende Ereignisse bleiben im Dunkeln, diffuse Anspielungen lassen eine Vielzahl von Deutungen zu.
  • Durch die Technik der erlebten Rede wird das Innenleben der Figuren offengelegt.
  • Eine Sonderstellung nimmt die letzte Geschichte Die Toten ein, die stark autobiografisch geprägt ist und zahlreiche Themen der vorhergehenden Erzählungen wieder aufgreift.
  • Dubliner spiegelt Joyce’ Hassliebe zu seiner Heimat Irland wider.
  • Anders als Joyce’ spätere experimentelle Romane Ulysses und Finnegans Wake sind die Erzählungen in psychologisch-realistischem Stil verfasst.
  • Das Buch wurde von zahlreichen Verlegern abgelehnt und erschien erst zehn Jahre nach Fertigstellung der ersten Geschichten.
  • Zitat: „Es gab keinen Zweifel: Wenn man erfolgreich sein wollte, musste man von hier weggehen. In Dublin konnte man nichts erreichen.“

Zusammenfassung

Die Schwestern

Pfarrer Flynn ist nach dem dritten Schlaganfall gestorben. Der kindliche Erzähler erinnert sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu an ihn. Flynn war zwar sein geistlicher und intellektueller Mentor; dennoch verspürt er nach dessen Tod ein Gefühl der Befreiung. Bei einem Besuch im Trauerhaus blickt er am Totenbett in das grimmige Gesicht des Verstorbenen. Die beiden Schwestern des Pfarrers halten die Totenwache. Aus ihrer Unterhaltung erfährt der Erzähler, dass der Priester ein enttäuschter, gebrochener Mann war: Seit er einen Kelch zerbrochen hatte, litt er unter geistiger Verwirrung; eines Nachts wurde er allein in seinem Beichtstuhl gefunden, leise lachend.

Eine Begegnung

Beflügelt von Wildwestromanen suchen der Erzähler – ein halbwüchsiger Junge – und sein Freund Mahony das Abenteuer. Sie schwänzen die Schule. Auf ihrem Streifzug durch das Viertel am Fluss begegnen sie einem seltsamen alten Mann, der sie anspricht. Er redet vom Wetter, von der Schulzeit, von Büchern und von „Liebchen“. Auf geheimnisvolle Weise wiederholt er seine Sätze, bricht dann plötzlich ab und entfernt sich ein Stück. Mahony beobachtet ihn dabei, wie er irgendetwas Merkwürdiges tut, der Erzähler weigert sich jedoch hinzusehen. Während Mahony einer Katze nachjagt, kehrt der Mann zurück und schwadroniert über die körperliche Züchtigung von Jungen. Der Erzähler ist heilfroh, als er sich dem Mann entziehen kann und Mahony wiedertrifft.

Arabia

Der pubertäre Erzähler, aufgewachsen bei Onkel und Tante in einem ärmlichen Viertel Dublins, schwelgt in romantischer Zuneigung für die Schwester seines Freundes Mangan. Er verfolgt jede ihrer Bewegungen und hat nur noch ihr Bild vor Augen. Als sie ihn eines Tages anspricht und ihn fragt, ob er zum Basar Arabia gehe, den sie selbst leider nicht besuchen könne, gibt er ihr das Versprechen, ihr von dort etwas mitzubringen. Doch durch eine Verkettung unglücklicher Umstände gelangt er erst kurz vor der Schließung zum Basar. Er schafft es nicht mehr, ihr ein Geschenk zu kaufen.

Eveline

Die 19-jährige Eveline sitzt am Fenster und erinnert sich an ihre glückliche Kindheit. Inzwischen ist ihre Mutter gestorben, Eveline arbeitet als Verkäuferin und fürchtet sich vor ihrem gewalttätigen Vater. Sie hat sich in den Seemann Frank verliebt und hofft, mit ihm nach Buenos Aires auswandern zu können. Melodien erinnern sie an die letzte Nacht ihrer todkranken Mutter. Hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu ihrer Familie und der Liebe zu Frank, verzichtet sie schließlich darauf, dem Seemann auf das Schiff zu folgen. Sie bleibt regungslos zurück.

Nach dem Rennen

Jimmy Doyle, der 26-jährige Sohn eines zu Reichtum gekommenen Metzgers, amüsiert sich nach einem Autorennen in Dublin mit drei Lebemännern aus Frankreich: Charles Ségouin, der eines der Autos besitzt und in Frankreich einen Autosalon eröffnen will, André Rivière, ein Elektriker aus Kanada, der der Geschäftsführer werden soll, und der Ungar Villona. Berauscht flitzen sie mit dem Auto durch Dublin. Jimmy hat in Irland und England studiert, in Cambridge das verschwenderische Leben kennen gelernt und gerade einen erheblichen Teil seines Vermögens in Ségouins Motorenfirma investiert. Autos scheinen die Investition der Zukunft zu sein. Man diniert exquisit bei Jimmys Eltern und besteigt dann die Jacht eines Amerikaners. Benommen vom Alkohol stürzen sich die Männer ins Kartenspiel; Jimmy verliert dabei riesige Summen Geld. Er weiß, wie sehr er es am nächsten Tag bereuen wird, doch jetzt will er nicht daran denken.

Zwei feine Herren

Der arbeitslose, aber selbstgefällige Corley berichtet seinem Kneipenfreund Lenehan von seiner neuen Liebelei mit einem Hausmädchen, das ihm Zigaretten mitbringt und ihm die Straßenbahn bezahlt. Lenehan gilt allgemein als Schnorrer, doch er versteckt sein Schmarotzertum geschickt hinter einer Fassade der Wortgewandtheit. Während Corley auf dem Weg zu einem weiteren Rendezvous ist, prahlt er mit seinen Eroberungen. Lenehan und Corley verabreden sich für später; bis dahin soll Corley bei seinem Mädchen „etwas erreichen“. Nachdem die beiden Männer sich getrennt haben, streift Lenehan ziellos in der Stadt umher. Er isst in einem Lokal, trifft Freunde und passt schließlich Corley ab, der von seinem Rendezvous zurückkehrt. Stolz präsentiert er das Goldstück, das das Mädchen ihm besorgt hat.

Die Pension

Die resolute Mrs Mooney hat sich von ihrem trunksüchtigen Mann getrennt und eine Pension eröffnet, in der Feriengäste und Büroangestellte unterkommen. Sie führt ein straffes Regiment. Derweil trägt die 19-jährige Tochter Polly zur Unterhaltung bei und bezirzt die Gäste. Als Mrs Mooney von der Affäre ihrer Tochter mit Mr Doran, Gast ihrer Pension und respektabler Mitarbeiter einer Weinhandlung, erfährt, nutzt sie die Gunst der Stunde: Sie will ihre Tochter unter die Haube bringen. Sie nimmt den jungen Mann ins Gebet und verlangt Wiedergutmachung. Mr Doran möchte zwar lieber frei bleiben, anstatt Polly zu ehelichen. Doch er sitzt bereits in der Falle und kann nicht anders, als in die Heirat einzuwilligen.

Eine kleine Wolke

Little Chandler trifft nach langen Jahren seinen Jugendfreund Gallaher wieder, der inzwischen Starjournalist in London ist. Im Gegensatz zu ihm fristet Little Chandler ein bescheidenes Dasein als Schreiberling in Dublin. Trübselig und mutlos träumt er davon, als Dichter Erfolg zu haben. Gallaher berichtet vom unmoralischen Treiben in den Metropolen, von Lebenslust und Frauen, schwärmt besonders von der Beschwingtheit und Leichtigkeit in Paris. Gallaher will sich nicht binden und höchstens gegen Geld heiraten, was Little Chandler seine armselige Existenz mit Frau und Kind umso bewusster macht. Zu Hause muss er, während seine Frau rasch einkaufen geht, das schlafende Kind hüten. Er ertappt sich dabei, wie ihm seine Frau teilnahmslos und spießig erscheint. Als das Kind nicht zu weinen aufhört, schreit er es unbeherrscht an und bereut seine Reaktion kurz darauf.

Gegenstücke

Farrington, ein Schreiber in einer Anwaltskanzlei, wird von seinem Chef gerüffelt. Aus Wut genehmigt er sich während der Arbeit eine Auszeit in der Bierstube, was eine weitere Maßregelung zur Folge hat. Als er sich bei seinem Chef wegen mangelnder Fairness beschwert, droht ihm dieser mit Rausschmiss. Frustriert und wütend versetzt Farrington nach Feierabend seine Uhr, um an Geld zu kommen und die Nacht mit Freunden zu durchzechen. Vor ihnen prahlt er mit seinem angeblich aufmüpfigen Verhalten. Doch dann wird er von einem englischen Jüngelchen beim Armdrücken besiegt und kehrt gedemütigt heim. Dort entlädt sich seine Wut an seinem kleinen Sohn, auf den er wütend einschlägt, weil dieser das Feuer für das Aufwärmen des Abendessens hat ausgehen lassen.

Erde

Maria arbeitet in einer Waschanstalt, wo ihr redliches, gutes Wesen von allen geschätzt wird. Sie behauptet, keinen Mann zu wollen, ist aber innerlich enttäuscht und einsam. Am Halloween-Abend ist sie bei Joe, einem ihrer Ziehsöhne, und seiner Familie zum Essen eingeladen. Auf dem Weg dorthin macht ihr in der Straßenbahn ein älterer Mann Platz und spricht sie an. Verwirrt vergisst Maria ihre Mitbringsel in der Bahn. Bei Joes Familie spielt man vergnügt ein Spiel, bei dem jemand mit verbundenen Augen Gegenstände berühren muss. Als Maria an der Reihe ist und etwas Weiches, Feuchtes berührt, offenbar Erde aus dem Garten, geraten die Freunde in betroffenes Flüstern und tauschen die Erde schnell gegen ein Gebetbuch aus: Noch bevor das Jahr um sei, so bedeutet dies, werde sie in ein Kloster eintreten.

Ein trauriger Fall

James Duffy geht einem bescheidenen, gleichförmigen Leben als Kassierer bei einer Privatbank nach. Nichts schätzt er mehr als Ordnung und Routine. Bei einem Konzert lernt er Mrs Sinico kennen, deren Mann Kapitän auf einem Handelsschiff ist, sodass sie meist allein ist. Die beiden freunden sich an, und er öffnet ihr bei den Treffen in ihrem Haus immer mehr sein Herz. Als sie jedoch eines Abends ungewöhnlich erregt seine Hand ergreift, beendet er die Beziehung abrupt. Von Konzerten hält er sich von nun an fern, um sie nicht wiederzutreffen. Jahre später erfährt er durch eine Zeitungsmeldung, dass sie betrunken die Gleise überquert hat und von einem Zug überfahren wurde. Er ist schockiert, redet sich jedoch ein, dass er keine Schuld an ihrem Tod trägt. Zugleich wird ihm klar, dass seine Existenz ähnlich einsam enden wird.

Efeu-Tag im Sitzungszimmer

Am Todestag des irischen Politikers Charles Stewart Parnell treffen sich Wahlkämpfer und Stimmenwerber für Lokalpolitiker verschiedener Couleur und reden beim Bier über Politik und den anstehenden Besuch des englischen Königs Edward VII. Einer der Stimmenwerber rezitiert abschließend ein Gedicht über Parnells Tod und verurteilt diejenigen, die ihn verraten haben. Für einen Moment sind parteipolitische Differenzen vergessen.

Eine Mutter

Die resolute Mrs Kearney versucht, die Bewegung zur Wiederbelebung der irischen Kultur zu nutzen, um das Ansehen ihrer Familie zu heben. Tochter Kathleen soll als Klavierspielerin vier große Konzerte begleiten und dafür eine ansehnliche Summe kassieren. Die Sänger sind jedoch mittelmäßig und die Konzerte schlecht besucht. In der Sorge, ihre Tochter könnte die versprochene Gage nicht erhalten, erpresst die unnachgiebige Mrs Kearney die Veranstalter mit der Drohung, Kathleen werde nicht weiterspielen, bevor sie die Gage erhalten habe. Als die Veranstalter sich weigern, die gesamte Summe sofort auszuzahlen, lässt Mrs Kearney zusammen mit ihrer Tochter die Musiker während der Konzertpause sitzen.

Gnade

Tom Kernan, ein Handlungsreisender, ist im Suff in der Kneipe zusammengebrochen und wird von seinem Freund Mr Power nach Hause gebracht. Dieser ist ein sozialer Aufsteiger, während Kernan ein Verlierer und Trinker ist. Nun jedoch will Mr Power einen neuen Menschen aus ihm machen und schmiedet mit drei Freunden einen Plan. Anlass ist, dass Kernan zwar für seine Frau zum Katholizismus übergetreten ist, aber dennoch seit Jahren alles Katholische verachtet. Die Männer behaupten, in einen Bußgottesdienst gehen und ihre Sünden beichten zu wollen; Kernan solle mitkommen, schlagen sie vor. Kernan willigt ein, stellt aber schon im Voraus klar, dass er keine Kerzen anzünden werde, wie es die Katholiken machten. Im Gottesdienst tritt Pfarrer Purdon als „geistlicher Buchprüfer“ auf und animiert die vermeintlich Büßenden, die Buchführung in ihrem Leben in Ordnung zu bringen.

Die Toten

Beim alljährlichen Ball von Tante Kate und Tante Julia kommt die Dubliner Gesellschaft zu Tanz, Musik und Essen zusammen. Neffe Gabriel soll eine Rede halten und sorgt sich, sie könnte angesichts ihrer literarischen Anspielungen zu abgehoben für das Publikum sein. Bereits gegenüber dem Dienstmädchen Lily hat er sich im Ton vergriffen, auch beim Tanz kommt es zu Verstimmungen, als ihn Miss Ivors beschuldigt, seine irische Kultur nicht genügend zu kultivieren: Gabriel spreche kein Gälisch, schreibe für eine probritische Zeitung und mache auf dem Kontinent Urlaub. Gabriel kann sich nicht verkneifen zuzugeben, wie satt er sein Land tatsächlich hat. Um die Stimmung nicht zu vermiesen, muss er sich jedoch mit weiteren Kommentaren zurückhalten und zudem den ständig beschwipsten Freddy in Schach halten, damit dieser die Gastgeberinnen nicht blamiert. In seiner Festrede rühmt Gabriel die irische Gastfreundschaft und singt ein Loblied auf die Gastgeberinnen; er befürchtet, dass der jüngeren Generation die Menschlichkeit, die Gastfreundschaft und der Humor der älteren Generation fehlen werde. Beim Abschied sind die Gäste fröhlich und ausgelassen. Alle Verstimmungen scheinen bereinigt.

„Als ich hinauf in die Dunkelheit starrte, sah ich mich als ein Geschöpf, von Eitelkeit getrieben und lächerlich gemacht, und meine Augen brannten vor Verzweiflung und Wut.“ (Arabia, S. 39)

Kurz vor ihrem Aufbruch sieht Gabriel seine Frau Gretta plötzlich in neuem Licht: Ihre geheimnisvolle Anmut lässt seine Liebe zu ihr neu aufflammen. Er ist überglücklich; sie jedoch wirkt ernst und betroffen, weil sie durch ein Lied an ihren ersten Freund erinnert wurde, der wegen ihr sein Leben riskierte und starb. Zunächst zornig und eifersüchtig, fühlt sich Gabriel schließlich gedemütigt und beschämt. Von dieser Romanze hat er nichts gewusst. Seine unbedeutende Rolle als Ehemann und die menschliche Vergänglichkeit als solche werden ihm schmerzlich bewusst.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Geschichten in Dubliner waren ursprünglich nicht als Zyklus gedacht, erst nachträglich fügte Joyce sie in einer bestimmten Reihenfolge zu einem Ganzen zusammen: So sind die ersten drei Geschichten der Kindheit gewidmet, die folgenden vier der Adoleszenz, die nächsten vier dem reifen Lebensalter und die letzten vier dem öffentlichen Leben. Gemeinsamer Nenner aller Erzählungen ist natürlich vor allem ihr Schauplatz, Dublin. Stilistisch sind die Texte von detaillierten Figurenbeschreibungen geprägt. Der Autor leuchtet schonungslos jede körperliche Absonderlichkeit, jede vulgäre Geste und die derbe Alltagssprache aus, er entlarvt jede fliehende Stirn, jeden gebeugten Rücken und jedes wiehernde Gelächter. Ähnlich wie sein Vorbild Gustave Flaubert geht Joyce wie ein Chirurg mit kühler Distanz ans Werk, als wollte er seine Figuren sezieren. Zugleich ist ihm jeglicher Moralismus fern. Wie Flaubert macht er außerdem starken Gebrauch von der erlebten Rede: Die Perspektive wechselt häufig kaum merklich von einer Außensicht zu den Empfindungen einer Figur. Einen allwissenden Erzähler sucht man vergebens. Die Toten ist als eine Art Epilog deutlich länger als die übrigen Erzählungen. Dieser Text nimmt eine Vielzahl von Themen wieder auf und weist bereits auf die Gattung hin, die Joyce’ Schreiben von nun an dominieren wird: den Roman.

Interpretationsansätze

  • Die Paralyse ist ein zentrales Thema. Mit Pater Flynns Lähmung nach einem Schlaganfall taucht sie gleich in der ersten Geschichte auf. In anderen Erzählungen geht es eher um moralische oder gesellschaftliche Fesseln, die die Figuren sich z. T. selbst angelegt haben.
  • In jeder Geschichte erlebt die zentrale Figur eine Art Epiphanie oder Erleuchtung: Ihr wird ihre Isoliertheit, ihre Ängstlichkeit und ihr kümmerliches Dasein schmerzlich bewusst.
  • Die Art und Weise, wie Lenehan in Zwei feine Herren ziellos durch Dublin läuft, ist bezeichnend für alle Figuren: Sie drehen sich im Kreis und scheitern bei dem Versuch, aus der erstickenden Enge Dublins auszubrechen. Unfähig, sich gegen Ausbeutung und Demütigung aufzulehnen, wiederholen sie die vertrauten Verhaltensmuster der Brutalität und Selbstsucht gegenüber Menschen, die ihnen unterlegen sind.
  • Alle Geschichten enden abrupt, Dialoge brechen ab, entscheidende Geschehnisse bleiben häufig im Dunkeln. Diese Informationslücken geben zu einer Vielzahl von Interpretationen Anlass: War Pater Flynn pädophil? Was treibt der seltsame Mann in Eine Begegnung in der Gesprächspause? Wie genau läuft das Gespräch zwischen der Pensionsbesitzerin Mrs Kearney und dem Liebhaber ihrer Tochter ab? Leser können über die Antworten nur spekulieren.
  • Die Erzählperspektive wechselt häufig. Oft fällt es schwer, zu sagen, aus welcher Sicht gerade berichtet wird. Mal nimmt der Erzähler die Perspektive eines Kindes ein, benutzt jedoch das Vokabular eines Erwachsenen. In anderen Geschichten schlüpft der Erzähler klar in die Rolle einer Figur, verfügt dann jedoch wieder über Informationen, die diese unmöglich haben kann. Joyce experimentiert mit verschiedenen Erzählperspektiven und lässt so seine späteren, noch viel radikaleren Erzählexperimente in Ulysses und Finnegans Wake erahnen.

Historischer Hintergrund

Irland um 1900

Irland war um 1900 vermutlich das ärmste Land Europas. Noch in den 1890er Jahren war es zu Hungersnöten gekommen, zudem wirkte die Große Hungersnot von 1845–1849 nach, die mehr als 10 % der irischen Bevölkerung das Leben gekostet hatte. Die Verbitterung gegenüber der britischen Kolonialregierung war groß, politischer Aktivismus jedoch kaum spürbar. Die Auswanderung erschien vielen als der einzige Ausweg. Eine weitere Folge der Hungersnot war der beschleunigte Untergang des Gälischen, das bereits im 18. Jahrhundert vom Englischen als Sprache der oberen Gesellschaftsschicht, der Verwaltung und Regierung verdrängt worden war. Die wenigen Iren, die noch Gälisch sprachen, gehörten größtenteils der unteren Gesellschaftsschicht an, die der Hungersnot hauptsächlich zum Opfer fiel.

Irland war sowohl politisch als auch wirtschaftlich vom britischen Königreich abhängig – und Dublin im Vergleich zu Metropolen wie Paris oder London ein Provinznest. Es war weder Handelsumschlagplatz noch Industriezentrum und damit vom Rest der Welt relativ abgehängt, erst recht, wenn es um Kunst- und Geistesströmungen ging. Kein Wunder also, dass die Kontinentaleuropäer den Dublinern als mondäne Lebemänner und überlegene Kosmopoliten erschienen. Diese gesellschaftliche Starre verdankte die irische Gesellschaft auch der katholischen Kirche, die mit ihrem strengen Moralkodex Irlands Rückständigkeit zu diesem Zeitpunkt noch verstärkte. Das Schulwesen befand sich in der Hand der Kirche, somit besaß sie einen prägenden Einfluss auf die nachwachsende Generation.

Zwar gab es insbesondere dank dem irischen Politiker Charles Stewart Parnell ab den 1870er Jahren stärkere Bestrebungen, die sozialen und politischen Verhältnisse zu ändern und die Selbstverwaltung („Home Rule“) durchzusetzen. Parnell stolperte jedoch über eine Liebesaffäre. Obwohl die Kirche eine Zeit lang mit Parnell und der nationalistischen Bewegung sympathisiert hatte, fiel sie ihm in den Rücken, als seine Affäre mit einer verheirateten Frau aufflog. Die Hoffnungen auf Selbstbestimmung wurden daraufhin auf Jahre hin begraben. Erst beim Osteraufstand 1916 kam es zu erneuten Protesten gegen die Briten, die 1922 schließlich zu Irlands Unabhängigkeit führten.

Entstehung

Die Erzählungen spiegeln Joyce’ Hassliebe zu Irland wider: Der Schriftsteller hatte selbst nur halbherzig Gälisch gelernt und tat irischen Nationalismus als romantische Schwärmerei ab. Er suchte nicht das mystische, heroische Irland vergangener Zeiten, sondern wollte der Gesellschaft seiner Zeit den Spiegel vorhalten. Zwar war er katholisch erzogen worden, rebellierte jedoch sein Leben lang gegen die strenge Disziplin und repressive Moral der katholischen Kirche.

Joyce selbst hat die schriftstellerische Absicht, die ihn beim Schreiben von Dubliner leitete, klar benannt: „Meine Absicht war es, ein Kapitel der Sittengeschichte meines Landes zu schreiben, und ich habe Dublin als Schauplatz gewählt, weil mir diese Stadt das Zentrum der Paralyse zu sein schien.“

Die erste Geschichte, Die Schwestern, schrieb er 1904, die letzte, Die Toten, 1907. Die Jahre dazwischen waren für ihn eine Zeit wirtschaftlicher Sorge und kultureller Neufindung, da er 1904 nach Italien ausgewandert war und in ärmlichen Verhältnissen lebte. Meist schlug er sich mehr schlecht als recht als Englischlehrer durch, kurze Zeit arbeitete er in einer Bank, zudem wurden 1905 sein Sohn Giorgio und 1907 seine Tochter Lucia geboren, sodass Joyce nun eine Familie ernähren musste.

Der ungeschminkte Realismus seiner Geschichten machte es Joyce schwer, einen Verlag zu finden. Zwar konnte er die drei ersten Erzählungen bereits früh in der Zeitschrift Irish Homestead veröffentlichen, doch die Leserproteste waren so groß, dass die vierte Geschichte abgelehnt wurde. Verschiedene Verlage, bei denen er bereits einen Vertrag unterschrieben hatte, machten einen Rückzieher, als Joyce sich weigerte, größere Änderungen an den Texten vorzunehmen. Erst 1914 erschienen die Erzählungen in Buchform bei Grant Richards in London.

Wirkungsgeschichte

Zwar lösten die Erzählungen bei ihrem Erscheinen keinen literarischen Skandal aus, doch größere Anerkennung blieb ebenfalls aus. Von einem finanziellen Erfolg konnte keine Rede sein. Für Joyce jedoch war Dubliner eine Art Initialzündung. Viele der Figuren aus den Erzählungen tauchen in seinem berühmten Roman Ulysses wieder auf, der zunächst als Teil der Dubliner-Geschichten geplant war.

Der Film Die Toten (1987) von John Huston und ein gleichnamiges Broadway-Musical von 2000 beruhen auf der letzten Erzählung von Dubliner.

Über den Autor

James Joyce wird am 2. Februar 1882 in Dublin geboren. Seine Ausbildung beginnt in der Jesuitenschule Clongowes Wood. Anschließend besucht er bis 1898 das Royal University College in Dublin. 1902 zieht er ins Ausland, weil er das konservative, katholische Irland nicht mehr erträgt. Seine antikatholische Haltung wird sich später auch in seinen Werken niederschlagen, was ihm herbe Kritik aus dem konservativen Lager einbringt. In Paris beginnt er ein Medizinstudium, beendet es aber nicht. Joyce’ sprachliches Talent tritt bereits in jungen Jahren zutage: So übersetzt er beispielsweise Gerhart Hauptmann und schreibt Briefe an den von ihm verehrten Henrik Ibsen – auf Norwegisch. 1904 versucht sich Joyce in Gedichten und Kurzgeschichten. Nach einer vorübergehenden Rückkehr nach Dublin zieht er nach Triest, wo er eine Stelle als Sprachlehrer annimmt. Im Jahr 1914 erscheint die Kurzgeschichtensammlung Dubliners (Dubliner). 1915 zieht Joyce weiter nach Zürich. Hier kommt er mit den Dadaisten und Expressionisten in Berührung. Ein Jahr später erscheint der Roman A Portrait of the Artist as a Young Man (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, 1916), der Joyce einem breiteren Publikum bekannt macht. Weltweiten Ruhm erlangt er mit dem Roman Ulysses, der erst 1922 in Buchform erscheint, weil der Abdruck in einer amerikanischen Zeitschrift von der Zensur untersagt wird. In den 20er Jahren zieht Joyce mit seiner Familie nach Paris. 1939 publiziert er mit Finnegans Wake sein vielleicht surrealstes und rätselhaftestes Werk. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris flieht Joyce erneut nach Zürich. Dort erleidet er 1941 einen Darmdurchbruch, von dem er sich nicht wieder erholt. Er stirbt am 13. Januar 1941.

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