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Fragmente einer Sprache der Liebe

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Fragmente einer Sprache der Liebe

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Roland Barthesʼ persönlichstes und beliebtestes Buch gewährt tiefe Einblicke in das Denken des Liebenden.


Literatur­klassiker

  • Essay
  • Moderne

Worum es geht

Eine Rehabilitation der romantischen Liebe

In den späten 70er-Jahren galten Liebe und Treue als überholt, wenn nicht gar reaktionär. Roland Barthesʼ Buch über die Sprache der Liebe, das 1977 erschien, passte so gar nicht zum Zeitgeist. Der französische Strukturalist und Semiologe versucht sich dem Phänomen Liebe nicht metasprachlich und analytisch zu nähern, sondern indem er die Sprache der Liebe „nachbildet“. Diese sei nicht logisch, kohärent oder transzendent, sie beinhalte nur Redebruchstücke, banale Floskeln und Formeln, die der Liebende ununterbrochen hin- und herwälze. Diese „Figuren“, die aus Gelesenem, Gehörtem und selbst Erlebtem bestehen, fügt Barthes zu einer Art Mosaik zusammen. So finden sich philosophische Betrachtungen Nietzsches neben persönlichen Erlebnissen, und auf die Analyse einer Passage aus Goethes Werther folgt die Schilderung des Liebesleids aus der Ich-Perspektive. Bei aller Skepsis bejaht Barthes die Liebe. Darin besteht das Unzeitgemäße, aber auch das Zeitlose seines Werks.

Take-aways

  • Fragmente einer Sprache der Liebe ist Roland Barthesʼ persönlichstes und erfolgreichstes Buch.
  • Inhalt: Über die Liebe lässt sich nicht aus der Distanz schreiben, man kann nur den Diskurs des Liebenden abbilden. Dieser Diskurs besteht aus „Figuren“, sprachlichen Bruchstücken aus Gelesenem, zufällig Gehörtem und selbst Erlebtem. Sie bestimmen das Selbstgespräch, das der einsame, aus der Gesellschaft ausgeschlossene und auf sich selbst zurückgeworfene Liebende führt.
  • Barthesʼ 1977 erschienenes Buch besteht aus Essays zu alphabetisch geordneten Stichwörtern.
  • Zu den literarischen und philosophischen Kronzeugen des Autors zählen neben Goethe vor allem Proust, Nietzsche, Freud und die Mystiker.
  • Barthes thematisiert in dem Buch erstmals mit subtilen Hinweisen seine Homosexualität. 
  • Barthes wurde durch die unerwiderte Liebe zu einem seiner Studenten zu dem Buch inspiriert.
  • Seine Sprache wechselt zwischen strukturalistisch-wissenschaftlichem Duktus und lockerem Plauderton.
  • Barthesʼ Rehabilitation der romantischen Liebe stand im Widerspruch zum Zeitgeist der 70er-Jahre.
  • Fragmente einer Sprache der Liebe wurde zu einem weltweiten Besteller und beeinflusste Genderstudien ebenso wie Romane und Filme.
  • Zitat: „Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist.“

Zusammenfassung

Die Einsamkeit des Liebenden

Für die Liebe existiert keine angemessene Sprache. Im öffentlichen Diskurs erscheint der Liebende als Verrückter, der von seinem Leiden geheilt werden und wieder „normal“ werden muss. Die christliche Religion empfiehlt ihm Verdrängung, die Psychoanalyse erklärt, sein Leiden sei nur imaginär. Weil ihn keiner versteht, ist der Liebende einsam.

„Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist.“ (S. 17)

Dem auf sich selbst zurückgeworfenen Liebenden stehen nur umrisshafte, wiedererkennbare sprachlich-szenische Fragmente zur Verfügung, „Figuren“, die in seinem Kopf wild durcheinanderschießen. Diese Figuren stammen aus Büchern, die er gelesen hat, aus Gesprächen, die er mit Freunden geführt hat, und aus Situationen, die er selbst erlebt hat. Sie bestimmen das Selbstgespräch, das der Liebende unablässig führt, sie tauchen auf und verschwinden wieder, und zwar zufällig, ohne erkennbare Logik.

Abwesenheit

Die Abwesenheit des Geliebten ist Gegenstand zahlreicher Lieder und Geschichten. Der Diskurs der Abwesenheit ist traditionell von der Frau geprägt: Sie ist die Sesshafte, Treue, der Mann ist der Herumreisende, Flüchtige, auf dessen Rückkehr sie wartet. Daraus ergibt sich die Grunderfahrung aller Liebenden, mehr zu lieben, als geliebt zu werden. Roland Barthes kennt diesen Zustand aus eigener Erfahrung. Er wurde schon früh darauf dressiert, wie er mit ihm umzugehen hatte – durch die Abwesenheit der Mutter. Erst war es unerträglich, doch mit der Zeit lernte er zu vergessen und damit, die Abwesenheit leidlich zu ertragen. 

„Ich handele als ordentlich entwöhntes Kind; wartend weiß ich mich von anderen Dingen zu ernähren als von der Mutterbrust.“ (S. 32)

Körperlich äußert sich das Gefühl der Abwesenheit in der Sehnsucht. Der Geliebte ist zwar körperlich nicht da, aber doch in den Gedanken des Liebenden ständig präsent. Im Geiste spricht er den Abwesenden direkt an, inszeniert Geschichten und hält ihn durch diese sprachlichen Konstruktionen am Leben.

Anbetungswürdig

Wenn etwas anbetungswürdig ist, wird es einerseits ganzheitlich wahrgenommen, andererseits wohnt dem Wahrgenommenen etwas inne, das nicht beschrieben werden kann, sondern einen sprachlos zurücklässt. In seinem Leben begegnet der Mensch vielen Personen, von denen er einige begehrt, aber nur einen wirklich liebt. Warum sich die Liebe gerade auf diese Person richtet, bleibt unerklärlich. Ist es ein Körperteil, der ganze Körper, eine Geste, ein Satz? Letztlich muss man sich darin fügen, dass es sich um eine Tautologie handelt: Man betet jemanden an, weil dieser anbetungswürdig ist.

Auswege

Im Nachdenken über mögliche Auswege aus dem Liebeswahn findet der Liebende kurzfristig Trost. Selbstmord, Trennung oder eine Reise sind nur einige Möglichkeiten, der Liebeskrise zu entfliehen. Solche Lösungsideen sind immer mit Pathos und Theatralik verbunden. Indem er sich Lösungsmöglichkeiten ausmalt, schafft der Liebende eine Fiktion. Er wird zum Künstler, zum Autor seines eigenen bürgerlichen Trauerspiels. Allerdings bieten solche imaginären Lösungen nicht wirklich einen Ausweg, sondern sind Teil des Systems Liebe.

Bejahung

Liebende sind unheilbar. Trotz aller Krisen und Zweifel, trotz aller vernünftigen Einwände gegen die Liebe halten sie am Wert der Liebe fest. Die Unterscheidung in Richtig oder Falsch, Erfolg oder Misserfolg, die unser Denken und Handeln bestimmt, hat für den Liebenden keine Gültigkeit. Er entzieht sich jeder Zweckgebundenheit und Logik und liefert sich dem Zufall aus.

Einbezogen

Ein Kinderspiel veranschaulicht die Situation des unglücklich Liebenden: Eine bestimmte Anzahl von Kindern läuft zur Musik im Kreis um Stühle herum, wobei es einen Stuhl zu wenig gibt. Wenn die Musik stoppt, suchen sich alle so schnell wie möglich einen Sitzplatz. Dasjenige Kind, das am wenigsten geschickt, rücksichtslos oder glücklich ist, geht leer aus. Ebenso sieht sich der Verliebte ausgeschlossen aus einem System, ist kein Teil von Strukturen, die ihm Halt geben könnten.

Entwertung

Goethes Werther liebt Lotte, eine unbedeutende Frau ohne Reize, weil er sie als erschütterndes, großartiges Wesen imaginiert und inszeniert. Man muss sich nur der Unscheinbarkeit und Durchschnittlichkeit des Geliebten bewusst werden, um zu erkennen, dass es eigentlich die Liebe selbst ist, die wir lieben, und das Objekt nur als eine Art Platzhalter fungiert.

„Und wenn der Tag kommt, an dem ich mich dazu entschließen muss, auf den Anderen zu verzichten, so ist die heftige Trauer, die mich dann ergreift, die Trauer um das Imaginäre selbst: Es war eine mir teure Struktur, und ich beweine den Verlust der Liebe, nicht dieser oder jener Person.“ (S. 88 f.)

Diese Entwertung des Liebesobjekts hilft dem Liebenden zwar, mit Verletzungen wie etwa der Eifersucht besser umzugehen. Doch es bereitet ihm Schmerz, den Geliebten auf diese Weise herabgewürdigt zu sehen. Deshalb kehrt er die Entwertung wieder um und sein Leid beginnt von Neuem.

Entwirklichung

Der Liebende ist nicht von dieser Welt. Wenn er auf einen Telefonanruf wartet, nimmt er nichts mehr von seiner Umgebung wahr. Im Restaurant unter Freunden oder allein im Café ist er genervt vom Lärm und dem ganzen Treiben um sich herum, fühlt sich nicht als Teil davon. Wie Goethes Werther, dem die Natur starr erscheint, lässt ihn der schönste Anblick kalt. Jedes Gespräch, an dem er teilnehmen muss, ist eine Qual. Die Welt der anderen ist ihm fremd, das Reale und Normale stört ihn, es drängt sich ihm auf und er lässt es über sich ergehen.

Erfüllung

Der glücklich Liebende, dessen Begierde erfüllt wird, hat keine Sprache. Er steht über ihr und verspürt vielmehr einen unaussprechlichen Jubel. Nur wenn er verletzt wird, führt er seinen Diskurs der Liebe.

Erwartung

Im Grunde ist Verliebtsein gleichbedeutend mit Warten. Wie das Kind auf die Wiederkehr der Mutter wartet, so wartet der Liebende auf einen Anruf des Geliebten oder auf sein Auftauchen bei einer Verabredung. Verspätet sich der Geliebte oder bleibt sein Anruf aus, verfällt er in panische Angst. Dagegen fühlt sich jede erfüllte Erwartung feierlich an – es fehlt der Sinn für Proportionen. 

„Die fatale Identität des Liebenden ist nichts anderes als dieses ‚Ich bin der, der wartet‘.“ (S. 103)

Der Andere dagegen ist niemals in der Rolle des Wartenden. Dem Liebenden gelingt es niemals, zum Nicht-Wartenden zu werden. So sehr er sich bemüht, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen oder selbst einmal zu spät zu kommen, er wird immer scheitern. 

Habenwollen

Ein Weg, das Liebesleiden zu verringern, ist die Entscheidung, den Anderen nicht besitzen zu wollen. Das gelingt, indem man sich fallen lässt und die Dinge nach Art des Zen einfach geschehen lässt. Wesentlich dabei ist, nichts anzustreben, alles gleichmütig vorbeiziehen zu lassen, ohne es besitzen zu wollen oder es abzulehnen – auch das aktive Nichthabenwollen.

Hingerissenheit

Bei der Liebe auf den ersten Blick lieben wir im ersten Moment ein Bild – nicht nur ein visuelles, sondern auch eine Bewegung, eine Haltung oder einen Satz, den jemand sagt. Der Beginn der Verliebtheit, dem oft ein Zustand der Leere vorausgeht, ist eine plötzliche und überraschende Verzauberung, ein „Raub“, das Füllen der Leere. Diese mystisch überhöhte Anfangsszene der Liebe, die zur Illusion dazugehört, kann auch nachträglich in der Erinnerung rekonstruiert werden.

Ich liebe dich

Hat der Liebende seine Liebe erst einmal gestanden, ist der Satz „Ich liebe dich“ eine leere Formel, die lediglich die Botschaft wiederholt. Unter linguistischem Gesichtspunkt mag der Satz „Ich liebe dich“ korrekt sein, inhaltlich aber ist er merkwürdig unbestimmt, sinnlos.

„Das Wort ist, nicht mehr als das des Kindes, keinem sozialen Zwang unterworfen; es kann ein sublimes, feierliches, leicht hingesprochenes, es kann ein erotisches, pornografisches Wort sein. Es ist ein Wort, das gern die gesellschaftlichen Tapeten wechselt.“ (S. 138)

Auf diese Formel, die zu keinem Ritual gehört, sondern in den verschiedensten Situationen ausgesprochen werden kann, gibt es im gesellschaftlichen Diskurs verschiedene mögliche Antworten, zum Beispiel „Ich nicht“ oder „Das glaube ich nicht“. „Ich auch“ ist eine weitere, wenn auch kraftlose Antwort. Die schlimmste Zurückweisung besteht darin, keine Antwort zu geben. Damit sich der Satz dem Gesetz des Tausches, der Buchführung entzieht, müsste er von beiden Liebenden gleichzeitig ausgesprochen werden.

„Der Diskurs der Liebe erstickt den Anderen, der unter diesem massiven Redeschwall keinen Raum für seine eigene Sprache findet.“ (S. 172)

„Ich liebe dich“ ist weniger ein Symptom als vielmehr eine Aktion: Es wird nach einer Antwort verlangt. Gegen Wissenschaft und Vernunft, ja gegen die Sprache drückt sich darin eine Bejahung der Kraft der Liebe aus. Wer sich dieser Formel nicht bedient, muss auf andere unsichere Zeichen zurückgreifen, auf Blicke, Gesten, Mienen oder Seufzer. Diese Zeichen und Andeutungen von Liebe sind es, von denen Liebesromane leben, die die Liebe nur darstellen und auf den äußeren Schein reduzieren.

Lästig

Ständig wird der Liebende in seinem Anspruch gestört, den Geliebten für sich allein zu haben. Jemand, der sich im Restaurant ungebeten mit an den Tisch setzt, Leute am Nachbartisch, die die Aufmerksamkeit des Geliebten erregen, ein Buch, in das er sich vertieft – alles erregt gleichermaßen die Eifersucht des Liebenden.

„Die Welt ist eben dies: ein Zwang zum Teilen. Die Welt (der Weltläufige) ist mein Rivale.“ (S. 161)

Darin besteht der Widerspruch: Einerseits muss das geliebte Wesen „gut“ sein, denn als solches ist es vollkommen. Andererseits aber darf seine Güte nicht dazu führen, dass das Privileg, das der Liebende in Bezug auf den Geliebten hat, aufgehoben wird.

Monströs

Bei Platon ist zu lesen, wie der Liebende dem Geliebten hassenswert wird. Er erträgt es nicht, wenn der Geliebte andere höher oder auch nur gleich schätzt wie ihn; er isoliert ihn von seinen Bekannten; er wünscht sich, der Geliebte möge seine Familie oder Freunde verlieren; er kann nicht ohne ihn sein, misstraut und bespitzelt ihn, ist aber selbst nicht treu. Plötzlich wird der Liebende sich dessen bewusst und merkt, dass er nicht mehr das empfindsame und zerbrechliche Subjekt ist, für das er sich gehalten hat, sondern dass er aufdringlich und anstrengend wird.

Objekte

Jeder Gegenstand, den das geliebte Wesen berührt hat, wird zu einem geweihten Objekt. Abgesehen von diesen Fetischen kennt der Liebende keine Objekte. Die Welt erscheint ihm abstrakt, ohne sinnliche Reize. Nur das Wetter, das Licht, die Tageszeit nimmt er wahr, denn darin spiegelt sich sein Zustand.

Obszön

In der Moderne hat eine „Umwertung der Werte“ stattgefunden: Nicht das Sexuelle gilt als obszön, sondern die Empfindung des Liebenden, sein Pathos, die Überreiztheit seiner Leidenschaft, die Bereitschaft, wegen einer Banalität in eine Krise zu geraten, werden als unschicklich empfunden.

„Wenn ich mir ernsthaft ausmale, mich wegen eines Telefonanrufes, der nicht kommt, umzubringen, ergibt sich daraus eine ebenso große Obszönität, wie wenn der Papst bei de Sade einen Truthahn sodomisiert.“ (S. 184)

Wenn jemand Probleme mit seiner Sexualität hat, trifft er in der Gesellschaft auf Verständnis. Hat er aber Schwierigkeiten mit seinem Gefühlsleben, begegnet er allgemeiner Ablehnung. Die Liebe ist eben deshalb verpönt, weil sie das Gefühl an die Stelle des Sexuellen setzt.

Schwanken

Die eigene Verfassung ist stets abhängig von den wechselnden Launen des Anderen, die der Liebende an ihm zu erkennen versucht. Diese können sich schlagartig verändern, auf einen Moment höchster Intimität folgt ein Moment der gefühlsmäßigen Geschiedenheit. Diesen extremen Schwankungen zwischen Erfüllung und Verzweiflung ist schon das kleine Kind ausgeliefert. Eben war die Mutter noch da, nun ist sie fort, und das Kind empfindet heftigen Kummer.

Nach Freud imitiert das Kind diesen Prozess im Spiel, indem es einen Gegenstand, zum Beispiel eine Spule, immer wieder fortwirft und zurückholt. Aus diesem Nachahmen des Fort- und Wiederdaseins schöpft es Trost – ein Vorgang spielerischer, letztlich künstlerischer Sublimierung. Der Liebende ist allerdings nicht in der Lage zu spielen. Er ist selbst noch dem kleinen Kind unterlegen und sehnt sich nur nach dem Ende des Hin und Her, nach dem erlösenden Nirwana. Er kann sich nicht an die Situation gewöhnen, sondern verharrt stetig leidend in ihr.

Schweifen

Ungeachtet der vielen Enttäuschungen, die Barthes in Sachen Liebesbeziehungen schon erlebt hat, sucht er nach dem Ende einer Liebe immer wieder nach einer neuen. Kaum steht er am Ende einer Liebe, das sich, anders als der Anfang, nicht genau bestimmen lässt, beginnt sein „Liebes-Schweifen‘“ aufs Neue. Das wäre auch bei Werther geschehen, hätte er sich nicht getötet.

So

Der Liebende ist ständig dabei, das geliebte Wesen immer weiter zu definieren. Er erträgt es nicht, wenn es von dem, was es in seinen Augen ist, abweicht. Er weigert sich, zu akzeptieren, dass der Geliebte anders ist als das Bild, das er sich von ihm macht.

„Eifrig, unermüdlich fabriziert die in mir dröhnende Sprachmaschine – sie funktioniert ja so gut! – ihre Adjektivketten: Ich decke den Anderen mit Adjektiven zu, ich enthülse seine Eigenschaften, seine qualitas.“ (S. 200)

In seltenen Momenten gelingt es kurzfristig, den Anderen von den Adjektiven zu befreien, ihn so anzunehmen, wie er ist, ihn nicht dieser oder jener Eigenschaften wegen, sondern um seiner Existenz willen zu lieben.

Verhalten

Der Liebende wägt ängstlich ab, wie er sich in vollkommen belanglosen Situationen verhalten soll. Erhält er zum Beispiel von dem Geliebten eine Telefonnummer, unter der er zu erreichen ist, beginnt er sofort zu grübeln, was das bedeuten könnte. In den banalsten Äußerungen und Taten erkennt er ein Zeichen, das es zu deuten gilt. Seine Reaktion ist für den Anderen wiederum auch ein Zeichen, und so wird die gesamte Kommunikation zwischen den beiden mit Bedeutung aufgeladen.

Zugrundegehen

Der Liebende sieht sich immer wieder mit dem Wunsch konfrontiert, entweder unter dem Glück oder dem Unglück zugrunde zu gehen. Der Liebende fühlt sich vor einem Abgrund, löst sich beinahe unter diesem dichten und überwältigenden Gefühl auf, gibt sich ihm hin. Dieses Gefühl taucht dann auf, wenn der Liebende sich kurz vor der Trennung von oder der Verschmelzung mit dem Geliebten befindet.

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Aufbau und Stil

Roland Barthesʼ Fragmente einer Sprache der Liebe besteht aus Essays zu Stichworten, die der Autor als „Figuren“ bezeichnet. Darin erinnert das Buch an eine Enzyklopädie, die keine Hierarchie der Begriffe kennt. Jedem Artikel geht eine knappe Zusammenfassung voraus. Die Figuren sind alphabetisch geordnet, was die Willkür der Abfolge unterstreicht. Die Figuren sollen sich, so Barthes, eben nicht zu einer Art „Geschichte einer Liebe“ fügen. Zugleich betont er, dass er die Sprache der Liebe nicht metasprachlich analysieren, sondern sie nachbilden möchte. Seine Arbeit an dem Buch beschreibt er nicht als kontinuierlichen Prozess, sondern als eine Sammlung von Fundstücken – aus Literatur und Philosophie, persönlichen Erlebnissen und Gesprächen –, die er nach und nach eingefügt und zu einem Ganzen montiert hat. Entsprechend wechselt er im Buch ständig zwischen wissenschaftlichen, hochabstrakten Passagen und persönlichen, im Plauderton vorgetragenen Abschnitten.

Interpretationen

  • Barthesʼ Werk handelt von einem Code der Liebe. Weniger als um die Liebe selbst geht es um den sprachlichen Code, der je nach historischer Periode mal höfisch oder galant, mal psychoanalytisch geprägt ist. Diesen Code, so betont Barthes im Vorwort, könne „jeder nach Maßgabe seiner eigenen Geschichte ausfüllen“.
  • Eine angemessene Sprache der Liebe findet Barthes insbesondere in Goethes Die Leiden des jungen Werther und Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Daneben greift er unter anderem auf Texte von Platon, Nietzsche, Rousseau, Stendhal, Freud, Lacan sowie auf Schriften der Mystiker und Zen-Buddhisten zurück.
  • Barthes spricht vom Paradox der Liebe, da sie einerseits absolut ist, sich aber andererseits immer wieder auf neue Objekte richtet. In dieser Dialektik erkennt er ein zentrales Merkmal der Liebe, die sich jeder Logik und metasprachlichen Analyse entzieht.
  • Das Buch vermeidet jeden Bezug auf die sexuellen Aspekte der Liebe – darin liegt auch das Unzeitgemäße, das Barthes selbst seinem Liebesprojekt attestiert. Stattdessen richtet er den Blick auf harmlose Körperkontakte, zärtliche Gesten, zufällige Berührungen – für ihn „ein Fest, nicht der Sinne, sondern des Sinnes.“
  • Barthes ist Strukturalist und lehnt jede Verbindung zwischen Leben und Werk eines Autors ab – das ist für ihn reaktionärer Biografismus. In seinem Buch spricht er zwar in der Ich-Form, betont aber, dass es sich dabei nicht um ein „psychologisches, sondern ein strukturelles Ich“ handle, das aus Bruchstücken zusammenmontiert sei.
  • In dem Buch deutet Barthes seine Homosexualität an, indem er stets von „dem Geliebten“ spricht. Bis zum Tod seiner geliebten Mutter war Barthes darauf bedacht, seine Homosexualität vor ihr geheimzuhalten. Für ihn ist die Liebe des Kindes zur Mutter Auslöser und Paradigma aller Formen emotionaler Hinwendung im späteren Leben.

Historischer Hintergrund

Die 1970er-Jahre – eine Zeit der sexuellen Befreiung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte in der westlichen Gesellschaft eine rigide konservative Sexualmoral, die in Tabus, Verboten und eindeutigen Geschlechterrollen ihren Ausdruck fand. Die Einführung der Antibabypille, die in den USA 1960, in Deutschland 1961 und sechs Jahre später im überwiegend katholischen Frankreich auf den Markt kam, trug maßgeblich zur Lockerung der Moralvorstellungen bei. Auch in Westeuropa wurde immer lauter über freie Liebe, sexuelle Revolution und Selbstbestimmung diskutiert. Mit der 68er-Bewegung setzte eine Periode sexueller Freizügigkeit ein, die sich in den 70er-Jahren fortsetzte. Vor allem unter linken Intellektuellen galt Liebe als altmodisch und kleinbürgerlich. In Sprüchen wie „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ kam die Verachtung für Gefühle oder Treue zum Ausdruck. In den Medien setzte eine regelrechte Sexwelle ein. In Zeitschriften und Werbung wurde viel nackte Haut gezeigt, Pornografie kam aus der Schmuddelecke heraus und wurde selbst in bürgerlichen Kreisen akzeptiert.

Homosexuelle Handlungen waren in Frankreich seit 1942 strafbar. 1949 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Zensur homosexueller Presseerzeugnisse ermöglichte. 1960 trat unter der erneuten Präsidentschaft von Charles de Gaulle ein Gesetz in Kraft, das Homosexualität mit „gesellschaftlichen Plagen“ wie Drogen- und Alkoholsucht gleichsetzte. Ab den 70er-Jahren nahmen jedoch auch die Proteste gegen die Diskriminierung Homosexueller zu. So druckte die Zeitung Le Monde 1977 einen Aufruf für eine Revision des Strafgesetzbuches ab. Zu den Unterzeichnern zählte neben Louis Althusser, Michel Foucault, Jean-Paul Sartre und Jacques Derrida auch Roland Barthes. Das Gesetz, das homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, wurde allerdings erst 1980 unter der Regierung von François Mitterrand abgeschafft.

Entstehung

Nach seiner literatur- und kulturkritischen Phase in den 1950er-Jahren widmete sich Roland Barthes in den 1960er-Jahren der strukturalistischen Theorie. Gemäß dieser wird sowohl die Wirklichkeit als auch das wahrnehmende Subjekt selbst von unbewussten Strukturen organisiert. Insbesondere die Sprache ist das Paradigma für den Strukturalismus: Ein Wort erhält seine Bedeutung erst im Kontext. In den 70er-Jahren verabschiedete sich Barthes nach und nach von seiner Theorie. Er glaubte nicht mehr daran, mittels einer Metasprache die Sprache analysieren zu können. Stattdessen näherte er sich zunehmend dem literarischen Schreiben an. So veröffentlichte er 1973 mit der Schrift Über mich selbst eine Art autobiografische Reflexion, die literarische Elemente enthält.

Auch Fragmente einer Sprache der Liebe hat einen starken persönlichen Bezug. Barthes wurde dazu durch eine schmerzhafte Erfahrung inspiriert, nämlich seine unerfüllte Liebe zu einem seiner Studenten. Das Buch ging aus einem Seminar hervor, das Barthes von 1974 bis 1976 als Professor an der École pratique des haute études in Paris abhielt und das unter den Studenten Kultstatus genoss. Die Grundlage für das Buch bildeten die Karteikarten, die Barthes im Zuge des Seminars angefertigt hatte.

Anfangs sollte das Buch 100 Stichworte umfassen, doch im Lauf der Arbeit strich Barthes 20 davon. Er vernichtete die Aufzeichnungen dazu nicht vollständig, sondern bewahrte sie in einer Mappe auf. Die 80 Figuren umfassende Fassung des Buches erschien 1977 beim Pariser Verlag Éditions du Seuil. 30 Jahre später veröffentlichte derselbe Verlag eine weitere Fassung, die auch die von Barthes nicht für eine Publikation vorgesehenen Notizen enthielt. Diese wurden nicht alphabetisch eingeordnet, sondern der ersten Fassung als Block angefügt.

Wirkungsgeschichte

Fragmente einer Sprache der Liebe wurde schon bald nach seinem Erscheinen im Frühjahr 1977 vollkommen unerwartet zu einem Bestseller und erlebte allein in diesem Jahr sieben Neuauflagen. Barthes stieg in den Rang eines bekannten Schriftstellers auf, er erhielt Einladungen zu Literatursendungen und wurde in Zeitschriften wie Elle oder Playboy vorgestellt. Fragmente einer Sprache der Liebe wurde zum meistverkauften Buch zu Lebzeiten des Autors. 

Barthesʼ Werk übte großen Einfluss auf das philosophische Denken, insbesondere auf die amerikanischen „queer studies“ aus. Zuletzt stützte sich der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Der Psychoanalyse entkommen auf Barthesʼ Werk. Das Buch beeinflusste aber nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs, sondern hinterließ auch Spuren in Literatur, Film und Popkultur. Die beiden Chinesen Derek Tsang und Chi-Man Wan schufen 2010 mit Lover’s Discourse eine filmische Adaption des Werkes. Die französische Regisseurin Claire Denis drehte 2017 den Film Let the Sunshine In auf der Grundlage von Barthesʼ Buch. Unter den literarischen Werken, die sich auf Fragmente einer Sprache der Liebe beziehen, ist vor allem der 2011 veröffentlichte Roman Die Liebeshandlung des amerikanischen Bestsellerautors Jeffrey Eugenides zu nennen. Auch Maggie Nelsons Roman Die Argonauten wurde von Barthesʼ Buch inspiriert.

Über den Autor

Roland Barthes wird am 12. November 1915 in Cherbourg in der Normandie geboren. Er ist noch kein Jahr alt, als sein Vater, ein Marineoffizier, bei einer Schlacht in der Nordsee stirbt. Mutter Henriette, Tochter des berühmten Afrikaforschers und Kolonialbeamten Louis-Gustave Binger, zieht mit ihm zunächst zur Familie ihres Mannes in den Südwesten Frankreichs und später nach Paris. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen. Henriettes Eltern sind wohlhabend, doch nach der unehelichen Geburt von Rolands Halbbruder Michel 1927 verweigern sie jegliche finanzielle Unterstützung. Henriette arbeitet als Buchbinderin, um ihre Söhne zu ernähren. Zwischen 1935 und 1943 studiert Roland Barthes an der Sorbonne Literatur, Grammatik und Philologie. Aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung verbringt er mehrere Jahre in Sanatorien und wird vom Militärdienst befreit. Die Krankheit steht einer traditionellen akademischen Karriere im Weg: Mehrmals versucht er zu promovieren – ohne Erfolg. 1947 geht er als Bibliothekar nach Bukarest und 1949 als Dozent an die ägyptische Universität von Alexandria, wo er den Linguisten Algirdas Greimas kennenlernt und eine Beziehung mit ihm beginnt. Barthesʼ Debüt Am Nullpunkt der Literatur (Le Degré zéro de lʼécriture, 1953) gilt bald als Manifest einer radikal neuen Textkritik. Sie richtet sich auch gegen den etablierten Wissenschaftsbetrieb, von dem Barthes sich ausgeschlossen fühlt. In den Mythen des Alltags (Mythologies) baut er 1957 die angewandte Zeichentheorie weiter aus. Ab 1960 unterrichtet er an der École pratique des hautes études. Erst 1976 wird er auf Betreiben Michel Foucaults an den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Semiologie der Literatur am renommierten Collège de France berufen. 1977 erscheint mit Fragmente einer Sprache der Liebe (Fragments dʼun discours amoureux) sein erfolgreichstes Buch. Im selben Jahr stürzt ihn der Tod der Mutter in tiefe Depressionen. Sein Vorhaben, einen Roman zu schreiben, verwirklicht er nicht mehr. Roland Barthes stirbt am 26. März 1980 im Alter von 64 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

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