Melden Sie sich bei getAbstract an, um die Zusammenfassung zu erhalten.

Für Marx

Melden Sie sich bei getAbstract an, um die Zusammenfassung zu erhalten.

Für Marx

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

War Marx ein Humanist? Althusser meint: Nein, und das ist auch gut so.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Der wahre Marx

Dass Schriften von großen Philosophen in ihrem historischen Kontext gelesen werden müssen, gilt heute als selbstverständlich. Mitte der 1960er Jahre, als Louis Althussers Für Marx erschien, war das noch nicht so. In verschiedenen Beiträgen erinnerte der französische Philosoph daran, dass auch Denker wie Marx nicht im luftleeren Raum philosophierten, sondern in einer ganz bestimmten historischen Realität lebten, die bei der Interpretation ihrer Werke berücksichtigt werden muss. Mit seiner strukturalistischen Lektüre von Marx’ Schriften wandte sich Althusser gegen linke Intellektuelle in ganz Europa, die sich vom marxistisch-leninistischen Dogmatismus lösen und in Marx einen humanistischen Philosophen erkennen wollten. Marx, so Althusser, habe keineswegs die Hegel’sche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern eine eigene Wissenschaft begründet. Sein Buch löste zunächst eine lebhafte Debatte unter den Linken aus, verschwand in den 70er Jahren aber in der Versenkung. Trotzdem: ein wichtiges Werk der marxistischen Philosophie und eine aufschlussreiche Zeitreise in die Debatten der 60er Jahre.

Take-aways

  • Für Marx war eines der einflussreichsten marxistischen Werke des 20. Jahrhunderts und löste lebhafte Debatten unter den linken Theoretikern aus.
  • Inhalt: Viele Interpreten von Karl Marx begehen den Fehler, seine frühen Schriften im Licht des Spätwerks zu lesen. Sie schenken dem historischen Kontext, in dem Marx allmählich seine Ideen entwickelte, keine Beachtung. Marx hat nicht, wie oft behauptet wird, Hegels Dialektik umgekehrt, sondern eine ganz neue Geschichtswissenschaft begründet.
  • Das Buch versammelt Aufsätze, die Louis Althusser zwischen 1960 und 1964 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte.
  • Althusser fordert dazu auf, klar zwischen dem jungen und dem reifen Marx zu unterscheiden.
  • Marx’ Bruch mit Hegels idealistischer Philosophie verortet er im Jahr 1845.
  • Mit seinen Aufsätzen reagierte Althusser auf linke Intellektuelle in ganz Europa, die die humanistischen Aspekte in Marx’ Philosophie betonten.
  • Zugleich wandte er sich gegen den dogmatischen Stalinismus, den er als Fehlentwicklung des Marxismus abtat.
  • Althussers Texte sind von hohem Abstraktionsgrad und im Ton oftmals polemisch.
  • Mit seinem strukturalistischen Interpretationsansatz beeinflusste Althusser Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Judith Butler.
  • Zitat: „Die ausdrückliche Fragestellung: ob der junge Marx bereits voll und ganz Marx ist.“

Zusammenfassung

Der junge und der reife Marx

Im Jahr 1840 erwarteten junge radikale Intellektuelle, die so genannten Junghegelianer, dass die Geschichte im Sinne der Vernunft auf ein Ziel hin fortschreite. Die Realität unter Friedrich Wilhelm IV., der zunächst als liberal galt, sich aber bald zum Despoten entwickelte, enttäuschte ihre Hoffnungen. Begeistert reagierten sie auf die Schriften Ludwig Feuerbachs, dessen Philosophie mit Hegel und allen Illusionen über eine vernunftgerichtete Geschichte gründlich aufräumte. Zu ihnen zählte auch der junge Karl Marx, der von Feuerbach nicht nur einzelne Begriffe, sondern die ganze Problematik übernahm. Der Bruch mit Feuerbach, den Marx später in Schriften wie Das Elend der Philosophie oder Das Kapital vollzog, lässt sich darauf zurückführen, dass sich Feuerbach in Marx’ Augen nie vollständig von Hegels Denken gelöst, sondern dessen theoretische Voraussetzungen übernommen hatte.

„Die Geschichte mochte von Rechts wegen Vernunft und Freiheit sein; faktisch war sie nur Unvernunft und Knechtschaft. Man musste die Lehre der Tatsachen, diesen Widerspruch als solchen annehmen.“ (S. 47)

In aktuellen marxistischen Debatten taucht immer wieder die Frage auf, ob der junge Marx mit dem reifen Marx identisch sei oder ob dazwischen ein Bruch stattgefunden habe. Um die Behauptung, der späte Marx habe sich vom jungen entfernt, zu entkräften, lassen manche keinerlei Widersprüche innerhalb dessen Werk gelten. Um die Einheitlichkeit zu bewahren, lesen sie das Jugendwerk durch die Brille des Spätwerks. Alle Schriften Marx’ sollen letztlich im Marxismus münden. Manche Kritiker unterscheiden bei Marx Elemente, die noch idealistisch, also von Hegel geprägt, oder schon materialistisch, also von Feuerbach inspiriert, seien. Mit einem derart analytisch-teleologischen (und damit letztlich hegelianischen) Theoriemodell zerstört man jedoch den lebendigen Text und verschließt sich dem Sinn von Marx’ Denken.

„Die ausdrückliche Fragestellung: ob der junge Marx bereits voll und ganz Marx ist.“ (S. 57)

Um Marx wirklich zu verstehen, muss man sich seinen Texten mit einer marxistischen Theorie nähern – und nicht etwa mit einer auf Hegels ideologischen Prinzipien beruhenden. Danach sollte eine Weltanschauung als Ganzes betrachtet werden, ohne einzelne Elemente herauszubrechen. Eine Ideologie entwickelt sich nämlich nicht im luftleeren Raum von einem Anfangspunkt hin zu einer endgültigen Wahrheit, sondern in einem konkreten gesellschaftlichen und ideologischen Umfeld, das es genau zu analysieren gilt. Der Autor ist ein lebendiges Wesen, das zu einer bestimmten Zeit in einer wirklichen Geschichte existiert. Selbst Philosophen haben eine Jugend, sie leben und bewegen sich in ihrer Welt, setzen sich mit ihr auseinander und lernen allmählich, sich davon zu befreien. Man muss den Anfang eines Denkers betrachten, ohne schon das Ende im Auge zu haben. Um das wirklich Neue eines individuellen Denkers zu erfassen, muss man die reale Geschichte und das ideologische Umfeld, in dem seine Gedanken entstanden, stets im Blick behalten.

Die Entdeckung der Realität jenseits der Ideologie

Oftmals wird die Erklärung für Marx’ Wandel innerhalb der Ideologiegeschichte gesucht. Da heißt es dann, Marx habe Hegels spekulative Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt; er habe Feuerbachs Materialismus auf die Geschichte ausgedehnt und konsequent zu Ende gedacht; er habe die Feuerbach’sche oder Hegel’sche Entfremdungstheorie auf die Gesellschaft angewandt. All diese Interpretationen beruhen auf der Annahme, Marx’ Entwicklung habe in einer abgehobenen Sphäre der Ideen stattgefunden, als hätte er, um zu neuen Schlüssen zu gelangen, nur ausreichend über Hegel und Feuerbach nachdenken müssen. Die Formulierung, Marx habe Hegel auf die Füße gestellt, suggeriert seine grundsätzliche Übereinstimmung mit Hegels Philosophie, ja sogar eine gewisse Kontinuität. Dabei übersieht man, dass Marx sich unter einer ungeheuren Kraftanstrengung zunächst von der erdrückenden ideologischen Last des Hegelianismus befreien musste.

„Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, damit das Problem der Marx’schen Jugendschriften richtig gestellt wird, liegt demnach einfach darin, einzusehen, dass selbst die Philosophen eine Jugend haben.“ (S. 73)

Marx lebte im Deutschland der 1830er und 1840er Jahre, einem Land, das seine politische Rückständigkeit mit einer theoretischen und ideologischen Überentwicklung kompensierte. Die Ideologie – das war ein spezifisch deutsches Phänomen – hatte keinen Bezug zur wirklichen Geschichte. In diesem intellektuellen Klima wuchs Marx auf, und diese Realitätsferne überwand er, indem er die reale Geschichte und authentische Gegenstände wiederentdeckte. In Frankreich, in den Augen deutscher Intellektueller die Heimat von Aufklärung und Vernunft, entdeckte Marx die organisierte Arbeiterklasse, so wie Engels in England den Klassenkampf entdeckte. Diese radikale Realität, die ohne Philosophie und Philosophen auskam, prägte sein Denken mehr als alle Reflexionen. Erst durch die konkreten Erfahrungen im Ausland erkannte Marx hinter all den Illusionen die wahren Zustände im idealisierten Frankreich sowie die Misere in seiner deutschen Heimat, die Klassenverhältnisse und die Ausbeutung.

Marx’ Blick auf die Wirklichkeit

Was ist eigentlich gemeint, wenn man sagt, Marx habe Hegels Philosophie auf die Füße gestellt, sie umgestülpt? Marx selbst schrieb, er habe bei Hegel den „rationellen Kern in der mystischen Hülle“ entdeckt. Hat er vielleicht die Methode der Dialektik aus dem idealistischen System herausgeschält und auf die reale Welt, auf das Leben, übertragen? Wer Marx genau liest, wird feststellen, dass er mit der „mystischen Hülle“ keineswegs die idealistische Weltanschauung meint, sondern die Struktur der Dialektik selbst. Marx’ Dialektik unterscheidet sich grundlegend von Hegels Dialektik, die nicht nur Methode, sondern Teil einer Weltanschauung ist. Die beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen: Das Modell des dialektischen Widerspruchs bei Hegel hat eine ideologische Funktion, nämlich seine teleologische, durch das Wirken der Vernunft bestimmte Geschichtsauffassung zu spiegeln und die konkrete Realität eines Volks in einer historischen Epoche auf ein ideologisches Endziel auszurichten.

„Sicherlich wissen wir, dass der JUNGE MARX zu Marx werden wird, aber wir wollen nicht schneller leben als er, wir wollen nicht an seiner Stelle leben, für ihn den Bruch vollziehen oder für ihn die Entdeckungen machen.“ (S. 82)

Während Hegel das materielle Leben eines Volks, seine Geschichte und Ökonomie auf dessen politisch-ideologisches Selbstbewusstsein (Religion, Philosophie) zurückführt, ist für Marx das materielle Leben in letzter Instanz maßgebend für das politisch-ideologische Bewusstsein. Die ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft bestimmen langfristig deren Überbau, die Form des Klassenkampfs, die Verfassung und die Rechtsformen des Staates sowie die politischen, philosophischen und religiösen Anschauungen. Insofern scheint also die Behauptung, Marx habe Hegel umgekehrt, zunächst zuzutreffen. Doch dabei wird außer Acht gelassen, dass Marx’ Philosophie auf ganz anderen Begriffen beruht. Unter „Staat“ etwa versteht er – ganz und gar unidealistisch – ein Herrschaftsinstrument in den Händen der ausbeutenden Klasse und nicht ein abstraktes Phänomen wie Hegel. Marx’ Denken dreht sich nicht um abstrakte Ideen, sondern um konkrete Wirklichkeiten.

Hegels Irrtum

Marxistische Wissenschaftler benötigen eine marxistische Dialektik, die nicht von der Hegel’schen Ideologie belastet ist. Marx selbst hat keine eigene Theorie der Dialektik formuliert, er hat die Dialektik aber in seinem Werk Das Kapital angewandt. Er behauptet, er habe Hegels Methode „umgekehrt“, doch diese Aussage sollte man nicht für bare Münze nehmen, denn der Begriff der Umkehrung entstellt das Marx’sche Denken. Worin aber besteht nun das Spezifische der marxistischen Dialektik? Wissenschaften – gleich ob Natur- oder Gesellschaftswissenschaften – arbeiten nie nur mit „reinen“ Fakten, sondern immer mit ideologischen Begriffen, die ihnen von Vorläufern hinterlassen wurden. Auf Grundlage einer älteren Theorie produzieren Wissenschaftler ihre eigene, neue Theorie. Sie gehen ganz im Sinne von Marx vom Abstrakten aus und produzieren das Konkrete, also einen konkreten Gedanken, eine Erkenntnis über einen Gegenstand. Der Irrtum Hegels bestand darin, dass er meinte, durch wissenschaftliche Erkenntnis entstehe etwas Reales. Ebenso gut könnte man behaupten, dass Steinkohle durch den dialektischen Prozess die Dampfmaschine und die Fabriken hervorbringe.

„Mehr als jemals zuvor kommt es heute darauf an, zu sehen, dass eines dieser ersten Phantome der Schatten Hegels ist. Man muss ein bisschen mehr Licht auf Marx werfen, damit dieses Gespenst wieder in die Nacht zurücktritt, oder, was dasselbe ist, ein wenig mehr marxistische Aufklärung über Hegel selbst betreiben.“ (S. 144)

Hegel erlag dieser Illusion, weil er dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess seine Ideologie überstülpte, ihm eine Funktion, einen Sinn unterstellte. Er verkannte, dass zwischen der Ausgangssituation und dem Endprodukt keine Kontinuität besteht, sondern dass im wissenschaftlichen Prozess eine substanzielle Transformation stattfindet. In seiner idealistischen, spekulativen Philosophie setzte er Denken mit Sein, Theorie mit Realem gleich. Das ist, wie Marx sagte, als ob die Abstraktion, die Idee einer Frucht durch dialektische Selbstentwicklung die konkrete Birne oder Rosine hervorbrächte. Wer nun behauptet, Marx habe Hegel einfach „umgekehrt“, verbleibt im Rahmen dieser Ideologie, die abstrakte Gedanken und konkrete Wirklichkeit auf unzulängliche Weise vermengt. Eine bloße „Umkehrung“ liefe nämlich auf die Annahme hinaus, das Wirkliche erzeuge Begriffe. Diese rein ideologische Theorie aber hat nichts mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Praxis zu tun.

Das Spezifische der Marx’schen Dialektik

Hegels dialektisches Modell beinhaltet die Vorstellung von der Einheit der Gegensätze. Es geht von einem einfachen Prozess mit zwei Gegensätzen aus, die Einheit spaltet sich in zwei widersprüchliche Teile auf und wird auf dem Weg der Negation sowie der Negation der Negation schließlich auf einer höheren Ebene wiederhergestellt und so weiterentwickelt. Nach Marx hingegen sind gesellschaftliche und ökonomische Prozesse bereits in ihrem Ursprung viel komplexer, sie weisen eine Vielzahl von Widersprüchen auf und lassen sich nicht auf einen einzigen Gegensatz reduzieren. Der Marxismus verträgt sich nicht mit dem Hegel’schen Modell, denn er schließt den ideologischen Mythos von einer ursprünglichen Einheit grundsätzlich aus und erkennt die Komplexität jedes Gegenstandes an. In der Theorie und in der politischen Praxis des Marxismus, in der marxistischen Wissenschaft und in der Arbeit für den Klassenkampf spielen die Hegel’schen Kategorien keine Rolle. Sie sind Relikte einer längst vergangenen Zeit – darüber sollte auch die Tatsache, dass Marx im Kapital an einer einzigen Stelle auf sie zurückgreift, nicht hinwegtäuschen.

„Wenn man also den Begriff ‚Umkehrung‘ für eine Erkenntnis hält, so hieße das, sich die Ideologie zu eigen zu machen, die ihm zugrunde liegt, das heißt eine Vorstellung anzunehmen, die die Wirklichkeit der theoretischen Praxis als solche leugnet.“ (S. 241)

Das Spezifische an der marxistischen Dialektik ist also, dass sie – anders als Hegels Modell – nicht von einer ursprünglichen Einheit ausgeht, die auf dem Weg über Entfremdung und Negation von Gegensätzen wiederhergestellt wird. Vielmehr setzt sie eine komplexe Struktur und eine Vielzahl von Widersprüchen schon im Ursprung voraus, allerdings mit einem dominanten Hauptwiderspruch, der die Einheit des Ganzen ausmacht – das Prinzip der Überdetermination. Das bedeutet: Je nach konkreter historischer Situation dominiert jeweils ein Widerspruch neben vielen Widersprüchen, die in ihrem Zusammenwirken ein komplexes Ganzes bilden. In Russland etwa spitzten sich im Jahr 1917 alle möglichen historischen Widersprüche zu; sie verschmolzen und führten zum Ausbruch der Revolution. Die Nebenwidersprüche reflektieren jeweils den Hauptwiderspruch. Dieser ist von vornherein durch eine komplexe, ungleichmäßige Struktur determiniert. Das Ganze ist nicht starr, sondern flexibel: Nebenwidersprüche können zu Hauptwidersprüchen werden und umgekehrt. Zwar herrscht in letzter Instanz das Primat des Ökonomischen, doch gerade im Klassenkampf, der aus marxistischer Sicht der „Motor der Geschichte“ ist und die Entwicklung vorantreibt, verdichten sich das Ökonomische, Politische und Ideologische zu einem komplexen Ganzen.

Marx’ totale theoretische Revolution

Marx’ Bruch mit der alten, anthropologisch ausgerichteten Philosophie lässt sich auf das Jahr 1845 datieren. Seine Geschichtstheorie operiert mit vollkommen neuen Begriffen und lehnt jeden philosophischen Humanismus, in dem er eine Ideologie erkennt, ab. Die Vorstellungen des Individuums und des menschlichen Wesens werden durch Begriffe wie „Produktivkräfte“ und „Produktionsverhältnisse“ ersetzt. Insofern kann Marx’ Philosophie – entgegen jüngeren Tendenzen, die den Marxismus als „Philosophie des Menschen“ und als „sozialistischen Humanismus“ deuten – als zutiefst antihumanistisch bezeichnet werden.

„Indem Marx das Wesen des Menschen als theoretische Grundlage verwirft, verwirft er dieses ganze organische System von Postulaten.“ (S. 291)

Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Ideologie besteht darin, dass in Letzterer die praktische Funktion die theoretische Funktion, d. h. die Suche nach Erkenntnis, überlagert. Ideologie als System von Vorstellungen, in denen Menschen ihre eigenen Existenzbedingungen reflektieren, ist unentbehrlich; ohne sie kommt keine menschliche Gemeinschaft aus. Die marxistische Ideologie hat die Funktion, das Bewusstsein der Menschen zu verändern und sie den Bedingungen einer klassenlosen Gesellschaft anzupassen – im Klassenkampf hat sie also durchaus ihre Berechtigung. Nicht jedoch in der Wissenschaft! Der Rückgriff mancher Kommunisten auf ideologische statt wissenschaftliche Begriffe verschließt uns die Möglichkeiten von Erkenntnis, die uns Marx mit seiner kritischen, revolutionären Theorie gegeben hat. Marx zog die Grenze zwischen Ideologie und Wissenschaft. Hinter diese Errungenschaft dürfen wir nicht zurückfallen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Für Marx versammelt verschiedene Aufsätze Louis Althussers aus den Jahren 1960–1964. In höchst engagiertem, mitunter auch polemischem Tonfall setzt sich Althusser mit Karl Marx’ Schriften und mit zu seiner Zeit aktuellen Positionen des Marxismus auseinander. Althussers Sätze sind oft lang und verschlungen, seine Erörterungen insgesamt von hohem Abstraktionsniveau, oftmals bis an die Grenze der Verständlichkeit. Nur selten findet er anschauliche Beispiele, um seine Thesen zu verdeutlichen. Althusser bescheinigt sich selbst eine gewisse Ungenauigkeit in der Formulierung – ob sich dahinter eine Bescheidenheitsformel oder ehrliche Selbstkritik verbirgt, sei dahingestellt. Er setzt voraus, dass der Leser mit der marxistischen Terminologie und Philosophie vertraut ist, und verwendet Begriffe wie „Klassenkampf“, oder „Produktionsverhältnisse“ mit größter Selbstverständlichkeit. Manchmal blitzt zwischen den Zeilen Humor auf, etwa wenn der Autor auch Philosophen zugesteht, dass sie eine Jugend haben und nicht schon weise geboren wurden.

Interpretationsansätze

  • Gegen die aus seiner Sicht revisionistischen Tendenzen in den westlichen kommunistischen Parteien erinnert Althusser in Für Marx an Marx’ Grundidee: die Überwindung von kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen, von Ausbeutung, Krieg und Knechtschaft.
  • Zugleich wendet er sich gegen den stalinistischen Dogmatismus und die Entwicklung in der Sowjetunion, der er Personenkult sowie Missbrauch und Verfälschung des Marxismus vorwirft. Seiner Ansicht nach war der Stalinismus eine Fehlentwicklung, an der Marx’schen Theorie lässt sich aber dennoch weiter festhalten.
  • Der Titel Für Marx lässt sich auch programmatisch verstehen: als Aufforderung, wieder Marx selbst zu lesen, statt sich mit der in der Folgezeit entstandenen marxistisch-leninistischen Literatur zu begnügen.
  • Nach Althusser hat Marx mit seiner Trennung von Ideologie und Wissenschaft eine neue Geschichtswissenschaft begründet. Die Folgen dieses Bruchs hält er in ihrer Bedeutung für vergleichbar mit den umwälzenden Entdeckungen Galileo Galileis und Sigmund Freuds.
  • Althusser wendet sich gegen jedes teleologische Geschichtsbild und gegen subjektivistische Ansätze in der Philosophie. Stattdessen unterscheidet er verschiedene Arten der menschlichen Praxis: die theoretisch-wissenschaftliche, die ökonomische, die politische und die ideologische Praxis. In jeder Art von Praxis wird ein bestimmtes Ausgangsmaterial durch Menschen bearbeitet und in einem Prozess der Transformation in ein neues wissenschaftliches, politisches oder ideologisches Produkt verwandelt. Sein Konzept der theoretischen Praxis erlaubt es Althusser, in der Philosophie nicht eine abgehobene, wirklichkeitsferne Disziplin, sondern den Klassenkampf in der Theorie zu sehen.
  • Den Begriff der Überdetermination entlehnte Althusser der Psychoanalyse. In seiner Lesart bezeichnet er eine Situation, die sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lässt, sondern sich aus verschiedenen Elementen speist, die sich gegenseitig beeinflussen.

Historischer Hintergrund

Der humanistische Marxismus

Nach Josef Stalins Tod im Jahr 1953 setzte in den kommunistischen Parteien Europas ein Prozess des Nachdenkens und der Selbstfindung ein, der durch Nikita Chruschtschows Enthüllungen über die Verbrechen des Stalinismus auf dem 20. Parteitag der KPdSU und insbesondere durch die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 durch sowjetische Truppen noch an Fahrt gewann. Die Enttäuschung der Genossen war allerorten spürbar und stürzte die kommunistischen Parteien Westeuropas in eine tiefe Krise. In Italien verlor die Kommunistische Partei innerhalb weniger Jahre Hunderttausende Mitglieder, und auch die französische PCF und die britische KP blieben nicht verschont. In dieser Situation galt es, ideologischen Ballast abzuwerfen und sich von autoritären Parteistrukturen, orthodoxem Marxismus und stalinistischem Dogmatismus zu verabschieden. In Großbritannien etwa forderte der marxistische Historiker Edward Palmer Thompson, einer der prominentesten Vertreter der britischen Neuen Linken, eine offene Debatte über den Stalinismus und eine grundlegende Demokratisierung der Partei. Auch in Frankreich wurde zunehmend Kritik an der Kommunistischen Partei laut. So wandte sich Jean-Paul Sartre nach der sowjetischen Intervention in Ungarn von den Kommunisten ab und plädierte zeitweise für einen gemäßigteren Kurs und den Dialog mit den Sozialisten.

Unter diesem Eindruck lasen linke Intellektuelle das Frühwerk von Karl Marx, vor allem die 1844 entstandenen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, die lange unbekannt geblieben und erst 1932 veröffentlicht worden waren. Aus ihnen trat ein anderes als das konventionelle, von Friedrich Engels und den frühen sozialistischen Bewegungen propagierte Marx-Bild hervor. Marx – hier weniger Nationalökonom als Philosoph – trug idealistische Züge und strebte nicht nur eine soziale Revolution, sondern eine grundsätzliche moralische Besserung des Menschen an. Dieser Marx mit seinen humanistischen Aspekten übte vor allem auf Linke in Italien und in den angelsächsischen Ländern eine große Anziehungskraft aus. Man erkannte in seinen frühen Schriften mit ihrer Anbindung an Ludwig Feuerbach und selbst noch im Spätwerk Das Kapital einen theoretischen Humanismus, der den Klassenkampf als Kampf gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst interpretierte.

Entstehung

Ab 1948, dem Jahr seines Beitritts in die Kommunistische Partei Frankreichs, lehrte Louis Althusser Philosophie an der elitären Pariser École normale supérieure. Unter den Studenten galt er als eine Art Guru und übte großen Einfluss auf die intellektuelle Szene aus. In der Folge des Strukturalismus, der ursprünglich aus der Linguistik und Ethnologie stammte und ab den 60er Jahren auch in anderen Disziplinen wie der Philosophie und Soziologie Fuß fasste, entwickelte er seine spezifische Marx-Lektüre. Immer wieder griff er in die aktuellen Diskussionen und die Auseinandersetzungen innerhalb der Linken um die richtige Interpretation von Marx’ Schriften ein. In verschiedenen Aufsätzen, die zwischen 1960 und 1964 in Zeitschriften der Kommunistischen Partei Frankreichs veröffentlicht wurden, wandte sich Althusser strikt gegen die Idee eines humanistisch geprägten Marx und bescheinigte deren Anhängern Unwissenschaftlichkeit. 1965 erschienen diese gesammelten Beiträge in Buchform, eine deutsche Übersetzung folgte bereits 1968.

Wirkungsgeschichte

Louis Althussers in Für Marx formulierte These vom Bruch zwischen dem jungen und dem reifen Marx löste eine lebhafte Debatte innerhalb der Linken in Frankreich, Italien und Lateinamerika aus. Im deutschsprachigen Raum dagegen stieß das Buch auf wenig Resonanz. Althussers Thesen fanden bei seinen Anhängern und Studenten große Zustimmung, und noch in der Revolte vom Mai 1968 spielten sie eine Rolle, wenn er sich selbst mit Äußerungen auch zurückhielt. Zugleich wurden aber skeptische Stimmen laut. Der Philosoph François Châtelet etwa lehnte die Vorstellung eines tiefen Einschnitts im Marx’schen Denken ab und behauptete, gewisse Spannungen seien generell kennzeichnend für dessen Werk. Auch Étienne Balibar, Althussers Schüler und prominenter politischer Philosoph, meinte, humanistische, idealistische Züge sowie das Konzept der Entfremdung seien auch noch in Marx’ Spätwerk spürbar.

Von Beginn an sah sich Althusser mit dem Vorwurf konfrontiert, er verfolge mit seinen Thesen zu Marx eine Rehabilitierung des orthodoxen Marxismus und verharmlose die stalinistischen Verbrechen. Zu seinen schärfsten Kritikern zählte der britische Historiker Tony Judt, der Althusser vorwarf, mit seiner Interpretation die verlorene Glaubwürdigkeit des Marxismus wiederherstellen zu wollen, und von einer „absurden dialektischen Posse“ sprach. Auch wenn sein politischer Einfluss in den 70er Jahren zunehmend verblasste, übte Althussers diskursanalytischer, strukturalistischer Ansatz als wissenschaftliche Methode großen Einfluss auf seine Schüler Jacques Derrida und Michel Foucault ebenso wie auf die amerikanische Philosophin Judith Butler aus.

Über den Autor

Louis Althusser wird am 16. Oktober 1918 im algerischen Birmandreis in eine bürgerliche französische Familie geboren. Im Alter von zwölf Jahren zieht er mit seiner Familie nach Lyon, wo er das Gymnasium absolviert und sich in der katholischen Jugendorganisation engagiert. 1939 erhält er die Zulassung an der Pariser Elite-Universität École normale supérieure (ENS), doch direkt danach wird er zum Kriegsdienst eingezogen und gerät schon ein Jahr später in deutsche Gefangenschaft, ohne in Kriegshandlungen verwickelt worden zu sein. Nach dem Krieg nimmt er an der ENS sein Studium auf und unterrichtet nach glänzendem Abschlussexamen dort Philosophie. Auf dem Umweg über die Jugendorganisation „Action catholique“ zum Kommunismus gelangt, tritt er 1948 in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, der er trotz mancher Auseinandersetzungen bis an sein Lebensende verbunden bleiben wird. In dieser Zeit lernt er seine spätere Frau Hélène Rytman kennen. Als Professor an der ENS übt er maßgeblichen Einfluss auf Schüler und Weggefährten aus, z. B. Michel Foucault, Nicos Poulantzas und Bernard-Henri Lévy. Er veröffentlicht viele Beiträge zu Marx und zum Marxismus, darunter Pour Marx (Für Marx, 1965) und Lire le capital (Das Kapital lesen, 1965). Schon in jungen Jahren leidet Althusser unter manisch-depressiven Schüben, die mit Psychotherapie, aber auch Elektroschocks und Medikamenten behandelt werden. Im November 1980 erwürgt er seine Frau in der gemeinsamen Wohnung. Das Gericht erklärt ihn für nicht schuldfähig und weist ihn in eine geschlossene psychiatrische Anstalt ein – das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere. Drei Jahre später wird Althusser wieder freigelassen. Die letzten Lebensjahre verbringt er zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung und schreibt mehrere Essays sowie zwei verschiedene Fassungen seiner Autobiografie, die 1992 posthum veröffentlicht werden. Louis Althusser stirbt am 22. Oktober 1990 in Paris.

Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?

Buch oder Hörbuch kaufen

Diese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.

Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.

Für Sie

Entdecken Sie Ihr nächstes Lieblingsbuch mit getAbstract.

Zu den Preisen

Für Ihr Unternehmen

Bleiben Sie auf dem Laufenden über aktuelle Trends.

Erfahren Sie mehr

Studenten

Wir möchten #nextgenleaders unterstützen.

Preise ansehen

Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.

Kommentar abgeben

Mehr zum Thema