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Geschwister Tanner

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Geschwister Tanner

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eine moderne Taugenichts-Version: „Geschwister Tanner“ ist Robert Walsers erster und zugleich unbeschwertester Roman.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Luftikus und Taugenichts

Robert Walser ist ein Stiefkind unter den bedeutenden deutschsprachigen Autoren der Moderne. Seine Werke sind auch heute hauptsächlich Eingeweihten bekannt, obwohl er als einer der wichtigsten Schweizer Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. Geschwister Tanner ist sein erster Roman, der mit einer gewissen luftigen Leichtigkeit daherkommt. Das liegt zu einem guten Teil am Protagonisten: Simon Tanner ist ein moderner Taugenichts, der von einer Anstellung zur nächsten eilt, meist nur von der Hand in den Mund lebt und jeder Gelegenheit zu Aufstieg und Karriere konsequent aus dem Weg geht. Er ist ein Schwadroneur, einer, der gern ein Schwätzchen hält, über Gott und die Welt sinniert und am allerliebsten Stegreifreden hält, die gleichzeitig das hervorstechendste Stilmerkmal von Walsers Roman sind. Seine Geschwister säumen Simons Weg, der irgendwo anfängt und nirgendwo endet: Eine Zeit verbringt er mit dem den schönen Künsten zugeneigten Bruder Kaspar, er lebt recht unbefangen mit seiner Schwester Hedwig zusammen und streitet sich mit dem gestrengen Klaus. Geschwister Tanner ist ein Entwicklungsroman - aber ohne allzu viel Entwicklung. Walsers Held ist ein Luftikus, den man zuweilen verurteilt, aber meist ganz sympathisch findet.

Take-aways

  • Robert Walsers erster Roman Geschwister Tanner ist sein heiterstes Buch.
  • Der Protagonist Simon Tanner ist ein Luftikus, der sich stets auf Konfrontationskurs mit den bürgerlichen Konventionen befindet.
  • Simon ist eigentlich immer auf der Suche nach einer Anstellung: Er findet auch einige, kann es aber nie lange aushalten, sich seine persönliche Freiheit beschneiden zu lassen.
  • Eine Zeit lang wohnt er mit seinem Bruder Kaspar in einem Fremdenzimmer bei Klara Agappaia, die mit beiden Brüdern eine undurchsichtige Affäre beginnt.
  • Gemeinsam verbringen sie eine unbeschwerte Zeit mit Spaziergängen, Theaterbesuchen und Gesprächen.
  • Nach verschiedenen Versuchen, eine Anstellung zu finden, landet Simon schließlich bei seiner Schwester Hedwig in einem Städtchen auf dem Land.
  • Auch hier genießt er das Leben, verbringt die Zeit mit Sinnieren, Bücherlesen und der Hausarbeit für seine Schwester.
  • Zurück in der Stadt nimmt Simon eine Anstellung als Hausdiener und Pflegekraft für ein krankes Kind an.
  • Nach nur drei Wochen sitzt er wieder auf der Straße und mietet ein schäbiges kleines Zimmer mit Gassenblick.
  • Er begegnet Klara wieder und erzählt der Vorsteherin eines Kurhauses die Geschichte seiner Kindheit.
  • Walser verfasste Geschwister Tanner in Berlin, als er bei seinem Bruder Karl wohnte.
  • Der Roman verkaufte sich nach Anfangserfolgen eher mäßig und wurde erst lange nach dem Tod des Autors wiederentdeckt.

Zusammenfassung

Der flatterhafte Simon Tanner

Eines Morgens stellt sich der junge, knabenhafte Simon Tanner bei einem Buchhändler vor. In einer langen Rede versucht er den verdutzten Mann davon zu überzeugen, ihm eine Anstellung zu geben. Auf die Frage, wo er denn Referenzen über ihn einholen könne, reagiert Simon etwas brüskiert: Der Händler solle am besten keine Erkundigungen über ihn einholen, denn das würde ja gar nichts bringen. Er, Simon, habe schließlich bis jetzt recht flatterhaft gelebt und es nirgendwo lange ausgehalten. Über die Offenheit des Bewerbers erstaunt, will ihm der Buchhändler eine Chance geben und ihn zunächst einmal probehalber für eine Woche anstellen. Etwa zur gleichen Zeit macht sich Simons älterer Bruder, der Doktor Klaus, Arzt in einer Residenzstadt, Sorgen um seine jüngeren Brüder, die alle nicht so recht Tritt im Leben gefasst haben. Eben das gelingt Simon auch beim Buchhändler nicht: Nach der vereinbarten Probewoche nimmt er seinen Hut und verabschiedet sich noch recht impertinent, indem er dem Buchhändler vorwirft, dass er sich bei ihm ja nur bei schönstem Wetter in einer dunklen Bude den Rücken krumm gestanden habe. Bei der Arbeitsvermittlung kennt man Simon schon und hat eine neue Stelle für ihn parat: bei einem Advokaten. Hier gefällt es Simon sehr gut. Seiner Freundin Rosa hält er selbstgefällige Vorträge über seine Tätigkeit.

Neue Arbeit, neue Wohnung

Simon klingelt bei einem noblen Haus, weil er eine Unterkunft für sich und seinen anderen Bruder, den Maler Kaspar, sucht. Die Hausherrin zeigt ihm ein Zimmer, und Simon kann nicht so recht glauben, dass sie ihm diesen hochherrschaftlichen Raum tatsächlich vermieten möchte, wo er doch mittellos und mal wieder ohne Stellung ist. Die Vermieterin indes fleht ihn beinahe an, das Zimmer zu nehmen, weil sie sich über etwas Gesellschaft sehr freuen würde, da ihr Mann oft auf langen Forschungsreisen ist. Ihr Name ist Klara Agappaia. Als schließlich auch Kaspar im Ort erscheint und mit Simon das Zimmer in Besitz nimmt, ist Klara mehr als entzückt über die beiden jungen Burschen in ihrem Haus. Am nächsten Morgen kommt Simon zu spät zu seinem neuen Arbeitsort, einer Bank. Weil er auch noch frech wird, meldet sein Vorgesetzter die Verspätung dem Direktor, der Simon zu sich zitiert und ihn entlässt. Vor der Bank spricht Simon einen Mann an, der offensichtlich jemanden sucht. Simon bietet sich als Hilfe an und findet die gesuchte Frau prompt: Es ist niemand anderes als Klara - und der Herr ihr heimgekehrter Ehemann. Gemeinsam mit Kaspar verbringen sie den Abend im Theater und sehen sich ein Ballett an. Auf dem Nachhauseweg unterhält sich Kaspar mit Klara. Er berichtet ihr von einem Künstlerkollegen, der leider völlig untalentiert und glücklos ist. Klara bedauert ihn. Als sie beim Haus ankommen, geht Simon sogleich ins Bett. Plötzlich erwacht er von einem lauten Knall. Es war Herr Agappaia, der sich einen Spaß daraus macht, mitten in der Nacht mit seinem Gewehr herumzuschießen. Am nächsten Morgen begegnet Simon auf dem Flur Klara: Sie fällt ihm sogleich um den Hals und bedeckt ihn mit Küssen, beteuert mehrmals, wie sehr sie ihn und seinen Bruder liebe. Simon löst sich aus der Umarmung und geht ein wenig im Wald spazieren.

Die Geschwister Tanner unter sich

Kaspar und Klara unternehmen eine kleine Bootstour auf dem See und bewundern in stiller Vertrautheit die schöne Natur. Simon verbringt die Zeit in einer Speisehalle, wo mittellose Menschen gut und günstig ihr Mittagsmahl einnehmen können. Bald schon setzt sich ein ausgemergelter älterer Herr neben ihn und beginnt vor seiner Mahlzeit zu beten. Die beiden führen ein Gespräch darüber, als schließlich Klara die Halle betritt. Sie erscheint den ganzen hoffnungslosen Gestalten wie ein lichter Engel. Klara unterrichtet Simon darüber, dass sein Bruder Klaus angekommen sei, mitsamt der Schwester Hedwig und einem Mann namens Sebastian. Den Abend verbringen alle gemeinsam bei einem Spaziergang am Seeufer. Simon und Klaus unterhalten sich ganz prächtig, während Kaspar und Klara verliebt und verträumt hinter ihnen hergehen. Klara sinniert über die Schönheit von Kaspars Gesicht. Es kommt zu einem Streit zwischen Kaspar und Klaus, weil Letzterer meint, der Maler solle doch einmal nach Italien gehen, um seine Kunst zu vervollkommnen. Klaus sieht einen alten Disput wieder aufflammen und beschließt, am nächsten Tag abzureisen.

Der arme Poet

Sebastian ist ein armer Poet, der sich mit nichts besonders lange beschäftigt, gerne mit irgendeinem Buch in der Hand im Gras liegt und die Hoffnung auf irgendeine Anstellung längst aufgegeben hat. Seine Eltern haben ihn ebenfalls verloren gegeben und die finanziellen Zuwendungen eingestellt. Am Abend des Spaziergangs wird Sebastian ausgerechnet von Kaspar böse verunglimpft, der ihm vorwirft, dass er mit seinen jungen Jahren noch gar nicht recht dichten könne, sondern lieber erst mal etwas werden solle im Leben. Klara und Simon kommen sich näher. Die Frau sinnt darüber nach, wie ähnlich es doch sei, ihn oder seinen Bruder zu küssen. Hedwig und Sebastian verabschieden sich, und die anderen kehren zurück. In der Nacht hören Kaspar und Simon einen Schrei im Haus. Es ist Klara, die von Krämpfen geschüttelt in ihrem Zimmer liegt. Gemeinsam mit Klaras Mann schaffen sie sie aufs Bett, wo sie sich rasch wieder beruhigt und einschläft. Herr Agappaia erwähnt, dass dies nicht der erste Anfall gewesen sei. Am nächsten Morgen geht es Klara indes wieder gut; sie hat keine Erinnerung an den nächtlichen Vorfall.

Große Veränderungen

Die Zeit vergeht. Simon wird sein eigener Müßiggang zu viel. Er denkt darüber nach, dass er nun endlich einmal wieder tätig werden müsse. Aber es ist so schwer, wenn im Sommer die Sonne scheint. Er beschließt, auf den Winter zu warten, der ja schon allein wegen der Eiseskälte zur Tätigkeit ansporne. Dennoch tritt er in eine Fabrik ein, um dort bei der Inventur zu helfen. Als er eines Abends nach Hause kommt, findet er Klara in seinem Zimmer vor. Halb im Schlaf berichtet sie ihm davon, dass ihr Mann sein Geld durchgebracht habe, das Haus verkauft sei, er demnächst zu einer Expedition nach Indien aufbrechen werde und sie selbst im Herbst ausziehen und eine Anstellung nehmen müsse. Simon findet das vortrefflich, da er sich ja auch verändern will. Er macht sich auf, seinen Bruder Kaspar zu besuchen, der inzwischen in einem kleinen Städtchen auf dem Lande einen Tanzsaal bemalt. Die ganze Nacht wandert Simon und versucht, das neue Domizil seines Bruders bis zum Morgengrauen zu finden, was ihm tatsächlich gelingt. Vor Ort spricht er seine Bewunderung über Kaspars Malerei aus. Die beiden Brüder besehen sich das Städtchen und gehen gemeinsam in den Wald. Inzwischen kommt ein Brief von Klara an. Kaspar bedauert, dass sie nicht von ihm lassen will und sie somit eine unglückliche Liebe haben. Simon kehrt mit dem Zug in das Städtchen zurück.

Kindheitserinnerungen

Dann bricht der Winter herein. Simon macht es sich in dem kleinen Zimmer, in dem er nun wohnt, gemütlich und beginnt damit, Kindheitserinnerungen auf kleine Papierstreifen zu schreiben. Er erinnert sich daran, dass er nie krank war und die anderen Kinder, insbesondere Hedwig und Klaus, beneidete, die, wenn sie Fieber hatten, immer verhätschelt wurden. In der Schule war er stets gut und es war ihm ein Vergnügen, seinen Eltern zu beweisen, dass er zu etwas tauge. Allerdings waren unter seinen Schulkameraden die Streber schlecht angesehen, sodass er sich zuweilen dümmer anstellte, als er war. Eine Liebe zu einem mädchenhaften Mitschüler durfte er sich nicht eingestehen, weil dieser Junge wegen seiner Zartheit gehänselt wurde. Nach einigen Träumereien zerreißt Simon sein Geschreibsel wieder. Es zieht ihn in das Städtchen auf dem Land, in dem sein Bruder Kaspar lebt. Simon malt sich aus, wie es wohl sei, dort eine Stellung zu nehmen und von jedem auf der Straße gegrüßt zu werden, weil ihn alle kennen und lieben.

Besuch bei Hedwig

Simon macht sich erneut zu Fuß auf den Weg und stapft durch den meterhohen Schnee. Im Wald, unter den üppigen Tannen findet er einen Mann, der im Schnee liegt: tot. Es ist Sebastian. Halb betrauert ihn Simon, halb beneidet er ihn um dieses schöne, helle Grab. Er nimmt sich vor, niemandem außer Hedwig davon zu berichten. Er wirft die von Sebastian mitgeführten Gedichte, in einen anonymen Umschlag gewickelt, in den Briefkasten einer Zeitungsredaktion. Dann geht er weiter und landet unversehens in dem Dorf, wo seine Schwester Hedwig als Schullehrerin arbeitet. Sie begrüßt ihn überschwänglich und nimmt ihn bereitwillig bei sich auf. Simon entwickelt eine gewisse Geschicklichkeit, Tee und Kakao zuzubereiten, die Stube sauber zu halten und sich im Haushalt nützlich zu machen. Klaus kommt zu Besuch. Er kritisiert Simon dafür, dass er sich von seiner Schwester aushalten lässt und offensichtlich nur wieder seinem Müßiggang frönt. Der Frühling naht und mit ihm ein noch unbeschwerteres Leben. Hedwig schüttet Simon ihr Herz aus: Jetzt, wo er vorhabe, sie wieder zu verlassen, wolle sie auch fortgehen. Doch schon am nächsten Tag ist sie wie ausgewechselt und lacht über ihre Worte vom Vortag. Als Simon sich dann endlich auf den Weg macht, verabschiedet sie ihn bewusst kalt und ungerührt.

Simon wird Hausdiener

Zurück in der Stadt fällt Simon der große Unterschied zwischen den Städtern und den Menschen auf dem Land auf: Hier ist alles so hektisch und das Essen in den großen Speisesälen schmeckt ihm überhaupt nicht. Auf der Straße wird er von einer Dame angesprochen, die von ihm recht fordernd verlangt, er solle ihr ein Paket in die Wohnung tragen. Simon tut es gerne. Sie bietet ihm daraufhin eine Anstellung als Hausdiener an, weil sie schon vermutet, dass er ein liederlicher Herumtreiber sei, dem man nur mit Arbeit beikommen könne. Simon nimmt an. Zu seinen Aufgaben gehört neben der Mithilfe in der Küche, der Erledigung der Hausarbeit und dem morgendlichen Milchholen auch die Sorge um ein offensichtlich krankes Kind. Da er sich geschickt anstellt, betrachtet ihn die Hausherrin mit Wohlgefallen. Simon findet es erst recht schön, eine Art Heimat gefunden zu haben, dann wieder fühlt er sich beengt und eingesperrt. Er macht ein Spiel daraus, den Groll der Hausherrin auf sich zu lenken, will getadelt werden, empfindet Vergnügen dabei, sich vorzustellen, dass sie ihm mit ihrer schönen Hand eine Ohrfeige gibt. Er schreibt einen langen Brief an seinen Bruder Kaspar und wird, wie er selbst bemerkt, im Umgang mit der Hausherrin immer frecher. Nach drei Wochen sitzt er wieder auf der Straße.

„Ich bin noch überall, wo ich gewesen bin (...), bald weitergegangen, weil es mir nicht behagt hat, meine jungen Kräfte versauern zu lassen in der Enge und Dumpfheit von Schreibstuben (...)“ (Simon, S. 9)

In einer engen, muffigen Gasse klopft Simon an eine Tür und lässt sich ein Gästezimmer zeigen. Von hier aus will er sich auf allerlei Stellen bewerben. In einer Kneipe belauscht er das Gespräch zweier Leute. Es dreht sich um die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, der schon in der Schule aufgeweckt, intelligent und tüchtig war. Allerdings ist es elend mit ihm zu Ende gegangen, denn er wurde nach Verfehlungen beim Militär und Auffälligkeiten in seinem Lehrerberuf erst ins Gefängnis und dann in die Irrenanstalt gesteckt. Die lapidare Bemerkung, "es müsse wohl in der Familie liegen", macht Simon wütend. Er gibt zu, in der bedauernswerten Kreatur seinen Bruder Emil wiedererkannt zu haben, und hält eine elaborierte Rede über Glück und Unglück.

Wiedersehen mit Klara

Nach einer langen Nacht überlegt sich Simon, endlich mal etwas Richtiges anzufangen. Studieren wäre nicht schlecht. Vielleicht eine Sprache. Vielleicht Französisch. Auf dem anschließenden Spaziergang setzt er sich zu einem Bummler, der sagt, dass er Krankenwärter sei, auf eine Bank und hält einen glühenden Vortrag über seine Absicht, keine Karriere zu machen. Der Krankenwärter namens Heinrich lädt Simon zu sich nach Hause zum Essen ein, bietet ihm das Du an und möchte Simon küssen. Dieser lässt es widerwillig geschehen und zieht mit ihm eine Woche lang durch Kneipen und Biergärten. Dann gibt es Streit und es ist vorbei. Simon spricht in einer Schreibstube vor. Gleich am nächsten Morgen kann er mit der Tätigkeit beginnen - allerdings verdient er gerade so viel, dass es für seine Nahrung reicht. Eines Tages begegnet er Klara wieder, die er am Fenster eines der Häuser erblickt. Sie erzählt ihm von der Zeit nach seiner Abreise, davon, wie sie eine Anstellung gefunden hat und Fürsorgerin für die Armen geworden ist, dass sie ein Kind bekommen habe und von einem jungen reichen Mann namens Arthur umschwärmt werde, den sie heiraten will. Der Herbst kommt und mit ihm ein kurzer Besuch von Klaus. Im Winter macht Simon einen Spaziergang und landet in einem Kurhaus, wo ihn die Vorsteherin freundlich zum Essen einlädt und mit ihm plaudert. Ihr erzählt er im Schnelldurchlauf seine Familien- und Lebensgeschichte, wobei er sehr hart über sich selbst urteilt. Die Vorsteherin küsst ihn und geht mit ihm hinaus in die Winternacht, denn er soll es "eine Zeit lang ein bisschen wieder gut haben", findet sie.

Zum Text

Aufbau und Stil

Geschwister Tanner ist der Art nach ein Entwicklungsroman: Schließlich wird, wie in diesem Genre üblich, anhand einer detailreichen Lebensgeschichte erzählt, wie der Held seine Erfahrungen bewältigt und verarbeitet. Das Besondere: Simon Tanner macht nie eine wirkliche Entwicklung durch - er ist auch am Ende der Taugenichts, der er schon zu Beginn des Romans ist. Ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung: Das klingt paradox und rückt den Text dann auch fast eher in die Nähe von Abenteuerromanen, in denen der Held unterschiedliche Orte bereist, viele Erfahrungen sammelt, Menschen kennen lernt, Fehler macht - aber sich selbst kaum verändert. Zuweilen scheint der Text nur so vor sich hin zu plätschern, ohne Ziel, ohne Komposition, so frei von allen Zwängen wie die Hauptperson selbst. Walser legt sich auch nicht auf einen Erzählertyp fest: Mal beschreibt ein allwissender Erzähler, was geschieht, mal bedient Walser sich der perspektivischen Erzählweise aus der Sicht einer bestimmten Figur. Charakteristisch für den Roman sind die vielen, teilweise seitenlangen Monologe. Darin wirken Walsers Figuren redselig, ja fast geschwätzig. Mitunter wird aus diesen Soloeinlagen ein waschechter innerer Monolog, wie ihn z. B. Arthur Schnitzler nur wenige Jahre vor Walser in seinem Lieutenant Gustl so konsequent verwendete. Walsers Lektor bei seinem Berliner Verlag bezeichnete diese Monologe als "Standreden", für die man einige Geduld mitbringen müsse - denn obwohl kurz gemeint, scheinen sie immer ein Quäntchen zu lang zu sein. In diesen Reden werden die Möglichkeitsform oder der Bedingungssatz zum bestimmenden Modus; sie beschreiben, was sei, was wäre, was würde, was sein könnte - aber niemals wird.

Interpretationsansätze

  • Mit Simon Tanner präsentiert Walser einen modernen Taugenichts, der gegen die Konventionen seiner Umgebung rebelliert. Er bleibt arm und ohne Perspektive, aber er ist dabei souverän und subversiv. Mit einer an Lächerlichkeit grenzenden Chuzpe setzt er sich über die Ansprüche hinweg, die Familie, Freunde und Wirtschaftswelt (vom Buchhändler bis zum Bankdirektor) an ihn stellen. Er ist ein Rebell.
  • Immer wieder befindet sich Simon Tanner im Roman auf der Suche nach einer Wohnung und damit nach einer neuen Identität. Wichtigste Bleibe wird für ihn das Zimmer bei Klara Agappaia, die wie eine Spiegelung seiner Schwester Hedwig wirkt, bei der er ebenfalls einen Großteil seiner Wanderjahre verbringt. Beide, Schwester und Freundin, repräsentieren Simons Mutter und die verlorene Sphäre der Kindheit, wie einige Interpreten meinen.
  • Walser soll im Nachhinein bedauert haben, dass der Roman recht plakativ das Leben seiner eigenen Geschwister nachgestalte. Tatsächlich ist er stark autobiographisch geprägt; Simon Tanner lässt sich als Alter Ego Robert Walsers lesen. Einige der sieben Geschwister des Autors standen für Charaktere des Romans Pate.
  • Es verwundert allerdings, dass der Luftikus Simon Tanner ausgerechnet einem Helden des 15. Jahrhunderts nachgebildet wurde. Walser, so wird berichtet, habe Jacob Burckhardts Geschichtsbuch Die Kultur der Renaissance in Italien besonders geschätzt. In einer der Episoden über verschiedene Tyranneien in italienischen Herrscherhäusern berichtet Burckhardt vom 18-jährigen Helden Simonetto Baglione, der nach einem schweren Kampf den Tod fand. Die Menschen erkannten in ihm "noch das Trotzigkühne, als hätte ihn selbst der Tod nicht gebändigt". In dieser Aussage lässt sich Simon Tanners merkwürdiges Heldentum wiedererkennen.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz im ausgehenden 19. Jahrhundert

Robert Walsers Simon Tanner rebelliert gegen die bürgerlichen Konventionen und im Besonderen gegen die von vornherein festgelegte, wie in Stein gemeißelte berufliche Laufbahn, die keine Ausreißer zu dulden scheint. Tanner arbeitet, wie Walser selbst, überall: in Fabriken, einer Buchhandlung, bei einer reichen Familie als Hausdiener und in einer Bank. Die Tätigkeit als Gehilfe, als "Commis", missfällt ihm sehr. Die industriellen Entwicklungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts waren jedoch gerade dabei, die Schweiz in ein Land zu verwandeln, in dem der Commis und der Lohnarbeiter eine wichtige Rolle spielten. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts stürzte die Schweizer Landwirtschaft in eine große Krise. Grund war der Zusammenbruch der regionalen Versorgung durch den Ausbau der Eisenbahn und des Seehandels: Billiges Getreide aus Osteuropa und Amerika überflutete die Eidgenossenschaft. Die Schweizer Produzenten schwenkten um auf Milchprodukte, insbesondere Käse, Milch und Schokolade. Die Textilindustrie verlor an Gewicht, dafür begann der Aufstieg der chemischen Industrie und des Maschinenbaus. Auf der Weltausstellung 1900 präsentierte sich die Schweiz als fortschrittlicher Industriestaat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten die Eidgenossen mit dem Ausbau des Verkehrssystems wichtige Meilensteine: 1906 wurde der Simplontunnel eingeweiht, der damals längste Eisenbahntunnel der Welt. 1902 wurden die Privatbahnen verstaatlicht und die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) gegründet. Hierbei spielten die Schweizer Banken eine Schlüsselrolle: Der wegen seiner Macht als "Zar von Zürich" und "Eisenbahnkönig" bezeichnete Alfred Escher hatte bereits 1856 die Gründung der ersten Schweizer Großbank (die heutige Credit Suisse) angestoßen, die später bei der Finanzierung der Gründung der SBB mithalf. 1907, im gleichen Jahr, als Geschwister Tanner erschien, nahm in Bern die Schweizerische Nationalbank ihre Arbeit auf. Die Entwicklung der Eidgenossenschaft zur modernen Industrienation war nicht mehr aufzuhalten.

Entstehung

Im Jahr 1906 beendete Robert Walser seine unruhige Zeit des Herumirrens und Suchens: In verschiedenen Städten und Berufen hatte er sich versucht, nun folgte er einer Einladung seines Bruders Karl Walser nach Berlin, um in dessen Atelier in Charlottenburg sein Leben als freier Schriftsteller zu beginnen. Robert Walsers erste Prosaarbeit lag zwei Jahre zurück (Fritz Kochers Aufsätze, 1904) und er versuchte sich in Berlin an seinem ersten Roman. Karl vermittelte seinem Bruder den Kontakt zum Berliner Verleger Bruno Cassirer. Einer Anekdote zufolge hat sich Walser von Cassirer ein leeres Buch geben lassen, mit exakt so vielen Seiten, wie der Verleger gerne beschrieben haben wollte. Nach kurzer Zeit habe Walser diese Kladde zurückgegeben, bis zur letzten Seite voll geschrieben; das Werk trug den Titel Geschwister Tanner. Eine nette Geschichte zwar, die es jedoch mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt. Richtig ist aber immerhin, dass Walser den Roman im Januar 1906 begann und bereits Mitte Februar mit dem Manuskript fertig war. "Ich erinnere mich, dass ich die Niederschrift des Buches mit einem hoffnungslosen Wortgetändel mit allerlei gedankenlosem Zeichnen und Kritzeln begann", schreibt Walser über die Entstehung des Romans.

Bruno Cassirer war mit dem Ergebnis von Walsers Bemühungen nicht zufrieden: Er fand den Roman langweilig und wollte ihn gekürzt haben. Vielleicht ist es dem Dichter Christian Morgenstern, der das Manuskript als Lektor für den Verlag betreute, zu verdanken, dass der Roman überhaupt gedruckt wurde. In seinem Briefwechsel mit Walser drückte Morgenstern einerseits seine Bewunderung aus, ging mit Walser aber gleichzeitig auch hart ins Gericht, wenn es um Sprache und Grammatik, aber auch um den Stil ging: "das ohne Not Weitschweifige, das Saloppe des Satzbaus, die zur Trivialität führende Selbstgefälligkeit, die grammatikalische Unsicherheit, die Schiefe und mangelhafte Durchführung eines oder des andern gewählten Bildes" wurden bis zur Veröffentlichung entfernt, verbessert und überarbeitet.

Wirkungsgeschichte

Geschwister Tanner erschien zum Jahresanfang 1907 mit einem von Karl Walser gestalteten Cover. Die erste Auflage umfasste 1000 Exemplare und verkaufte sich offenbar sehr gut. Cassirer ließ im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels verkünden: "Diesem ersten größeren Werk Robert Walsers wurde bei der Kritik eine Aufnahme zuteil, die das Erscheinen des Buches zu einem literarischen Erfolg stempelt". Im November war die erste Auflage ausverkauft und es wurden 1000 Stück nachgedruckt. Allerdings verlief der Verkauf jetzt nur noch schleppend: 26 Jahre lang war die zweite Auflage lieferbar, das Buch degenerierte zum Ladenhüter. Und das, obwohl sich die Kritiker im Allgemeinen sehr wohlwollend über Walsers ersten Roman äußerten, namentlich Hermann Hesse, der in den Basler Nachrichten berichtete: "Ich gewann das Buch so lieb, dass ich über seine Vorzüge und Fehler viel nachdenken musste, (...) und am Ende wusste ich selber nimmer sicher, ob ich wirklich diese ‚Fehler’ hätte vermissen mögen." Erst nach Walsers Tod nahm die Verbreitung seiner Schriften, auch in anderen Sprachen, zu. Sein Einfluss auf moderne Autoren wie Martin Walser, Peter Bichsel und Peter Handke ist verbürgt. Elfriede Jelinek verfasste sogar ein Stück mit Walser’schen Aphorismen unter dem rätselhaften Titel er nicht als er (zu, mit Robert Walser).

Über den Autor

Robert Walser wird am 15. April 1878 in Biel im Kanton Bern geboren. Hier absolviert er nach der Schulzeit eine Banklehre. In den Jahren 1896-1905 lebt er überwiegend in Zürich, arbeitet dort als Angestellter in Banken und Versicherungen, als Buchhändler und technischer Gehilfe eines Ingenieurs, aber auch - nach einer entsprechenden Ausbildung in Berlin - in Oberschlesien als Diener. Erste Gedichte verschaffen ihm Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines Debüts, Fritz Kochers Aufsätze (1904), folgt Walser 1906 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner arbeitet und ihn in die Künstlerszene einführt. Walser verfasst in rascher Folge die Romane Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909). Trotz beachtlicher Erfolge kehrt Walser Berlin wieder den Rücken. Überzeugt davon, literarisch gescheitert zu sein, reist er 1913 in seine Heimatstadt Biel zurück. Im Hotel "Blaues Kreuz" mietet er eine Mansarde, wo er unter ärmlichsten Bedingungen lebt und schreibt. Hier entstehen eine Sammlung von Kurzprosatexten und die Erzählung Der Spaziergang (1917). Trotz der Präsenz in literarischen Zeitschriften kommt es nur noch zu einer Buchveröffentlichung: Die Rose (1925). Den so genannten Räuber-Roman von 1925 hinterlässt er nur als Entwurf, in mikroskopisch kleiner Schrift (Mikrogramm). Die Entzifferung soll mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Wegen psychischer Labilität lässt sich Walser 1929 in die psychiatrische Klinik Waldau bei Bern einweisen. Bis 1933 schreibt er weiter, danach muss er aufgeben und wird gegen seinen Willen in die Heilanstalt Herisau im Kanton Appenzell überstellt. Dort vegetiert er weitere 23 Jahre dahin, unerkannt und unbeachtet. Auf einem einsamen Spaziergang im Schnee verstirbt er am 25. Dezember 1956.

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