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Justiz

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Justiz

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Mörder kann auch dann noch freigesprochen werden, wenn er seine Tat vor aller Augen begeht und es an seiner Schuld keinen Zweifel gibt. In Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman dankt die Gerechtigkeit ein für alle Mal ab.


Literatur­klassiker

  • Kriminalroman
  • Moderne

Worum es geht

Die Gerechtigkeit ist ein Phantom

Der stadtbekannte Politiker Isaak Kohler erschießt in einem voll besetzten Restaurant den Universitätsprofessor Winter. Obwohl nicht der geringste Zweifel besteht, dass Kohler der Mörder ist, wird diese Tatsache in Dürrenmatts Kriminalroman Justiz in den Augen der Gesellschaft je länger je zweifelhafter. In einem Revisionsprozess wird Kohler freigesprochen und die Tat einem offensichtlich Unschuldigen angelastet. Der stets von Geldsorgen geplagte junge Anwalt und Ich-Erzähler Felix Spät, der den Freispruch selbst zu verantworten hat, wird in seinem Kampf für Gerechtigkeit zur lächerlich-absurden Figur. Nicht die Gerechtigkeit triumphiert, sondern die Justiz, die sich als ein Spielball machtvoll vertretener Einzelinteressen erweist. Der Roman ist grell, skurril, phasenweise witzig und zeichnet sich durch eine verworrene, aber auch verblüffende Handlung aus.

Take-aways

  • Justiz ist Dürrenmatts vierter Kriminalroman nach Der Richter und sein Henker, Der Verdacht und Das Versprechen.
  • Der Autor begann das Werk bereits 1957, vollendete es jedoch erst 1985.
  • Über die literarische Qualität des Buches gehen die Meinungen der Kritiker bis heute auseinander.
  • Kantonsrat Kohler erschießt in einem voll besetzten Restaurant den Germanistikprofessor Winter, ohne dass ein Motiv für den Mord auszumachen wäre.
  • Kohler geht scheinbar freudig ins Gefängnis, bittet jedoch den mittellosen Anwalt Spät, den Fall neu zu untersuchen – und zwar unter der Voraussetzung, dass ein anderer den Mord begangen habe.
  • Spät hält das Ansinnen für völlig absurd, nimmt Kohlers lukrativen Auftrag jedoch aus Geldnot an.
  • Die Nachforschungen eines von Spät angeheuerten Privatdetektivs ergeben, dass sich sämtliche Zeugen der Tat widersprechen.
  • Allmählich machen sich unter der Einwirkung von Späts Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft Zweifel an Kohlers Schuld breit, bis der Mörder schließlich in einem Revisionsprozess freigesprochen wird.
  • Ein Unschuldiger, dem der Mord nun in die Schuhe geschoben werden soll, begeht aus Verzweiflung in Späts Büro Selbstmord.
  • Späts Versuch, Kohler zu erschießen und dadurch der längst ad absurdum geführten Gerechtigkeit doch noch zum Sieg zu verhelfen, scheitert.
  • Der Roman wurde 1993 vom deutschen Regisseur Hans W. Geissendörfer in Absprache mit Dürrenmatt verfilmt.
  • Gemeinsam mit Max Frisch gilt Friedrich Dürrenmatt als bedeutendster Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Zusammenfassung

Schreiben im Suff

In volltrunkenem Zustand beginnt der Erzähler Felix Spät, ein heruntergekommener Anwalt, einen Bericht zu schreiben. Er ist soeben vom Flughafen zurückgekommen, wo er versucht hat, den Kantonsrat Isaak Kohler zu erschießen. Doch als der Anwalt mit entsicherter Waffe aus seinem Auto sprang, hob Kohlers Maschine bereits nach Australien ab. Spät nimmt sich vor, trinkend auf die Rückkehr seines Gegners zu warten und sich die Zeit zu vertreiben, indem er die Ereignisse niederschreibt, die ihn zu dem Mordversuch getrieben haben.

Mord im Restaurant

Jahre zuvor hat Spät als junger, eben erst von der Universität abgegangener Jurist im vornehmen Zürcher Restaurant Du Théâtre die Hauptakteure des späteren Dramas beim Billardspiel getroffen: den selbstsicheren und arroganten Kantonsrat Kohler, den undurchsichtigen Nachtschwärmer Dr. Benno und den geschwätzigen Germanistikprofessor Winter. Drei Jahre später, an einem milden Tag im Frühling 1955, kommt es am selben Ort zu einem ebenso spektakulären wie unerklärlichen Mord. Kantonsrat Kohler ist dabei, in seinem Rolls-Royce einen vor sich hindösenden englischen Minister zum Flughafen zu chauffieren. Vor dem Restaurant lässt er den Wagen kurz anhalten, betritt das volle Lokal und schießt vor aller Augen – auch jenen des Polizeikommandanten – den tafelnden Professor Winter nieder. Danach verlässt er das Lokal und bringt den Minister, der nichts ahnend im Auto gewartet hat, zu seiner Maschine, während am Tatort Polizisten, Gerichtsmediziner und der als kompromisslos geltende Staatsanwalt Jämmerlin aufmarschieren. Später lässt sich Kohler widerstandslos verhaften. Als er von seinem Freund, dem Polizeikommandanten, verhört wird, will er allerdings keinen Grund für seine Tat nennen. Im Prozess vor dem Obergericht legt er kein ausdrückliches Geständnis ab und verhält sich derart nonchalant und würdig, dass er die Bewunderung des Publikums und der Öffentlichkeit erregt – dies umso mehr, als der ermordete Winter als penetranter Langweiler und Wichtigtuer galt. Die Tatwaffe wird nie gefunden, ebenso wenig lässt der Mörder ein Motiv für seine Tat erkennen.

Der Fall wird neu aufgerollt

Einige Zeit später bezieht der junge Jurist Spät ein heruntergekommenes Büro über dem Vereinssaal einer fundamentalistisch-christlichen Sekte. Klienten hat er nur wenige, er verbringt die meiste Zeit mit Trinken und Faulenzen – bis er eines Tages einen Brief von Kohler erhält mit der Bitte, ihn im Gefängnis zu besuchen. Vom Gefängnisdirektor erfährt Spät, dass Kohler ein vollkommen glücklicher Musterhäftling sei, der von den Wärtern verehrt und geliebt werde. Der als Mörder Verurteilte hat den Anwalt zu sich gebeten, um ihm einen äußerst lukrativen Auftrag zu erteilen: Er soll den Mordfall Winter neu untersuchen, und zwar unter der Annahme, dass ein anderer als er, Kohler, die Tat begangen habe. Spät hält das Unterfangen für vollkommen sinnlos, doch wegen seiner prekären finanziellen Lage sagt er nach einigem Zögern zu. Kohler begründet den Auftrag, indem er zu einem philosophischen Exkurs ausholt: Die Wirklichkeit sei nicht mehr als eine letztlich zufällig eingetretene Variante des Möglichen. Deshalb sei sie auch anders denkbar. Um ins Mögliche vorzustoßen, müsse man es wagen, das Wirkliche umzudenken.

„(...) die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern (...)“ (S. 41)

Schon am nächsten Tag will Spät den Auftrag schriftlich wieder zurückweisen, weil dieser ihm als absurde Spielerei erscheint, mit der er seine Existenz als Anwalt aufs Spiel setzt. Doch eine Reihe von Begegnungen hält ihn davon ab, den bereits aufgesetzten Brief an Kohler abzuschicken. So läuft er beispielsweise dem gönnerhaften, schwerreichen und unendlich fetten Architekten Friedli über den Weg, der ihm zu einem neuen, luxuriösen Büro verhelfen will. Außerdem trifft er den Privatdetektiv Lienhard. Dieser hat Staatsanwalt Jämmerlin, mit dem er seit Jahren verfeindet ist, beinahe in den Wahnsinn getrieben, indem er ihm wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgte. Lienhard empfiehlt dem Anwalt, Kohlers Auftrag anzunehmen, und er ist bereit, ihm bei den dafür nötigen Nachforschungen zu helfen.

Ein Verbrechen als Spiel?

Bei einem Besuch in Kohlers Villa verfällt Spät in einen visionären Zustand, in dem er die Motive des Mörders plötzlich zu verstehen glaubt: Kohler hat gemordet, weil er ein Spieler und Hasardeur ist, der zugleich die Wirklichkeit mit dem kalten Auge des Wissenschaftlers zu betrachten und zu analysieren liebt. Der Mord ist ein Versuch, die Gesetze zu beobachten, die der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegen. Das Motiv ist abstrakt, die Tat ein wissenschaftliches Experiment, ein Spiel. Kohlers Tochter Hélène bittet den Anwalt, den Auftrag ihres Vaters anzunehmen, und überreicht ihm einen Scheck. Sie klammert sich verzweifelt an den Glauben, Kohler sei aus dunklen Motiven von irgendjemandem zu dem Mord gezwungen worden. Spät verliebt sich in die hübsche junge Frau. Doch später begegnet er ihr in einem Café wieder und es kommt zu einer unschönen Szene: Sturzbetrunken und in Begleitung einer Prostituierten und ihres Zuhälters wirft ihr der Anwalt lallend vor, die Tatwaffe beseitigt zu haben: Ihr Vater habe die Pistole unbemerkt in die Jackentasche des englischen Ministers gleiten lassen, und Hélène habe ihre Position als Stewardess dazu benutzt, sie während des Flugs an sich zu nehmen und verschwinden zu lassen. Deshalb sei sie nicht nur die Tochter eines Mörders, sondern auch dessen Mittäterin. Spät beschimpft Hélène derart unflätig, dass sie die Flucht ergreift. Lienhard schlägt vor, die Recherchen bei Dr. Benno und bei dessen Freundin Monika Steiermann, einer reichen Erbin, zu beginnen.

Der Fall wird verwickelt

Spät zieht in sein neues Büro und hat plötzlich Erfolg: Er beschäftigt sich mit einer lukrativen Ehescheidung, zu seinen Kunden gehören ein Großindustrieller und ein Möbelhändler, vor Gericht sind Erbstreitigkeiten zu schlichten. Den Fall Kohler überlässt Spät vorläufig Lienhard und den skurrilen Schnüfflern, die mit dem Detektiv zusammenarbeiten und sämtliche Hauptzeugen noch einmal befragen. Eines Tages erscheint Fanter, einer von Lienhards Gehilfen, bei Spät im Büro. Er teilt dem Juristen mit, dass Monika Steiermann einen Anwalt brauche, weil sie von Dr. Benno verprügelt werde. Spät fährt mit seinem kürzlich gekauften Porsche los, um die blau geschlagene, blutende und zerkratzte Millionenerbin in ihrem Hotel abzuholen und in Lienhards Bungalow zu bringen. Dort trinken die beiden Cognac, die Frau zieht sich vor den Augen des Anwalts splitternackt aus und nimmt ein Bad. Dann bekennt sie plötzlich, dass sie gar nicht Monika Steiermann ist, sondern lediglich deren Rolle spiele. In Wahrheit heiße sie Daphne Müller und sei die Tochter des ermordeten Winter. Sie erteilt dem Anwalt den Auftrag, die echte Monika Steiermann aufzusuchen, um ihr mitzuteilen, dass sie sie nicht mehr sehen wolle.

„Das Verbrechen war öffentlich geschehen, wer der Mörder war, musste nicht bewiesen werden. Nur über das Motiv der Tat war nichts auszumachen. Es schien keines zu geben.“ (S. 44)

Die Steiermann lebt in einer Villa inmitten eines riesigen, verwilderten Parks, in dem eine Unzahl von Gartenzwergen steht. Dort angekommen, wird Spät von einem Leibwächter gepackt, ins Gebäude geschleppt und auf einen Ledersessel gestoßen. An den getäfelten Wänden des Zimmers hängen zahlreiche Fotos, die alle Dr. Benno zeigen. Monika Steiermann stellt sich als ein verkrüppelter Zwerg heraus. Sie trägt ein tief ausgeschnittenes Kleid, an dem ein Saphir funkelt, und wird von einem mächtigen Leibwächter hereingetragen. Als sie erfährt, dass Daphne Müller nicht mehr zu ihr zurückkehren will, glänzen Tränen in ihren Augen. Daphne habe in ihrem Auftrag und mit ihrem Geld das Leben geführt, das sie selber hätte führen wollen. Die Zwergin befiehlt einem Leibwächter, sie zu den Fotos von Dr. Benno zu tragen, die sie dann mit einem Klappmesser seelenruhig zerschneidet. Anschließend erzählt sie, dass Kohler vom Gefängnis aus ihr Unternehmen führe, welches sich auf die Waffenherstellung verlegt habe.

Wankende Gewissheit

Inzwischen geht in der Stadt das Gerücht um, Kohler könne unmöglich der Mörder sein. Dem Häftling ist es gelungen, selbst den Gefängnisdirektor und die Wärter von seiner Unschuld zu überzeugen. In Wahrheit habe Dr. Benno die Tat begangen, heißt es, schließlich sei er ja Schweizer Meister im Pistolenschießen. Auch viele Politiker und Wirtschaftsbosse stellen sich jetzt auf Kohlers Seite. Spät erhält von Detektiv Lienhard einen 150-seitigen, eng beschriebenen Bericht über den Fall. Es stellt sich heraus, dass sich die Zeugen teilweise fundamental widersprechen und dass auch Dr. Benno zur Tatzeit im Restaurant anwesend war. Dr. Benno war der Geliebte Daphne Müllers, die er jedoch für Monika Steiermann hielt. Er war finanziell vollkommen von ihr abhängig. Zwischen dem ermordeten Professor Winter und Dr. Benno muss irgendetwas vorgefallen sein, das Daphne dazu bewogen hat, die Beziehung zu beenden, wodurch Dr. Benno in den Ruin geschlittert ist. Gemäß Lienhards Bericht hatte er also nicht nur Gelegenheit, sondern auch ein Motiv für den Mord. Spät erkennt, dass er durch seine Tätigkeit den Glauben an Kohlers Unschuld schürt, aber weil er dringend Geld braucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiterzumachen.

Der Prozess

Als Spät nachts zum wiederholten Mal Lienhards Bericht studiert, stürzt unvermittelt der neue Tatverdächtige in sein Büro. Dr. Benno ist verzweifelt und bittet den Anwalt schwitzend und zitternd, von den Untersuchungen gegen ihn abzulassen. Dieser versichert ihm, dass er felsenfest von Kohlers Schuld überzeugt sei und dass auch sonst niemand an dessen Täterschaft zweifle. Dr. Benno wankt davon. Danach erfährt Spät vom Polizeikommandanten, dass Daphne Müller ermordet worden ist. Der Anwalt vermutet, dass die Zwergin dahintersteckt, weil Daphne für sie eine Belastung dargestellt hat.

„Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.“ (Kohler, S. 59)

Spät schickt den Bericht des Detektivs dem Staranwalt Stüssi-Leupin zu, für den er zu Beginn seiner Karriere selber gearbeitet hat. Stüssi-Leupin empfiehlt ihm, einen Revisionsprozess anzustreben und mit folgender Argumentation die Schuld Dr. Benno in die Schuhe zu schieben: Professor Winter habe die echte Monika Steiermann aufgeklärt, dass Dr. Benno mit ihrem Alter Ego Daphne Müller ihre Millionen verprasse, wonach die Beziehung in die Brüche gegangen sei und Dr. Benno den Germanisten aus Rache ermordet habe. Spät konfrontiert daraufhin den Starjuristen mit seiner These, dass Kohler aus einem abstrakt-philosophischen Spieltrieb heraus gehandelt habe, stößt damit aber auf Ablehnung. Stüssi-Leupin bietet 40 000 Franken für Späts Bericht – er will den Revisionsprozess selber führen. Aus Geldnot willigt der Junganwalt ein, kündigt aber an, Dr. Benno verteidigen zu wollen.

„Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und lässt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.“ (S. 65)

Beim Revisionsprozess macht Stüssi-Leupin eine hervorragende Figur, und die Zeugen widersprechen sich oft derart deutlich, dass sich die Geschworenen das Lachen verbeißen müssen. Allmählich lenkt der Staranwalt den Verdacht auf Dr. Benno. Dieser erscheint nicht zur mit Spannung erwarteten Einvernahme. Er wird zur Fahndung ausgeschrieben, doch als Späts Sekretärin am folgenden Morgen das Büro betritt, findet sie Dr. Benno aufgehängt am Lüster baumelnd. In seiner Verzweiflung hat er Selbstmord begangen. Isaak Kohler wird mit Glanz und Gloria freigesprochen, und Spät erkennt, dass einzig durch die Ermordung des Mörders doch noch Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Sein erster Versuch, Kohler am Flughafen zu richten, scheitert. Er muss warten, bis der ehemalige Kantonsrat von seiner langen Weltreise zurückkehrt. Späts Bericht endet mit der Ankündigung, dass er nun erneut zum Flughafen aufbrechen werde, um die Tat zu sühnen.

Nachträgliche Aufklärung

Jahrzehnte später macht der Herausgeber des Buches Bekanntschaft mit einigen Überlebenden des damaligen Dramas und berichtet darüber: Bei einem Empfang in einer Münchner Villa hat sich die nationale und internationale Kulturschickeria versammelt und ein im Rollstuhl sitzender Greis erzählt zur allgemeinen Gaudi, dass er einst einen Mord begangen habe, um einen von ihm geführten Konzern vor dem Untergang zu retten. Die Tatwaffe habe er im Mantel eines englischen Ministers verschwinden lassen. Die Gesellschaft lacht und applaudiert der vermeintlich fantasievollen Geschichte. Kurz darauf will der Herausgeber in einem abgeschiedenen voralpinen Nest einen Hof kaufen. Ein Besoffener erzählt inmitten einer Schar johlender, ebenfalls sturzbetrunkener Bauern, dass er einst ein berühmter Jurist gewesen sei und einen zu Unrecht freigesprochenen Mörder hingerichtet habe. Er sei als Putzfrau verkleidet auf dem Flughafen erschienen, habe aus einem aufklappbaren künstlichen Busen einen Revolver gezogen und den von einer Weltreise heimkehrenden Verbrecher erschossen. Später erfährt der Herausgeber jedoch, dass die Tat in Wahrheit missglückt ist, weil der damalige Polizeikommandant die Waffe des Rächers mit Platzpatronen präpariert hat. Als der Herausgeber schließlich auch noch Hélène Kohler auf deren Anwesen besucht, erfährt er eine neue Version der damaligen Vorgänge: Als junge Frau sei Hélène einer Einladung in Monika Steiermanns Villa gefolgt und dort von Winter, Benno und Daphne vergewaltigt worden – auf Veranlassung der Zwergin, die dabei zugesehen habe, wie an Hélène das vollbracht wurde, was ihr selbst aufgrund ihrer Missbildung für immer verwehrt geblieben sei. Später habe Hélène alles ihrem Vater erzählt, und gemeinsam hätten sie aus Rache den Mord an Winter und die daraus folgende Vernichtung von Benno und Daphne geplant und durchgeführt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman besteht aus drei Teilen. Die vom Anwalt Spät in Ich-Form erzählten ersten beiden Teile spielen sich auf zwei zeitlichen Ebenen ab, zwischen denen häufig hin und her gewechselt wird; weitere Rückblenden innerhalb der Ebenen verleihen der Zeitstruktur des Werks zusätzliche Komplexität. Die Erzählung setzt nach Späts erstem Mordversuch an Kohler ein, in jenem Moment, in dem Spät vom Flughafen zurückkehrt und einen erklärenden Bericht verfasst, welcher den Hauptteil des Werks bildet. Im dritten Abschnitt des Romans kommt es dann zu einem Erzählerwechsel. Der Herausgeber, der Späts Bericht zugespielt bekommen hat, wirft aus einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten einen Blick zurück auf die damaligen Ereignisse, wodurch sie zumindest teilweise in einem völlig neuen Licht erscheinen.

Interpretationsansätze

  • Das Werk zeigt eine Gesellschaft, in der zwischen Justiz und Gerechtigkeit ein unüberwindlicher Graben besteht. So wird ein Mörder freigesprochen, und ein zumindest des Mordes Unschuldiger in den Selbstmord getrieben. Ein altes Verbrechen kann nur durch ein neues gesühnt werden, wodurch der hehre Anspruch der Gerechtigkeit ad absurdum geführt wird.
  • Gerechtigkeit erscheint im Roman nicht als etwas Absolutes, sondern lediglich als gesellschaftliche Konvention. Macht, Geld sowie persönliche oder politische Interessen sind stärker als abstrakte moralische Prinzipien.
  • Der Anwalt Spät ist ein lächerlicher Held. Er erscheint als Verfechter der Wahrheit, trägt aber durch seine Naivität, seine Geldsorgen und seine Trunksucht absurderweise dazu bei, diese in ihr Gegenteil zu verkehren. Sein Kampf hat nichts Heroisches, sondern ist angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse völlig obsolet geworden.
  • Die Wirklichkeit erscheint als brüchig und zweifelhaft, sie ist dem menschlichen Verstand bestenfalls in Teilen zugänglich. In der Erinnerung oder durch einen opportunistischen Kollektivglauben kann sie völlig verzerrt werden.
  • Mit Ausnahme des scheiternden Anwalts Spät finden sich die Figuren des Romans mit dem amoralischen Zustand der Welt ab und handeln bedenkenlos danach – teilweise durchaus mit Erfolg.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz der 50er Jahre: Wohlstand und intellektuelle Kritik

Friedrich Dürrenmatt begann seine Arbeit an Justiz in den 50er Jahren, zu einer Zeit, als die Schweiz von einer konservativen Mentalität und großer politischer Stabilität geprägt war. Das vom Zweiten Weltkrieg verschonte Land erlebte einen fiebrigen Wirtschaftsaufschwung und sah sich zugleich als Hort der Sicherheit und der Anständigkeit. Es herrschte die Überzeugung, dass die Neutralität und die Tapferkeit der Armee Hitler von einem Angriff auf die Schweiz abgehalten hätten. Beträchtlicher Wohlstand machte sich breit, ebenso wie eine zwischen militärischer, wirtschaftlicher und konservativer politischer Elite wuchernde Verfilzung.

Diese selbstzufriedene, behagliche Grundstimmung wurde in den folgenden Jahren und Jahrzehnten von der linken Intelligenz des Landes – neben Dürrenmatt etwa Max Frisch, Niklaus Meienberg und Paul Nizon – wortmächtig, energisch und unermüdlich kritisiert. Das Land sei während der Zeit des Nationalsozialismus nicht in erster Linie tapfer gewesen, sondern pragmatisch und oft auch in moralisch fragwürdiger Weise opportunistisch, lautete ihr Vorwurf. „Zu unserem Davonkommen gehört die Schuld; gerade hier erweist sich die Schweiz als klein, kleiner noch als auf der Landkarte“, schrieb Dürrenmatt in seinem Essay Zur Dramaturgie der Schweiz. Neben dem Mythos der Schweizer Armee prangerten Schriftsteller und Intellektuelle auch das fehlende Frauenstimmrecht, die wirtschaftlich-politische Macht der Banken und die schlechte Behandlung der immer zahlreicher ins Land strömenden ausländischen Arbeitskräfte an.

Zu einem der bekanntesten Pamphlete der Schweizkritik wurde Paul Nizons Diskurs in der Enge. Darin vertrat der Autor die These, dass in einem bürgerlich-spießigen Land wie der Schweiz keine wahre Kunst entstehen könne und Künstler deshalb ins Ausland flüchten müssten.

Entstehung

Friedrich Dürrenmatt begann den Roman Justiz bereits im Jahr 1957, ließ ihn dann jedoch zugunsten des Theaterstücks Frank der Fünfte liegen. Später versuchte er mehrmals, die Arbeit am Manuskript wieder aufzunehmen, doch konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er die Fortführung der Handlung ursprünglich geplant hatte. In seinem grossen Stoffe-Projekt griff er das Grundthema des Romans in den 70er Jahren zwar wieder auf, allerdings ohne es entscheidend weiterzuentwickeln. 1985 schlug ihm sein Verleger Daniel Keel vor, Justiz als Fragment zu veröffentlichen, was Dürrenmatt nach längerem Zögern zuerst dazu veranlasste, ein zusätzliches Kapitel zu schreiben, dann begann er mit der Überarbeitung des ganzen Werkes. Er vollendete es schließlich, wenn auch anders, als er es in den 50er Jahren vorgesehen hatte. 1985 wurde der Roman in 13 leicht gekürzten Folgen im Hamburger Magazin Stern vorabgedruckt, im selben Jahr erschien er in Buchform bei Diogenes.

Wirkungsgeschichte

Während Dürrenmatts literarische Kriminalromane Der Richter und sein Henker, Das Versprechen und Der Verdacht bei Publikum und Kritik durchgehend mit Zustimmung aufgenommen wurden, stieß Justiz auf geteilte Reaktionen. Die Schweizer Weltwoche lobte den Roman als „boshaftes, possenreißerisches, scharfes und brillantes Stück Literatur“. Hingegen bemängelten zahlreiche andere Kritiker die verwirrende Handlung des Buches sowie die unübersehbaren, außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit stattfindenden psychischen Umschwünge seiner Hauptfiguren. „Die Erzählung schaufelt Material wie ein außer Kontrolle geratener Tiefbau-Bagger“, urteilte der Schweizer Autor Jürg Laederach. Als billigen Trick kritisierte er ferner Dürrenmatts Versuch, das Handlungschaos durch die Trunksucht und die Verwirrtheit des Ich-Erzählers zu rechtfertigen: „Die Darstellung von Unordnung mit dem Mittel der Unordnung kann aber, alte Dramatiker-Regel, als Rechnung nicht aufgehen.“ Die NZZ schrieb, der Roman sei dramaturgisch „weniger deutlich verstrebt als Dürrenmatts frühere Kriminalgeschichten“, sie lobte jedoch, dass die Handlung „lustvoll und spannend erzählt wird, aufgedonnert daherkommt und fulminante szenische und figürliche Erfindungen – wie sie nur Dürrenmatt macht – zum Besten gibt“. Alles in allem steht Justiz eindeutig im Schatten von Dürrenmatts anderen drei Kriminalromanen.

Das Werk wurde 1993 vom deutschen Regisseur Hans W. Geissendörfer verfilmt, wobei Maximilian Schell, Thomas Heinze und Anna Thalbach die Hauptrollen spielten. Das Drehbuch verfasste Geissendörfer in Absprache mit Dürrenmatt; auch die Verfilmung war nur mäßig erfolgreich.

Über den Autor

Friedrich Dürrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protestantischer Pfarrer. In Bern besucht Dürrenmatt das Freie Gymnasium und das Humboldtianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmäßiger Schüler und bezeichnet die Schulzeit später als die übelste Phase seines Lebens. In Bern und Zürich studiert er Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaften. Seinen eigenen biografischen Schriften zufolge führt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr später heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er insgesamt drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes Theaterstück Es steht geschrieben uraufgeführt. Aus Geldnot verfasst Dürrenmatt Anfang der 50er Jahre seinen wohl bis heute bekanntesten Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begründen seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schriftsteller in einem eigenen Haus bei Neuchâtel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet Dürrenmatt 1984 die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein Verhältnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Max Frisch. Die anfängliche Freundschaft schlägt in gegenseitiges Ressentiment um, das auf persönlicher Antipathie und literarischen Differenzen beruht. Dürrenmatt erhält im Lauf seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Georg-Büchner-Preis. Sein literarisches Werk ist äußerst vielfältig: Neben Theaterstücken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, Erzählungen, Vorträge sowie autobiografische, literatur- und theatertheoretische Schriften. Daneben arbeitet Dürrenmatt zeitweise als Regisseur und ständig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.

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    A. B. vor 6 Jahren
    gut geschrieben