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Das Erdbeben in Chili

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Das Erdbeben in Chili

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eine zutiefst verstörende Erzählung über menschliche Unberechenbarkeit.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Romantik

Worum es geht

Die Erschütterung der Aufklärung

Kein anderes Ereignis erschütterte das optimistisch-aufklärerische Weltbild der europäischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts so sehr wie das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Noch Jahrzehnte später stritten die Philosophen – von Voltaire über Rousseau bis Kant – über das Problem der Theodizee, also die Rechtfertigung eines angeblich allgütigen Gottes angesichts des Unglücks und Leids in der Welt. In Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili hallt diese Debatte nach. Für Kleist ist der Glaube an göttliches Wirken nichts anderes als der Versuch des Menschen, Ordnung in ein vom Zufall regiertes Universum zu bringen. Eine Wahrheit, ein tieferer Sinn lassen sich nicht erkennen. Auch die Rousseauʼsche Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus gut, wird von Kleist in seiner Novelle ad absurdum geführt: In der Krise schlagen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft plötzlich in Aggression und zügellosen Hass um. Eine ambivalente und zutiefst verstörende Erzählung über menschliche Unberechenbarkeit, die den Leser auch noch nach über zwei Jahrhunderten ratlos zurücklässt.

Take-aways

  • Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili zählt zu den meistdiskutierten Werken der deutschen Literatur.
  • Inhalt: Jeronimo und Josephe sind in Haft, ihnen droht wegen ihrer nicht standesgemäßen Affäre der Tod. Da bricht ein Erdbeben aus und sie kommen frei. Im allgemeinen Chaos erleben sie Glück und Mitmenschlichkeit – allerdings nur kurz. Aufgestachelt durch die Rede eines Predigers bringt ein wütender Mob die beiden um. Nur ihr kleiner Sohn überlebt.
  • Kleists Novelle spielt im Jahr 1647, den ideengeschichtlichen Hintergrund bildet jedoch das Erdbeben in Lissabon im Jahr 1755.
  • Die schwere Katastrophe erschütterte das optimistische Weltbild der Aufklärung.
  • Philosophen wie Voltaire, Rousseau und Kant diskutierten über die Frage, wie ein guter Gott solches Leid zulassen könne.
  • In Kleists Novelle versuchen die Menschen, einen Sinn oder Gottes Willen hinter der Katastrophe zu erkennen, doch tatsächlich regiert der Zufall.
  • Kleist übt deutliche Kritik am Christentum und an der katholischen Kirche.
  • Seine Sprache ist nüchtern und emotionslos, die Sätze sind verschachtelt und die Handlung oft stark gerafft.
  • Das Erdbeben in Chili löste bei Kleists Zeitgenossen zwiespältige Reaktionen aus.
  • Zitat: „Und in der Tat schien, mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn.“

Zusammenfassung

Eine heimliche Affäre

St. Jago, Hauptstadt des Königreichs Chili, im Jahr 1647. Ein Spanier namens Jeronimo Rugera hat im Gefängnis beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Bis vor einem Jahr noch war er im Haus von Don Henrico Asteron, einem der reichsten Adligen der Stadt, als Lehrer angestellt. Doch als herauskam, dass er eine heimliche Affäre mit dessen einziger Tochter Donna Josephe unterhielt, wurde er entlassen. Josephe wurde ins Kloster gesteckt.

„In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.“ (S. 51)

Durch Zufall gelang es Jeronimo, wieder Kontakt zu der Geliebten aufzunehmen. Eines Nachts kamen die beiden endlich im Klostergarten zusammen. Während der folgenden Fronleichnamsprozession brach Josephe plötzlich mit Wehen auf den Stufen der Kathedrale zusammen. Ohne Rücksicht auf ihren Zustand steckte man sie ins Gefängnis, und nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte, wurde ihr auf Befehl des Erzbischofs der Prozess gemacht.

„Er begriff nicht, warum er dem Tode, den seine jammervolle Seele suchte, in jenen Augenblicken, da er ihm freiwillig von allen Seiten rettend erschien, entflohen sei.“ (über Jeronimo, S. 54)

Der Fall erregte großes Aufsehen. Die ganze Stadt empörte sich und schimpfte über die skandalösen Zustände im Kloster. Obwohl sich die Familie Asteron und auch eine Äbtissin, die Josephe aufgrund ihres tadellosen Benehmens lieb gewonnen hatte, für das junge Mädchen einsetzten, sollte sie die ganze Härte des klösterlichen Gesetzes zu spüren bekommen. Alles, was ihre Fürsprecher erreichen konnten, war, dass der Vizekönig die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen in eine Enthauptung umwandelte – sehr zur Entrüstung der frommen Jungfrauen und Matronen der Stadt.

„Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag.“ (S. 57)

Am Tag von Josephes Hinrichtung ist die ganze Stadt in Aufruhr. Jeder will miterleben, wie an der Sünderin die Gerechtigkeit Gottes vollzogen wird. In den Häusern entlang der Straßen, durch die der Hinrichtungszug gehen sollte, werden Fensterplätze vermietet und für eine bessere Sicht sogar Dächer entfernt. Brave Bürgerstöchter laden ihre Freundinnen ein, um gemeinsam an dem Spektakel teilzunehmen.

Jeronimos Flucht

Als Jeronimo im Gefängnis von der geplanten Hinrichtung erfährt, wird er fast irre. Er überlegt hin und her, wie er seine Geliebte retten könnte. Sogar die Gitterstäbe vor dem Fenster versucht er, durchzufeilen, aber er wird entdeckt und landet in einer noch sichereren Zelle. Inbrünstig betet er zur Heiligen Mutter Maria, doch als der Tag der Hinrichtung kommt, hat er alle Hoffnung auf Rettung verloren. Von fern hört er am Richtplatz die Glocken läuten. So verzweifelt ist er, dass er beschließt, sich das Leben zu nehmen. Gerade hat Jeronimo einen zufällig herumliegenden Strick an einem Eisenhaken befestigt, der aus einem Pfeiler ragt, da ertönt ein großer Krach, und die Gebäude der Stadt stürzen ein. Unter seinen Füßen bebt der Boden, und starr vor Schreck hält er sich an dem Pfeiler fest, an dem er sich eben noch aufhängen wollte. Auch der Gefängnisbau bricht zusammen. Durch ein Loch in der Mauer gelangt Jeronimo ins Freie. 

„Denn Unendliches hatten sie zu schwatzen vom Klostergarten und den Gefängnissen, und was sie um einander gelitten hätten; und waren sehr gerührt, wenn sie dachten wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden!“ (über Jeronimo und Josephe, S. 57)

Immer wieder wird die Erde von neuen, heftigen Stößen erschüttert. In den Straßen, durch die Jeronimo eilt, bietet sich ihm ein Bild der Verwüstung. Steine und Balken fliegen durch die Luft, überall brennt es, der Fluss ist über die Ufer getreten, Leichen liegen herum, schreiende Menschen versuchen sich aus den Trümmern und vor der Wasserflut zu retten. Jeronimo schafft es durch das Stadttor hinaus und bricht ohnmächtig zusammen. Als er nach einer Viertelstunde erwacht, empfindet er angesichts der blühenden Landschaft und der zerstörten Stadt tiefes Glück darüber, dass er am Leben ist, und er dankt Gott für seine Rettung.

Josephes wundersame Rettung

Doch der Ring an seinem Finger erinnert ihn an Josephe und an das Schicksal, das sie erleiden musste, und er bereut es, zu Gott gebetet zu haben, der doch so etwas Schreckliches zulassen konnte. Er fragt einige Leute, die samt Hab und Gut aus der Stadt fliehen, was mit Josephe sei, und erfährt, sie sei enthauptet worden. Im nahe gelegenen Wald gibt er sich seinem Schmerz hin und fragt sich, warum gerade er, der doch sterben wollte, das Erdbeben überlebt hat. Dann plötzlich schöpft er wieder Hoffnung und sucht im Flüchtlingsstrom nach Josephe – doch vergebens. Schon will er aufgeben, da erkennt er in einer jungen Frau, die in einem einsamen Tal ihr Kind im Fluss wäscht, die Geliebte.

„Es war, als ob die Gemüter, seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären.“ (S. 59)

Freudig umarmen sich die beiden. Josephe erzählt, wie sie gerade den Richtplatz betrat, als das Erbeben losging. In dem allgemeinen Durcheinander gelang es ihr, zu entkommen, doch dann fiel ihr das neugeborene Kind ein, um das die Äbtissin sich zu kümmern versprochen hatte. Wie durch ein Wunder konnte Josephe den Säugling aus dem brennenden Kloster retten, das gleich darauf einstürzte und alle Insassen unter seinen Trümmern begrub. Auf ihrem Weg durch die Stadt sah Josephe, dass alles zerstört war: die Kathedrale, die den Erzbischof zerschmettert hatte, der Gerichtshof, in dem ihr Urteil gefällt worden war, und auch ihr Elternhaus. Beim Anblick des zertrümmerten Gefängnisses wäre sie fast in Ohnmacht gefallen, doch dann riss sie sich zusammen und flüchtete mit dem Kind aus der Stadt.

Das Paradies auf Erden

Inzwischen ist es Abend geworden, und um sie herum bereiten die Menschen ihre Nachtlager. Sie haben alles verloren. Es herrschen Kummer und Verzweiflung. Und um niemanden durch ihr Wiedersehensglück zu kränken, verziehen sich Jeronimo und Josephe mit ihrem kleinen Sohn Philipp in dichtes Gebüsch. Es ist wie im Paradies. Im Mondschein liegen sie eng beieinander. Sie küssen sich, reden die ganze Nacht und staunen darüber, dass es zu ihrem Glück eines solchen Unglücks bedurfte. Das Paar beschließt, nach Spanien auszuwandern, wo Jeronimo Verwandte hat, und dort ein neues Leben zu beginnen.

„Und in der Tat schien, mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn.“ (S. 60)

Am nächsten Morgen kommt ein junger, gut gekleideter Mann, Don Fernando Ormez, der in der Nähe mit seiner Familie sein Lager aufgeschlagen hat, zu ihnen und bittet Josephe, sein Kind, den kleinen Juan, zu stillen. Seine Frau, Donna Elvira, sei bei dem Erdbeben verletzt worden und könne Juan daher nicht versorgen. Seit dem schrecklichen Ereignis habe der Junge nichts mehr bekommen. Für Josephe ist es selbstverständlich, in der Not mit anderen zu teilen, und sie legt den Kleinen an die Brust. Insgeheim wundert sie sich allerdings darüber, dass Don Fernando, der sie kennt und der doch um ihre Vergangenheit wissen muss, ihr seinen Sohn anvertraut.

„Er ist der Vater! schrie eine Stimme; und: er ist Jeronimo Rugera! eine andere; und: steinigt sie! steinigt sie! die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit!“ (S. 65)

Zum Dank lädt Don Fernando Jeronimo und Josephe ein, ans Lagerfeuer seiner Familie mitzukommen und dort mit ihnen zu frühstücken. Seine Frau, sein Schwiegervater Don Pedro, seine Schwägerinnen Donna Elisabeth und Donna Constanze, die Josephe als würdige junge Damen kennt, empfangen sie freundlich, als wäre nichts geschehen. Das Paar gerät ins Grübeln: Wurde Josephe nicht eben noch unter dem Jubel der Massen zum Richtplatz geführt? Sollte das alles nur ein Traum gewesen sein? Es scheint ihnen, als seien alle Menschen durch das Unglück, das ihnen widerfahren ist, auf einmal miteinander versöhnt.

„Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert.“ (S. 66)

Donna Elvira ist von Josephes Schicksal sichtlich berührt. Josephe fühlt sich von ihr verstanden, sie ist überglücklich und kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Erdbeben, so schlimm es für die Welt gewesen ist, für sie persönlich das Beste war, was ihr je passiert ist. In dem Moment, da die Menschen all ihr Hab und Gut verloren haben und die Natur zerstört ist, erwacht der menschliche Geist zu neuem Leben. Fürsten und Bettler, Bürger und Bauern, Mönche und Nonnen lagern vor der Stadt nebeneinander und helfen sich gegenseitig, als seien sie eine einzige Familie.

Dankbarkeit und Gottvertrauen

Die Gespräche der Menschen haben sich gewandelt: Statt wie vor dem Erdbeben Klatsch und Tratsch auszutauschen, reden sie jetzt darüber, was sie bewegt und was sie erlebt haben. Viele haben sich unter Einsatz ihres Lebens um andere gekümmert. Zuvor von der Gesellschaft verachtete Menschen haben wahren Heldenmut gezeigt. Es herrschen eine Großmut und eine Hilfsbereitschaft, die alles Unglück und alle Verluste aufwiegen, die man durch das Erdbeben erlitten hat.

„Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert hatte.“ (S. 67)

Angesichts dieser Stimmung und der neuen Verhältnisse in der Stadt wollen Jeronimo und Josephe ihren Beschluss, auszuwandern, noch einmal überdenken. Sie machen sich Hoffnung, dass Josephes Vater und auch der Vizekönig ihnen ihren Fehltritt verzeihen. Als Josephe hört, dass in der einzig erhaltenen Kirche der Stadt eine Messe gelesen wird, möchte sie unbedingt dabei sein. Noch nie hat sie ein so starkes Bedürfnis gespürt, sich vor Gott auf den Boden zu werfen, wie jetzt, da er seine unbegreifliche Macht gezeigt hat.

„Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.“ (S. 67)

Im Kreise von Don Fernandos Familie diskutiert man, ob ein Kirchbesuch ratsam sei. Donna Elisabeth, die an das gerade geschehene Unglück erinnert, möchte lieber nicht mitkommen und bleibt bei der verletzten Donna Elvira und ihrem Vater Don Pedro. Da der kleine Juan sich nicht von Josephe trennen mag, nimmt sie ihn mit Erlaubnis der Mutter mit. Am Arm Don Fernandos, der von ihrer Großherzigkeit angetan ist, macht sie sich auf den Weg. Jeronimo, der den kleinen Philipp trägt, folgt mit Donna Constanze. Schon nach wenigen Schritten kommt ihnen Donna Elisabeth hinterher, die inzwischen einen heftigen Wortwechsel mit Donna Elvira gehabt hat, und flüstert Don Fernando aufgeregt etwas ins Ohr. Der aber antwortet mit sichtbarem Unmut, es sei schon gut, seine Frau möge sich beruhigen, und setzt seinen Gang an der Seite Josephes fort.

Der Zorn der Christenheit

Die Dominikanerkirche ist brechend voll, bis auf den Vorplatz drängt sich die Menge. Unter den Menschen in der Kirche befinden sich neben Don Fernando und Donna Constanza auch Josephe und Jeronimo, die sich tief bewegt von den Feierlichkeiten, der Orgelmusik und dem Licht in der Kirche zeigen. Von seiner Kanzel herab preist ein Chorherr Gott den Allmächtigen. In seiner Predigt deutet er das Erdbeben als einen Vorboten des Jüngsten Gerichts und als Strafe Gottes. Er prangert den Verfall der Sitten in der Stadt an und erwähnt auch den Skandal, der im Karmeliterkloster stattgefunden hat. Dass die beiden Schuldigen, die er beim Namen nennt, straflos davongekommen seien, nennt er gottlos, und er wünscht sie in die Hölle.

Einige Menschen erkennen nun Josephe wieder, die neben Don Fernando steht und immer noch den kleinen Juan auf dem Arm trägt. Man beschimpft sie und reißt sie an den Haaren. Wer denn der Vater des Kindes sei, ruft der Schuhmachermeister Pedrillo, der Josephe von früher her kennt, aus der Menge heraus. Bevor sie alles erklären kann, stürzen sich die versammelten Christen auf Josephe und Don Fernando, um sie zu lynchen. Da gibt sich Jeronimo zu erkennen und fordert, man möge Don Fernando freilassen – vergeblich. Erst als Don Alonzo Onoreja, ein hochrangiger Offizier, Don Fernando als Sohn des Kommandeurs identifiziert, lässt der Mob von ihm ab.

Erneut richtet sich die Wut der Menge gegen Josephe. Da diese sich und Jeronimo endgültig verloren glaubt, übergibt sie die Kinder Juan und Philipp an Don Fernando mit der Bitte, sie zu retten. Don Fernando aber will nicht zulassen, dass seinen Freunden etwas angetan wird, und bahnt ihnen, Josephe am Arm, mit dem Schwert den Weg ins Freie. Auf dem Vorplatz der Kirche, wo sich die Massen drängen, wird Jeronimo von seinem Vater mit einer Keule erschlagen. Als Nächstes wendet sich das rasende Volk gegen Donna Constanze, die man für Josephe hält. Meister Pedrillo streckt sie mit einem Keulenschlag nieder. Als er erfährt, dass er die Falsche erschlagen hat, fordert er die Menge auf, die Richtige zu töten.

Don Fernando versucht, die Angriffe des tobenden Volkes mit dem Schwert abzuwehren. Als Josephe erkennt, dass Widerstand zwecklos ist, stürzt sie sich freiwillig in die Menge. Bevor Meister Pedrillo sie mit der Keule erschlägt, ruft sie Don Fernando noch zu, er solle sich um die beiden Kinder kümmern. Doch Meister Pedrillo hat noch immer nicht genug. Obwohl Don Fernando sich wie ein Löwe wehrt, gelingt es dem Schuhmacher, ihm Juan zu entreißen, und er zerschmettert den Säugling am Kirchenpfeiler. Danach wird es still, und die Menge zerstreut sich. Zunächst scheut sich Don Fernando, zu seiner Frau zurückzukehren, aus Furcht, sie könne ihm Vorwürfe machen. Doch nachdem sie ihren Schmerz überwunden hat, verzeiht Donna Elvira ihrem Mann. Zusammen ziehen sie Philipp auf – und freuen sich an ihm, als wäre es ihr eigener Sohn. 

Zum Text

Aufbau und Stil

Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili ist ein Text von hoher erzählerischer Dichte. Er lässt sich in drei Teile gliedern: Der erste Teil beschreibt vor allem die Vorgeschichte, das Erdbeben und Jeronimos Flucht. Der zweite Teil beginnt mit einem neuen Tag und spielt auf dem Land. Der dritte Teil beginnt mit der Rückkehr der Geflüchteten in die Stadt, wo sie am Gottesdienst teilnehmen wollen. Der erste und der dritte Teil sind von rasantem Erzähltempo geprägt, während im Mittelteil, der in der ländlichen Idylle spielt, Langsamkeit und paradiesische Ruhe vorherrschen. Kleists Sprache ist nüchtern, seine langen, verschachtelten Sätze raffen die erzählten Ereignisse stark. Selbst die schrecklichsten Vorkommnisse schildert er in einem sachlichen, scheinbar emotionslosen Ton. Dabei finden sich oft relativierende Formeln wie „es schien“ oder „es war, als ob“, die die Objektivität der Geschehnisse infrage stellen. Durch paradoxe Formulierungen verstärkt Kleist den Eindruck des Ambivalenten, zum Beispiel wenn er von „heiliger Ruchlosigkeit“ spricht oder den „Unglücklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte“.

Interpretationsansätze

  • Die historische Vorlage für Kleists Novelle bildet das Erdbeben in Santiago de Chile im Jahr 1647. Den ideengeschichtlichen Bezugspunkt dagegen stellt das Erdbeben  von Lissabon im Jahr 1755 dar, das unter den Intellektuellen jener Zeit eine Kontroverse über das Theodizeeproblem, also die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel auf der Welt, auslöste. Die aberwitzigen Umschwünge des Glücks in Kleists Erzählung werfen die Frage nach Sinn und einer göttlichen Ordnung auf.
  • Das Erdbeben in Chili enthält zahlreiche Anspielungen auf die Französische Revolution von 1789 und ihre Vision von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Im Mittelteil der Novelle entwirft Kleist in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau eine Art irdisches Paradies auf dem Lande: Nach dem Erdbeben sind die Grenzen zwischen den Ständen aufgehoben, es braucht keine Gesetze, alle Menschen bemitleiden und helfen einander. Durch sein katastrophales Scheitern am Ende der Novelle erweist sich der Entwurf einer besseren Welt indes als Utopie. Wenn Fernando und Elvira den verwaisten Philipp adoptieren, leuchtet zumindest die Möglichkeit von Menschlichkeit inmitten des Grauens auf – ein irritierend positiver Schluss.
  • Kleist übt deutliche Kritik am Christentum und an der vom Staat gestützten Institution der katholischen Kirche, deren starre Moral für Josephes und Jeronimos Tragödie verantwortlich ist. Die Menschen in der Novelle sind von Natur aus weder gut noch schlecht, erst das Einwirken der religiösen Führer wiegelt sie auf und weckt in ihnen das Böse.
  • Ein zentrales Moment in Kleists Novelle ist der Zufall: Zufällig bebt die Erde just in dem Moment, als Josephe hingerichtet werden soll, zufällig kommt Jeronimo frei, zufällig finden sie sich wieder. Die beiden Hauptfiguren schreiben das Geschehen Gottes Willen zu – eine naive Haltung, die der Erzähler durch den Ausgang der Novelle ad absurdum führt. Der Verweis auf göttliche Lenkung wird als Versuch des Menschen entlarvt, in einer vom Zufall regierten Welt Sinn, Ordnung und Kausalität zu finden.
  • Die subtile Ironie, die die gesamte Novelle durchzieht, lässt sich als Hinweis auf den Zwiespalt des Autors deuten: Er selbst sehnt sich nach Sinn und Kausalität und einer von Gott gestifteten Ordnung, an die sich seine Figuren verzweifelt klammern; zugleich weiß er, dass es eine solche Ordnung nicht gibt, und er distanziert sich ironisch davon.

Historischer Hintergrund

Die Erschütterung der Aufklärung

Am 1. November 1755 wurde Lissabon von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Die Katastrophe, die Zehntausende Menschen das Leben kostete und die portugiesische Hauptstadt in Schutt und Asche legte, erschütterte das optimistisch-aufklärerische Weltbild europäischer Intellektueller nachhaltig. Unter Philosophen, Theologen und Literaten brach eine heftige Debatte darüber aus, wie das verheerende Erdbeben mit der Annahme einer göttlichen Vorsehung zu vereinbaren sei und warum ein gerechter und allgütiger Gott ein derartiges Unglück zulasse. In seinem Gedicht über die Katastrophe von Lissabon (1756) wandte sich Voltaire insbesondere gegen Gottfried Wilhelm Leibniz, der in seinem 1710 erschienenen Essay Theodizee behauptet hatte, wir lebten trotz allen Übels, das mit Blick auf das harmonisch verfasste Universum notwendig sei, in der „besten aller möglichen Welten“. Entgegen der pauschalen Formel des aufklärerischen Optimismus „Alles ist gut“ forderte Voltaire, das Übel in der Welt zur Kenntnis zu nehmen und auch Gottes Rolle zu hinterfragen.

Voltaires Gedicht, das das Leiden der vom Erdbeben betroffenen Menschen mit drastischen Mitteln darstellte und europaweit Verbreitung fand, veranlasste Jean-Jacques Rousseau zu einem langen Brief, der später auch veröffentlicht wurde. Wenn Gott existiere, so Rousseau, sei er vollkommen und alle weiteren Fragen erübrigten sich. Das Übel in der Welt sei weder göttliche Absicht noch ein Naturereignis, sondern eine Folge der menschlichen Zivilisation. Gäbe es keine Städte, so hätte auch das Erdbeben keine solch fatale Auswirkung gehabt. Nicht Gott habe den Menschen gestraft, sondern dieser habe sich durch zügellosen Fortschritt und Entfernung von der Natur selbst geschadet. Auch Immanuel Kant befand angesichts der Katastrophe von 1755, der Mensch müsse lernen, im Einklang mit der Natur zu leben, und anerkennen, dass er nicht der Nabel des Universums sei.

Obgleich das Erdbeben von Lissabon zu Kleists Zeit, an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, Jahrzehnte zurücklag, war es in den philosophischen und theologischen Debatten immer noch präsent. Ein anderes epochales Ereignis, das das Leben der Menschen unmittelbar beeinflusste, war die Französische Revolution von 1789. Über zehn Jahre nach dem Umsturz, der von manchen Zeitgenossen wie eine Naturkatastrophe beschrieben wurde, war vom ursprünglichen Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht mehr viel übrig. Die Grausamkeiten der Revolutionsjahre und später die napoleonischen Kriege wirkten auch auf ehemals begeisterte Anhänger der Revolution ernüchternd.

Entstehung

Um 1801 steckte Kleist in einer tiefen Krise. Er hatte sein Studium abgebrochen und sah für sich keine Zukunft in den Wissenschaften. Zudem führt ihn die Lektüre Kants zu der Erkenntnis, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist“ (so Kleist in einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge), weil der Verstand des Menschen begrenzt sei und wir in einer Welt subjektiven Scheins lebten. Kleists Glaube an die Wissenschaft und an die menschliche Fähigkeit zu Bildung und Vervollkommnung war erschüttert. Der Plan des Universums und die göttliche Vorsehung erschienen ihm trotz aller wissenschaftlichen Bemühungen für die menschliche Vernunft unergründlich. An die Stelle der Wahrheit rückte in Kleists neuem Weltbild das Schicksal, der Zufall, dem der Mensch hilflos ausgeliefert sei. Diese Sichtweise prägte auch seinen Gottesbegriff: Der Geist, der über die Welt herrsche, schrieb Kleist 1806 in einem Brief an Karl vom Stein zum Altenstein, sei kein böser, aber ein „unbegriffener“.

Hinsichtlich der Entstehungszeit von Das Erdbeben in Chili gibt es verschiedene Annahmen. Wahrscheinlich schrieb Kleist die Novelle zwischen Frühjahr und Herbst 1806 während eines Aufenthalts in Königsberg, es gibt aber auch Hinweise. Die Novelle, die erste veröffentlichte Prosaarbeit Kleists überhaupt, erschien im September 1807 im Morgenblatt für gebildete Stände unter dem Titel Jeronimo und Josephe. 1810 erschien sie im ersten Band seiner Erzählungen unter dem Titel Das Erdbeben in Chili

Wirkungsgeschichte

Die Reaktionen auf Kleists Novelle waren gemischt. Das breite Publikum zeigte sich von den Erzählungen schockiert. 1810 verbot die Wiener Zensur den ersten Erzählband vor allem wegen Das Erdbeben in Chili, deren Ausgang „im höchsten Grade gefährlich“ sei. Dagegen gab es aus Berliner Literatenkreisen viel Lob: Wilhelm Grimm bezeichnete Das Erdbeben in Chili in seiner Rezension als „kraftvolles Gemälde von den Wechseln des Glücks, in den erschütterndsten und rührendsten Situationen“, konstatierte aber auch einen Hang des Autors, „ins Grässliche und Empörende auszuschweifen“. Bis heute zählt die Novelle, die zum Kanon der Schullektüre gehört, zu den meistdiskutierten Prosatexten der deutschen Literatur.

1975 wurde Das Erdbeben in Chili unter der Regie von Helma Sanders-Brahms verfilmt. Es existieren mehrere Bühnenfassungen, unter anderem die 2003 uraufgeführte Oper Das Beben des armenischen Komponisten Awet Terterjan

Über den Autor

Heinrich von Kleist wird am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, er stammt aus einer preußischen Offiziersfamilie. Als junger Gefreiter-Korporal nimmt er im ersten Koalitionskrieg gegen Napoleon an der Belagerung von Mainz und am Rheinfeldzug (1793 bis 1795) teil. Bald fühlt er sich vom Offiziersberuf abgestoßen und wendet sich der Wissenschaft zu. Durch seine Kant-Lektüre verliert er jedoch den Glauben an einen objektiven Wahrheitsbegriff und erkennt, dass er nicht zum Gelehrten geschaffen ist. Ebenso wenig fühlt sich der enthusiastische Kleist zum Staatsdiener berufen. 1801 bricht er aus seiner bürgerlichen Existenz aus, reist nach Paris und später in die Schweiz, wo er als Bauer leben will. Doch auch daraus wird nichts. Schon während seiner Zeit in Paris beginnt Kleist, zu dichten. Seine Theaterstücke, die heute weltberühmt sind, bleiben zunächst erfolglos. Von 1801 bis 1811 entstehen unter anderem die Tragödien Die Familie Schroffenstein (1803), Robert Guiskard und Penthesilea (beide 1808), außerdem Das Käthchen von Heilbronn (1808), Die Hermannsschlacht (1821 postum erschienen), die Komödien Amphitryon (1807) und Der zerbrochne Krug (1808) sowie die Erzählungen Die Marquise von O... (1808), Das Bettelweib von Locarno (1810) und Die Verlobung in St. Domingo (1811). 1810 verweigert der preußische Staat Kleist, der nach Stationen in Königsberg und Dresden wieder in Berlin lebt, eine Pension. Auch aus dem Königshaus erhält er keine Anerkennung, obwohl er der Schwägerin des Königs das patriotische Stück Prinz Friedrich von Homburg widmet. Dennoch ist es wohl weniger äußere Bedrängnis als innere Seelennot, die Kleist schließlich in den Freitod treibt. Am 21. November 1811 erschießt er zunächst seine unheilbar kranke Freundin Henriette Vogel und danach sich selbst am Kleinen Wannsee in Berlin.

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    H. K. vor 4 Jahren
    Insgesamt gut. Leider einige nervige Wiederholungen!