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Das Mädchen mit den Goldaugen

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Das Mädchen mit den Goldaugen

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein kleiner Ausschnitt aus Balzacs Großwerk „Die menschliche Komödie“: Sex and Crime im Paris des 19. Jahrhunderts.


Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Realismus

Worum es geht

Der Kern der Menschlichen Komödie

Das Mädchen mit den Goldaugen ist die düstere Erzählung eines erotischen Abenteuers, das für die Titelheldin mit einem grausamen Tod endet. Balzac demonstriert an seiner Hauptfigur, dem adligen Dandy Henri de Marsay, wie korrumpiert eine Gesellschaftsschicht ist, wenn sie beginnt, aus purem Überdruss gefährliche Vergnügungen zu suchen. Trotz vieler treffender und kurzweiliger Schilderungen: Die Geschichte selbst ist es nicht, was den Text berühmt gemacht hat - ihr Ende ist ein bisschen verworren, und der bemühte Anstrich von Geheimnis und Verbrechen in leicht orientalischem Flair zeigt Balzac nicht gerade in seinem Element. Bekannt geworden ist dieser Text für das der Handlung vorangestellte Gesellschaftspanorama aus der Hölle Paris: Auf 25 Seiten entwirft Balzac einen gesellschaftlichen Kosmos, den Keim seines umfassenden Gesamtwerks Die menschliche Komödie. Pointiert und bissig beschreibt er alle sozialen Schichten seiner Zeit, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Keine kommt dabei gut weg, die Vertreter aller Schichten sind letztlich getrieben von ihrer Geldgier und Vergnügungssucht. Obwohl die Gesellschaft heute anders aussieht, ist vieles doch übertragbar. Und gerade in der eindrücklichen Beschreibung ewigen Gehetztseins, der hamsterartigen Betriebsamkeit als zerstörerische Kraft, dürften viele auch heute noch Elemente des eigenen Lebens wiedererkennen.

Take-aways

  • Das Mädchen mit den Goldaugen ist die Erzählung eines erotischen Abenteuers mit orientalischem Anstrich und grausamem Ende.
  • Balzac führt die degenerierte Gefühllosigkeit junger Reicher vor, die aus verletztem Stolz zu töten bereit sind.
  • Die Hauptfigur Henri de Marsay, Prototyp des Dandys, kehrt in vielen anderen Werken Balzacs wieder.
  • De Marsay verliebt sich in die schöne Paquita, das Mädchen mit den Goldaugen.
  • Er sieht in ihrer Eroberung eine willkommene Herausforderung, denn sie wird aus unbekannten Gründen streng bewacht.
  • Paquita stirbt grausam, als sie zwischen die zerstörerischen Eitelkeiten zweier Vertreter der Aristokratie gerät, die sich am Ende als Halbgeschwister herausstellen.
  • Der Erzählung vorangestellt ist ein Sittenbild von Paris, in dem Balzac düster und bissig die verschiedenen Gesellschaftsschichten beschreibt.
  • Paris erscheint als Hölle, die Schilderung der gesellschaftlichen Stände lehnt sich an die Höllenkreise von Dantes Göttlicher Komödie an.
  • Balzac ist der Schöpfer des monumentalen, aus 91 Romanen bestehenden Zyklus Die menschliche Komödie.
  • Die pointierte Bestandsaufnahme von Paris und seinen Bewohnern in Das Mädchen mit den Goldaugen ist quasi der Keim des Gesamtwerks.
  • In diesem Text ist auch Balzacs literarische Methode, der Realismus, angelegt, dessen Urvater er ist.
  • Die Erzählung war ursprünglich der letzte Teil einer Trilogie mit dem Titel Die Geschichte der Dreizehn.

Zusammenfassung

Die Hölle Paris

Die Menschen in Paris sind hässlich, ihre Gesichter Fratzen, verzerrt von der Gier nach Gold und Vergnügen. Paris ist ein Ort der Sinnenfreuden, aber seine Bewohner gleichen Toten. Die Stadt ist eine Hölle, die Lebensäußerungen der Menschen wirken wie Formen des Feuers. In Paris glüht das Leben und es verwandelt sich stetig. Der Pariser ist abgestumpft und gleichgültig, er folgt nur seinen Launen und kennt keine konstanten Gefühle. Auf den Pariser ist niemals Verlass, seine Interessen und Leidenschaften sind am nächsten Tag genauso vergessen wie seine Wut. Nur das Geld zählt für ihn. Wie die Natur, so hat auch die Gesellschaft in Paris ihre verschiedenen Arten:

Die Proletarier

Die besitzlosen Arbeiter beuten sich und ihre Frauen und Kinder in der täglichen Arbeit ihrer Hände aus. Sie werden von den Produktionsmaschinen beherrscht. Sie ruinieren ihre Gesundheit und überarbeiten sich, um das Geld zu verdienen, das sie immer wieder lockt. Sie sorgen nicht für die Zukunft vor, sondern geben ihr ganzes Geld an den Wochenenden in den Schenken aus. Der unmäßige Rausch am Samstag und Sonntag bildet ihnen den Ausgleich für die fünftägige Schinderei – weshalb danach das Geld für den Alltag der Familie fehlt. Regelmäßig sind die Proletarier noch dienstags nicht ganz bei Sinnen. Die Regierung kann dafür dankbar sein, denn wenn die Arbeiter den Alkohol nicht hätten, würden sie sicher gegen die Bedingungen revoltieren. Der physische Zustand und die Lebensumstände der unteren Schichten sind miserabel: Die Armen versinken im Schmutz. Sie gehen buchstäblich im Schlamm, sie atmen die verpestete Luft der Straßen und der Kloakegruben und müssen unsauberes Wasser trinken. Schuld sind Versäumnisse der Pariser Verwaltung, der es am Willen fehlt, etwa die Grundmauern zu zementieren, was verhindern würde, dass Abwässer versickern und das Trinkwasser vergiften.

Die Kleinbürger

Ein disziplinierter Arbeiter kann in Ausnahmefällen zum Kleinbürger aufsteigen und z. B. einen Kramladen pachten, der so gut gedeiht, dass der Pächter nicht mehr täglich darin anwesend sein muss. Der Tagesablauf einer solchen Krämerseele sieht dann so aus: Um fünf Uhr früh steht der Mann auf und trägt ehrenamtlich eine politische Tageszeitung aus. Um neun Uhr kommt er kurz nach Hause, küsst seine Frau und tadelt die Kinder. Von zehn bis vier sitzt er im Rathaus und trägt Geburts- und Sterbefälle ins Register ein. Dann sieht er in seinem Kramladen nach dem Rechten und schäkert mit der Kassiererin. In der Zeit vor dem Abendessen tut er Dienst bei einem Notar. Jeden zweiten Abend singt er ab sechs Uhr als erster Bass im Opernchor. Gegen Mitternacht geht er zu Bett. Er führt eine glückliche Ehe und ist seiner Frau treu. Seine Ansichten entsprechen der Mehrheitsmeinung. Er schläft wenig und beeilt sich immer. Seine Kinder erzieht er für den weiteren Aufstieg ins Großbürgertum. Die Kleinbürger übernehmen sich, genau wie die Arbeiter, sie hetzen sich aus gesellschaftlichem Ehrgeiz und aus Geldgier zu Tode.

Die Großbürger

Gemeint sind Ärzte, Anwälte, Richter, Großkaufleute und Bankiers. Auch in diesen Kreisen richtet man sich physisch und psychisch zugrunde. Die Großbürger sind von Zeitknappheit getrieben, sie sterben schließlich an ihrem ewigen Hetzen. Ihre Berufe bestehen in der Beschäftigung mit dem Elend des Volkes, sie beziffern und analysieren es und leben davon, das Volk auszunehmen. Sie reden unablässig, ohne vorher zu denken; Gefühle machen hohlen Phrasen Platz. Sie haben kein Privatleben, ihre Geschäfte hören auch abends nicht auf: Selbst in der Oper oder auf Bällen müssen sie Kunden anwerben und Geldgebern schmeicheln. Diese aufreibenden Anstrengungen gleichen sie nicht durch Erholung aus, sondern durch ungesunde Ausschweifungen – die in aller Heimlichkeit stattfinden müssen, denn die Großbürger sind schließlich die Repräsentanten der öffentlichen Moral. Insgeheim betreiben sie Völlerei und frönen der Spielsucht. Von dem, was außerhalb des begrenzten Horizonts ihres Fachgebiets liegt, wissen sie nichts, sie pflegen nur ihre Vorurteile. Dadurch kommen ihre geistigen Fähigkeiten zum Erliegen. Sie lassen sich von der Maschinerie ihrer geschäftlichen Routine verschleißen. Auch den Großbürgern geht es um den gesellschaftlichen Aufstieg. Sie horten Geld, damit sie oder ihre Kinder in die Kreise der Adligen vordringen können.

Die Künstler

Auch die Künstler reiben sich auf, getrieben von ihrem inneren Zwang, Werke zu erschaffen. Aber sie gieren gleichzeitig nach teuren Ablenkungen, für die sie eigentlich kein Geld haben. Durch angestrengte Schaffensschübe versuchen sie, die sie sonst beherrschende Faulheit wettzumachen. Vergeblich mühen sich die Künstler ab, Kunst und Geld zu vereinbaren. Am Anfang ihrer Karriere machen sie stets Schulden. Neid auf erfolgreichere Konkurrenten schadet ihrem Talent. Die einen versinken in ihren Lastern, die anderen sterben früh als verkannte Genies.

Die Aristokraten

Sie werden beneidet, weil sie in Schlössern leben und Geld im Überfluss besitzen. Aber auch diese Schicht degeneriert nur allzu rasch. Indem die Adligen immer nur das Vergnügen suchen, langweilen sie sich bald zu Tode. Weil sie nur auf Genüsse aus sind, stumpfen ihre Sinne ab. Mit der Zeit brauchen die Adligen immer mehr der gleichen Sache, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Das Ende dieser Spirale ist, dass sie verrückt werden oder sterben. Ihre Drogen sind Spielsucht, Völlerei und Hurerei. Sie empfinden keine echte Leidenschaft mehr, sondern nur noch oberflächliche Gelüste und romantische Anwandlungen. Auch die Aristokraten denken nicht selbst und hängen ihr Fähnchen nach der Meinung der Mehrheit in den Wind. Auch sie sind geizig mit ihrer Zeit – um sie dann doch zu verschwenden. Alles an ihnen ist oberflächlich, ihr Leben ist hohl und langweilig. Ihre Gesichter sind vom Stumpfsinn gezeichnet.

„Eines der erschrecklichsten Schauspiele ist ohne Zweifel der Gesamtanblick der Bevölkerung von Paris.“ (S. 5)

Der Moloch Paris vereint alle diese Gesellschaftsschichten in ihrer Gier, alle zusammen sorgen für die hässliche Fratze von Paris. Das Gegenbild zum hektischen Paris ist der Orient – wegen der Ruhe der orientalischen Lebensweise.

Kindheit und Jugend des Dandys Henri de Marsay

Henri de Marsay ist der Sohn des Lord Dudley und der schönen Marquise de Vordac. Deren Liebe überlebt den Krieg zwischen Frankreich und England nicht – beide Eheleute sind nicht sonderlich treu. Lord Dudley verheiratet die junge Mutter nach Henris Geburt mit dem alten, verarmten Herrn de Marsay, der den Jungen gegen eine Leibrente adoptiert. De Marsay stirbt bald, und Henris Mutter heiratet wieder. Weder sie noch der leibliche Vater kümmern sich um das Kind – ihr glamouröses gesellschaftliches Leben ist ihnen wichtiger –, Henri kommt in die Obhut von de Marsays Schwester, Fräulein de Marsay. Sie engagiert einen verarmten Abt als Hauslehrer. Dieser Gottesmann ist abgeklärt und ohne Glauben. Seine Erziehung prägt den jungen Henri. Der Abt lässt den Jungen alle Bereiche der Gesellschaft studieren, zeigt ihm das Geschehen hinter den Kulissen und macht ihn mit Prostituierten bekannt. Er schult Henris Verstand, desillusioniert den Jungen aber auch früh und umfassend.

„Nein, es sind nicht Gesichter, es sind hässliche Fratzen, es sind Masken der Schwäche, Masken der Stärke, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei - abgezehrte, mit dem unauslöschlichen Mal einer keuchenden Gier gebrandmarkte Masken. Was wollen sie? Gold oder Vergnügen.“ (S. 5)

1815 ist Henri de Marsay 22 Jahre alt. Er ist der schönste Mann von ganz Paris, das sagen selbst seine größten Konkurrenten, und alle Frauen, die ihn sehen, verfallen ihm sofort. Dessen ist er sich nur allzu bewusst. Er ist musisch und sportlich begabt. Dank der Erziehung des Abts traut er niemandem und glaubt an nichts. Er gehört der Pariser Aristokratenjugend an, die berechnend und verdorben ist.

Ein Fisch zappelt im Netz

Henri schlendert durch die Tuilerien, die prächtige Pariser Gartenanlage, und zieht die Blicke der Damen auf sich. Er trifft seinen Freund Paul de Manerville und erzählt ihm, er sei auf ein Abenteuer aus. Er will eine Unbekannte wiedersehen, mit der er bereits Blicke getauscht hat. Ihre Augen sind goldgelb wie Tigeraugen. Paul erwidert, das Mädchen sei bekannt, es komme öfter zum Spazieren in die Tuilerien. Man nenne es „das Mädchen mit den Goldaugen“, sie sei das Objekt der Begierde für die elegante Pariser Jugend.

„Würde die Regierung nicht jeden Dienstag gestürzt werden, wenn es keine Schenken gäbe? Zum Glück für Frankreich ist das Volk am Dienstag wie betäubt.“ ( S. 10)

Kurz darauf erscheint das Mädchen tatsächlich, scharf bewacht von einer Anstandsdame. Im Vorbeigehen drückt die Schöne Henri die Hand. Dieser lässt das Mädchen und ihre Verhältnisse von seinem Diener Laurent auskundschaften. Das Haus, in dem sie wohnt, gehört dem alten Marchese de San-Réal. Die Schöne mit den Goldaugen ist jedoch nicht die Marchesa; diese weilt in London und schickt gelegentlich Briefe an das Mädchen. Der Name der Goldäugigen lautet Paquita Valdès, wie Laurent mithilfe des Briefträgers in Erfahrung bringt. Paquita wird so streng bewacht, dass sie einer uneinnehmbaren Festung gleicht. Doch gerade das macht sie für Henri so begehrenswert. Er sehnt sich nach Widerstand, nach einer echten Herausforderung. Seine sonstigen Eroberungen fallen ihm so leicht, dass er sich langweilt.

„Auch hier gilt es, die Zeit zu erjagen, sie zusammenzudrängen, in Tag und Nacht mehr als vierundzwanzig Stunden zu finden, sich zu zermürben und zu entnerven, zwei Jahre siecher Altersruhe mit einem ganzen Leben zu erkaufen.“ (über die Kleinbürger, S. 15)

Henri schreibt unter falschem Namen einen Liebesbrief an Paquita. Dieser zeigt Wirkung: Ein Mulatte und ein Dolmetscher suchen Henri auf. Sie geben ihm Anweisungen, wie er Paquita treffen kann. Er soll zum festgesetzten Termin in einen bestimmten Wagen steigen und dem Kutscher das Losungswort „cortejo“ zurufen – spanisch für „Liebhaber“.

Drei Rendezvous

So geschieht es. Henri wird in eine heruntergekommene Wohnung gebracht. Dort sitzt Paquita mit einem hässlichen alten Weib. Die Alte sei ihre Mutter, sagt Paquita auf Englisch, eine Sklavin aus Georgien. Paquita und Henri fremdeln ein wenig, jetzt da sie sich gegenübersitzen, doch unverkennbar sind beide füreinander entbrannt. Paquita sagt, ihnen blieben nur zwölf Tage. Sie befinde sich in höchster Gefahr. Sie bittet Henri, in zwei Tagen wieder an denselben Ort zu kommen. Zum Abschied küssen sie sich leidenschaftlich. Henri ist verliebt wie nie zuvor.

„Indem sie sich immer nur im Kreise ihres Fachwissens drehen, ertöten sie die schöpferischen Fähigkeiten ihres Hirns: Weitblick und logischen Scharfsinn.“ (über die Großbürger, S. 21)

Als er zum zweiten Rendezvous abgeholt wird, sagt der Mulatte, Henri müsse sich die Augen verbinden lassen. Aus Stolz lehnt er zuerst ab, lenkt dann aber ein. Mit verbundenen Augen wird er in ein Zimmer gebracht. Paquita selbst löst die Seidenbinde: Der Raum scheint einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entsprungen, er ist ein orientalisches Liebesnest. Paquita lässt Henri Frauenkleider anziehen. Dann erleben beide unsagbare sexuelle Wonnen miteinander. Henris Gefühle nach diesem Erlebnis sind widersprüchlich, mit wirklicher, dauerhafter Liebe haben sie nichts zu tun. Im Rückblick auf die Liebesnacht meint er plötzlich zu erkennen, dass Paquitas Leidenschaft jemand anderem gegolten habe als ihm. Dieser Verdacht beleidigt ihn zutiefst.

„Nur zu bald erschlafft die Natur all dieser Menschen und wird zur Unnatur. Da sie das Vergnügen suchen, müssen sie nicht Langeweile finden?“ (über die Adligen, S. 25)

Am folgenden Abend lässt er sich zum dritten Stelldichein abholen. Paquita ist blass und verweint. Sie ist sich sicher, bald sterben zu müssen, und erzählt, dass sie nicht lesen und schreiben kann und seit ihrem zwölften Lebensjahr eingesperrt wird – von wem, ist nicht klar. Ihre Spaziergänge habe sie unter großer Gefahr erzwungen, um zu sehen, was junge Männer sind. Sie bekennt, Henri so zu lieben, dass sie für ihn sterben würde. Wieder erleben die beiden eine ungeahnte Leidenschaft, wieder wird Henri empfänglich für die starken Gefühle. Er schwört sich gerade, Paquita zu heiraten, als diese in ihrem Entzücken das Kosewort „Mariquita“ (Marienkäfer) ausruft. Henri glaubt, nun den Beweis für ihre gedankliche Untreue zu haben. Er will sie sofort töten. Es kommt zu einem Kampf, den erst der Mulatte beendet. Das Mädchen ist sich keiner Schuld bewusst und fleht um eine Erklärung. Henri gibt sie ihr nicht, für ihn ist die Sache klar.

Ein grausamer Tod

Henris große Schwäche ist, dass er nicht verzeihen kann. Jeder, der ihn ernstlich beleidigt, muss sterben, das ist sein Gesetz. Eine Woche nach dem letzten Treffen mit Paquita kommt er in Begleitung von vier Männern zu ihrem Haus, um sie zu töten. Sie haben einen Plan des Hauses erstellt und sehen, dass aus dem Zimmer der Marchesa Licht dringt – sie ist aus London zurück. Schmerzensschreie dringen aus dem Haus. Henri gelangt über eine verborgene Treppe hinein und erblickt eine grausame Szene: Die Marchesa hat Paquita aus Rache für ihre Untreue grausam mit dem Dolch zerfleischt. Das Mädchen war also nicht die Geliebte des alten Marchese, sondern die seiner Frau. In dem Moment, als Henri das Zimmer betritt, stirbt Paquita. Die blutbeschmierte Marchesa sieht Henri an. Beide erkennen schlagartig, dass sie denselben Vater haben. Henri bemerkt, dass Paquita also dem Blut treu geblieben sei. Die Marchesa bereut daraufhin ihre Tat und wirft sich verzweifelt über den Leichnam des Mädchens.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die etwa 130 Seiten umfassende Erzählung ist nicht in einzelne Kapitel gegliedert, es sind aber deutlich zwei Teile zu unterscheiden: Die ersten 25 Seiten bieten ein Gesellschaftspanorama von Paris, das in sich nach den verschiedenen Schichten gegliedert ist. Der Rest ist die Geschichte um die fatale Leidenschaft des Henri de Marsay für das Mädchen mit den Goldaugen. Die beiden Textabschnitte sind nicht explizit aufeinander bezogen.

Typisch für Balzac ist die Verwendung einer allwissenden, stark kommentierenden Erzählerfigur. Ihr Ton ist spöttisch, oft auch bissig und entlarvend. Das macht die Lektüre amüsant und anregend. Selbst die eher abstrakte Gesellschaftsbetrachtung ist überhaupt nicht trocken geschrieben. Charakteristisch für den pointierten Stil sind Übertreibungen, etwa wenn von den „hässlichen Fratzen“ einer „exhumierten Menschenmenge“ die Rede ist. Balzac benutzt ein bewusst abschätziges Vokabular, um eine Welt zu beschreiben, die moralisch korrumpiert ist, vergiftet von Gier. Mit dem Stilmittel der Antithese, die gegensätzliche Begriffe zueinander in Beziehung setzt, spitzt der Autor die Dinge zu und zeigt die Widersprüche und Absurditäten der Gesellschaft auf, etwa in der Wendung „diese unglücklichen Glückspilze“ oder in dem Bonmot „Man geizt mit der Zeit, um sie zu vergeuden“.

Interpretationsansätze

• Balzac vergleicht die Gesellschaft mit der Natur. Das kommt in zahlreichen Naturmetaphern zum Ausdruck. Der Blick des Autors gleicht dem eines Botanikers oder Insektenforschers: Wie die Natur, so hat auch die Gesellschaft ihre Insekten und Blumen, ihr Ungeziefer und Unkraut. Genauso unterschiedlich wie die Erscheinungsformen der Natur sind die gesellschaftlichen Spezies, und genauso wandelbar sind sie auch. Alles ist in steter Veränderung, in der Natur wie in der Gesellschaft. Balzac macht sich zum literarischen Ethnologen. • Er stellt Paris als Hölle dar. Feuer- und Todesmetaphern durchziehen den ersten Teil der Erzählung, da „raucht es und glüht und brodelt und zischt und lodert und flammt und dampft und erlischt“. Dadurch tritt der Bezug zu den Höllenkreisen in Dantes Göttlicher Komödie besonders deutlich hervor: Balzacs Menschliche Komödie (das Gesamtwerk, von dem die vorliegende Erzählung nur ein kleiner Teil ist) ist ein Gegenentwurf zu Dantes Darstellung. Der erste Teil des Mädchens mit den Goldaugen bildet den Kern dieses Zyklus. • Ein weiteres Hauptmotiv ist das Gold. Es ist der Antrieb für die hektische Betriebsamkeit aller Schichten, alle jagen ihm nach – und golden sind auch die Augen des Mädchens Paquita, die es so begehrenswert machen. Die leidenschaftliche, impulsive und ungebildete Paquita ist ein Symbol für die Natur; sie wird in den Triebwerken der zivilisatorischen Gier nach Gold buchstäblich zermalmt. • Die Erzählung ist grundiert von einer Sehnsucht nach Asien. Paquitas Schönheit wird als orientalisch beschrieben, und der Pariser Hetze wird die asiatische Ruhe gegenübergestellt. Paquitas Zimmer, das Liebesnest für sie und Henri, erinnert an die Interieurs aus Tausendundeiner Nacht. Asien steht für Ruhe, Schönheit und Sinnlichkeit. Der exotisch-erotische Anstrich der Erzählung zeigt, dass Balzac nicht immer den strengen Realismus pflegt, für den er bekannt ist.

Historischer Hintergrund

Bewegte Zeiten

In Balzacs Lebenszeit, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wechselten sich fünf politische Regime ab: Auf die Zeit der Französischen Revolution (1789–1799) folgten die Herrschaft Napoleons (1799–1815), die Restauration (1815–1830) unter Ludwig XVIII. und Karl X., die Julimonarchie (1830–1848) mit dem Bürgerkönig Louis-Philippe und die Zweite Republik (1848–1852). Entsprechend widerstreitend waren die Ideologien, die in diesen 50 Jahren parallel existierten: Es gab sowohl Monarchisten, die dem Ancien Régime nachhingen, als auch Kämpfer für die Demokratie. Immer wichtiger wurde der Einfluss reicher Großbürger. Sie mussten die Macht aber weiterhin mit den alten Autoritäten teilen, den Adligen und dem Klerus.

Wirtschaftlich war das 19. Jahrhundert von den Umwälzungen der Industriellen Revolution geprägt. In ganz Europa löste die moderne Industrie die Landwirtschaft als Hauptwirtschaftszweig ab. Neue Techniken machten die industrielle Massenproduktion möglich, die großen Fabriken entstanden. Die Arbeit verlagerte sich in die Städte, die stark anwuchsen. Es entstand eine ganz neue soziale Schicht: die Arbeitermassen, die städtischen Proletarier. Ihnen standen die Großbürger gegenüber, die Besitzer der Fabriken und des Kapitals: Großindustrielle und Bankiers dominierten das System. Paris hatte im Jahr 1834 knapp eine Million Einwohner. Die hygienischen Verhältnisse, in denen die unteren Gesellschaftsschichten leben mussten, waren miserabel. Die Proletarier vegetierten im Schmutz vor sich hin, es gab noch keine Kanalisation und die Straßen waren noch nicht befestigt. 1832 starben in Paris 20 000 Menschen während einer Cholera-Epidemie.

Entstehung

Balzac war politisch durchaus interessiert und rückte als pseudoadliger Bourgeois zunehmend nach rechts, auf die Seite der Adligen und der Befürworter der alten Monarchie. Das hielt ihn aber nicht davon ab, auch die Aristokratie einer beißenden Analyse zu unterziehen, wie Das Mädchen mit den Goldaugen zeigt. Balzac, der stets mit extrem hohem Tempo neue Texte produzierte, schrieb die Erzählung in zwei Tagen – die allerdings ein Jahr auseinanderlagen. Der erste Teil, das Pariser Gesellschaftspanorama, entstand am 15. März 1834, der zweite Teil, die Geschichte des fatalen erotischen Abenteuers, am 6. April 1835. Die Erzählung ist dem Maler Eugène Delacroix gewidmet, von ihm ist wohl die farbenprächtige Schilderung von Paquitas orientalisch dekoriertem Zimmer inspiriert. Literarisch beeinflusst war Balzac sicherlich durch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, durch die dort herrschende orientalische Atmosphäre, die Erotik und Brutalität. Ein anderer Text wird sogar wörtlich erwähnt: die Gefährlichen Liebschaften (1782) von Choderlos de Laclos. In diesem Briefroman geht es ebenfalls um skrupellose Verführer in aristokratischen Kreisen. Das Mädchen mit den Goldaugen war ursprünglich der dritte Teil einer Trilogie mit dem Titel Die Geschichte der Dreizehn. Die „Dreizehn“ sind eine geheime Vereinigung mit düsterer Macht. Dieses Bündnis spielt in den ersten beiden Teilen der Trilogie – Ferragus und Die Herzogin von Langeais – eine größere Rolle, im letzten Teil aber eigentlich gar keine mehr. Nur die vier Männer, die Henri de Marsay zu Paquitas Haus begleiten, als er sie töten will, stammen aus diesem Kreis. In der heutigen Gestalt wurde der Text erstmals 1843 veröffentlicht; innerhalb der Menschlichen Komödie gehört er in die Textgruppe Studien der Sitten im 19. Jahrhundert und darin unter die Rubrik Szenen aus dem Pariser Leben. Zuvor waren beide Teile der Erzählung bereits getrennt erschienen.

Wirkungsgeschichte

Zeitgenossen fanden den Text schockierend, anstößig, unmoralisch – vielleicht fühlten sich gerade adlige Leser auf den Schlips getreten. Die Frauen wurden vor der Lektüre geradezu gewarnt. Die Hauptfigur Henri de Marsay wurde als Monster gesehen, allein der kranken Fantasie seines Autors entsprungen.

Heute ist der Rang der Erzählung umstritten: Sie zeige Balzac nicht auf der Höhe seines Könnens, sagen die einen, und sei unnötig in eine schwül-kriminelle Atmosphäre getaucht. Für die anderen markiert sie einen wichtigen Schritt in Balzacs Werk: Sie sei Ausdruck davon, dass er auch mit fantastischen, nicht nur mit realistischen Mitteln gearbeitet habe, um die wirkliche Welt durch sein erfundenes Romanuniversum zu ersetzen. Einig ist man sich jedoch darin, im ersten Teil, dem gesellschaftlichen Paris-Aufriss, ein Meisterwerk Balzac’scher Prosa vor sich zu haben. Das Mädchen mit den Goldaugen wurde 1961 von Jean-Gabriel Albicocco verfilmt.

Balzacs Beschreibung der Pariser Zustände im 19. Jahrhundert klingt auch immer wieder in Patrick Süskinds Erfolgsroman Das Parfum (1985) durch.

Über den Autor

Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgearbeitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schriftsteller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schriftstellerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adelskreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Liebschaften mit zumeist verheirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkontakt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gelegentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekanntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Romanfiguren in verschiedenen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Romanuniversum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Menschlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Untergruppen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schriftsteller ein unglaubliches Arbeitspensum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fertigstellen. Zu den bekanntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Chagrinleder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des literarischen Realismus in Frankreich. Die ständige Überanstrengung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.

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