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Der Immune

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Der Immune

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Die Lebenschronik eines Schweizer Kosmopoliten, der sich vor seiner eigenen Empfindlichkeit schützen muss.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Ein überempfindlicher Außenseiter

In seinem quasi autobiografischen Hauptwerk blickt der Zürcher Autor und Kosmopolit Hugo Loetscher auf sein Leben als Journalist zurück. Der Immune, die Hauptfigur des Romans, leidet an seiner Überempfindlichkeit und versucht sich abzuhärten, indem er sich allen möglichen Situationen, auch den unangenehmsten, schonungslos aussetzt. In 45 Episoden zieht der grandiose Fabulant Loetscher alle stilistischen Register und erweist sich als ein Meister der Metapher. Bei allem Weltschmerz, der das Buch prägt, versteckt er nie seine diebische Freude an der Ironie. Er singt das Hohelied des Alkohols, rapportiert nüchtern den gesellschaftlichen Absturz des Immunen oder kritisiert in komischen Märchen die Kleinbürgerlichkeit und Lebensfeindlichkeit der Gesellschaft. Immer mehr verschmilzt die Hauptfigur dabei mit dem Autor selbst. Das Ergebnis dieses literarischen Selbstversuchs ist ebenso originell und unterhaltsam wie gedankenreich. Am Schluss zieht der Immune eine Bilanz, die angesichts seiner existenziellen Leiden gar nicht so bescheiden ist: „Ich bin ein Leben lang am Leben geblieben.“

Take-aways

  • Der Immune gilt als Hauptwerk des Schweizer Autors Hugo Loetscher.
  • Inhalt: Ein Journalist, aufgewachsen im Milieu des Zürcher Niederdorfs und viel gereist, wird sich durch seine Erfahrungen – etwa mit der Homosexualität oder der 68er-Bewegung – seiner Empfindlichkeit bewusst, weshalb er beschließt, „immun“ zu werden.
  • Der Roman bietet einen kritischen Blick auf die politisch bewegte Epoche vor und nach der Revolution vom Sommer 1968 in Zürich.
  • Die Quasi-Autobiografie Loetschers ist schonungslos sich selbst und anderen gegenüber. Der Autor benutzt die Literatur als Mittel zur Selbsterkundung.
  • Zeit, Ort und Perspektive wechseln ständig.
  • Die stilistische Palette der 45 Episoden reicht von der fantastischen Gespenstergeschichte über Märchen bis zur Kriminalszene.
  • Wie der „Immune“ ist auch Hugo Loetscher ein literarischer Einzelgänger, der sich mit seiner Fabulierkunst ein eigenständiges Profil geschaffen hat.
  • Er ist der Kosmopolit unter den Schweizer Autoren; im Roman nehmen seine Erfahrungen als Reisender in Lateinamerika eine zentrale Stellung ein.
  • Neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, mit denen er persönlich bekannt war, ist Loetscher einer der bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.
  • Zitat: „Ich bin ein Leben lang am Leben geblieben.“

Zusammenfassung

Das Theater beginnt

Als Baby im Stubenwagen fühlt sich der Immune wie im Theater. Ihm gefällt die Vorstellung, die ihm seine Eltern bieten. Der Kleine lernt bald, selbst ins Stück einzugreifen: Er schreit und bekommt, was er will. Allmählich gewöhnt er sich an das tägliche Theaterspielen, und später, in der Schule, gibt es nur ein Spiel, bei dem er nicht mitmacht: wenn die Jungen und Mädchen Heiraten spielen. Im Gymnasium übernimmt der Immune vor allem Nebenrollen. Statt im Rampenlicht zu stehen, schaut er lieber zu. Im Café sitzend beobachtet er, wie die Menschen auf ganz verschiedene Arten über die gleiche Stufe stolpern.

„Das Theater konnte beginnen.“ (S. 7)

Der Vater des Immunen ist Arbeiter und Alkoholiker. Wenn er betrunken nach Hause kommt, vertreibt er die Familie aus der Wohnung. Der Junge und seine Mutter denken mehrmals ans Weglaufen, tun es aber nicht. Die Mutter bleibt ihr Leben lang bei dem nichtsnutzigen Mann, der den Lohn seiner seltenen Zahltage versäuft. Sie findet eigene Verdienstmöglichkeiten, rechnet und handelt geschickt und wird sogar Hausbesitzerin. Ihr verdankt der Immune seinen Sinn für Gerechtigkeit. Sie lehrt ihn, dass „die Besseren“ nicht immer besser sind.

„Es hieß, verlieren sei nichts Besonderes, es sei nur ein Spiel, und es hieß gleichzeitig, man müsse verlieren lernen, das sei wichtig für später.“ (S. 10)

Als der Vater einmal in der Küche alles Geschirr zerschlägt, schaut der Immune nur zu. Es gelingt ihm, sich herauszuhalten und nüchtern zu beobachten. Diesen Vorgang empfindet er als seine zweite Zeugung: Er kommt als Intellektueller zur Welt. An der Beerdigung des Vaters, 25 Jahre später, malt er sich dessen Biografie und Schicksal als Arbeiter aus, der vom Land in die Stadt gezogen ist. Der Immune nimmt sich vor, das Leben seiner Vorfahren zu erkunden. Wie immer, wenn er mit anderen zu tun hat, ist er darum bemüht, sich selbst völlig zurückzunehmen.

„Er wollte immun werden.“ (S. 39)

Der Immune versucht, das Theater des Lebens mitzuspielen, doch das Angebot an Rollen, die seiner Generation nach 1945 zur Verfügung stehen, überzeugt ihn nicht. Ob als Romeo, als Karrierist oder als Politiker, er weiß, dass er früher oder später stolpern wird. Deshalb entschließt er sich, zum eigenen Schutz immun zu werden. Er will sich die Fähigkeit bewahren, zu empfinden und zu agieren, ohne irrezuwerden.

Von Zürich nach Paris

Im Zürcher Niederdorf verbringt der Immune seine Jugend, zuerst als Gymnasiast, dann als Student. Das Dorf in der Stadt ist für den Halbwüchsigen eine Bildungsstätte. Unter Intellektuellen und Huren, Strichern und Künstlern schärft er seine Beobachtungsgabe. Jeder im Milieu hat eine Geschichte zu erzählen, und manche davon kann der Immune als Journalist verkaufen. Er liest viel. Weil er als Proletariersohn keinen verbürgten Stammbaum hat, legt er sich seine Vorfahren lesenderweise zu: literarische und historische Figuren. Sein Leben ist unstet, er wechselt die Jobs ebenso rasch wie die Betten, die er mit beiden Geschlechtern teilt. Mehrmals erfasst ihn die Unruhe. Er hört Stimmen und will weg, und doch kommt er immer wieder ins Niederdorf zurück.

„Manchmal war ihm, als sei er ein abgekartetes Spiel von Muskeln, Blut und Nerven, das ohne sein Dazutun nach eigenem Gutdünken ablief (...)“ (S. 39)

Im Mai 1968 ist der Immune als Journalist bei der Besetzung des Theaters „Odéon“ in Paris dabei. Er fühlt sich jetzt nicht mehr nur als Beobachter, sondern als Teil der Studentenbewegung. Der Spruch „Die Fantasie übernimmt die Macht“ erregt ihn, doch gleichzeitig fallen ihm die Widersprüche der Bewegung auf. Zum Beispiel, als ein Student zu den versammelten Revolutionären sprechen will und man ihn nicht versteht; vergeblich fragt er nach einem Mechaniker. Das ist es, denkt der Immune, was der Fantasie zur Machtübernahme fehlt: ein Mechaniker.

In Portugal und Südamerika

Immer wieder reist der Immune, u. a. nach Portugal. Am Cabo de São Vicente geht er die Klippen entlang. Seine Gedanken schweifen über den Rand Europas hinaus. Er sucht nach einem neuen Land, aber die Erde gilt bereits als entdeckt. Also unternimmt er seine Entdeckungsreise in der Fantasie. Er erobert ein Reich, das von Fabelwesen und Monstern bewohnt wird. Einige von ihnen haben Augen an den Beinen. Der Immune nicht, deshalb stolpert er. Er beschließt, sich kopfüber fortzubewegen, um den Weg besser zu sehen. Aus Lehm formt er Füße für seinen Kopf, doch das Experiment misslingt: Die Füße brechen ein, und der Immune merkt, dass der Kopf doch nicht zum Gehen taugt.

„Als wichtigstes Vorgehen erwies sich immer wieder der Versuch, von der eigenen Person abzusehen und sie als Anlass zu nehmen, um von anderem zu erfahren.“ (S. 60)

In Südamerika wird er gefragt, wer eigentlich die Schweiz entdeckt hat. Der Immune liefert den Entdeckungsbericht einer Truppe edler, wilder Krieger, die in Booten zum „Eldorado“ aufbrechen, um die von Gnomen bewachten Reichtümer zu erobern. Sie stoßen dabei auf ein merkwürdig lebloses Volk, das sich an Vorschriften berauscht und Menschen opfert, indem es sie lebenslänglich arbeiten lässt. Die Krieger wundern sich über die Angst vor dem Glück, die in diesem Volk weit verbreitet ist.

„Damals war im Dorf alles ‚ober‘, das Leben war oberfaul, die Mädchen obergeil, die Schwulen oberwarm und die Preise oberbeschissen.“ (S. 80)

Der Immune lebt allein. Manchmal ist der Trott des Alltags zum Ersticken, manchmal bietet er ihm Halt. Immer wieder steht er auf, um Zigaretten, Zeitungen, Schreibpapier oder Kaffee zu holen. Ihn interessiert die Wiederholung, und er versucht sich zu immunisieren, indem er den gleichen Fehler mehrmals begeht, ganz nach dem Prinzip der Impfung.

Ein bewegtes Liebesleben

Von Zeit zu Zeit arbeitet der Immune als Gigolo. Als Lohn für seine Gesellschaft erhält er von seiner Kundin Lily stückweise ein Schmuck-Ensemble aus blauen Opalen. Nach einigen Monaten bricht sie die Beziehung abrupt ab; das teure Ensemble wird ihm nach einer Liebesnacht im Hotel gestohlen.

„Er, der bleiben lernte, wurde einer, der ging.“ (S. 92)

Im Selbstgespräch erörtert der Immune das Thema Homosexualität. Wie nützt man einen Schwulen aus? Man lernt z. B. als Volontär einen Vorgesetzten kennen, dessen Gefühle man für seine Karriere benutzt. Man lässt sich auf Reisen einladen, erhält Aufträge und Zugang zur Gesellschaft. Erst wenn man die Hilfe des Mannes nicht mehr braucht, lässt man die Beziehung zerbrechen und verrät den Freund.

„So stellte sich auch der schöne Rolf ein. Er hatte dem Immunen vor einem Jahr den Weg versperrt und ihm erklärt, wie man die Revolution durchführe. Nun stand er da und lächelte; aber der Immune sah an der sportlichen Mumie die Einschnitte, wo die verderb“

Verführung interessiert den Immunen als Technik. Er liebt Männer, unterdrückt aber seine Empfindungen und bricht zum Schluss ihre Herzen. Auch eine Vielzahl von Frauengeschichten hat er. Die Liebschaften sind kurz, einige der Frauen trifft er später wieder und sieht, dass sie einen Ehering tragen. Mit dem Fotografen Billbill und einer gewissen Pungin lebt der Immune einmal zu dritt. Das Unterfangen endet im Streit, er bleibt allein zurück.

Der gebrochene Blick

Um immun zu bleiben, aber nicht stumpf zu werden, muss der Immune lernen, naiv auf die Dinge zu blicken. Es gelingt ihm nicht immer. Als er zum wiederholten Mal nach Lissabon geht, ist er fest entschlossen, hier eine glückliche Zeit zu verbringen. Er will Kirchen und Kastelle besichtigen, doch was ihm auffällt, ist ein Gefängnis. Statt des Schönen sieht er nur das Schlechte.

„Und ihr zehntausend anonymen Alkoholiker, die ihr euch nicht erwischen ließet, steht mir bei, damit ich Sein Lied singe, das Hohelied des Alkohols.“ (S. 341)

Als er ins sozialistische Kuba kommt, fragt er sich, ob und wie sich Ideologie und Fakten überhaupt vereinen lassen. Er ist sich unsicher, was sein Standpunkt ist, und wünscht sich, seine Augen könnten nur unbekümmert Material sammeln, ohne zu urteilen.

In guter Gesellschaft

Der Immune arbeitet erfolgreich als Journalist und steigt gesellschaftlich auf. Um von keinem Arbeitgeber abhängig zu sein, beschließt er, für möglichst viele zu schreiben. Auch privat will er sich nicht binden und lebt weiterhin allein.

„Er hatte nie ganz dazugehört.“ (S. 365)

Die Gesellschaft kommt dem Immunen vor wie ein Chor, in den man einstimmen muss. Diesen Eindruck hat er z. B. bei den Privatpartys, die Claire, eine Doktorsgattin, gibt. Beim Geplauder stimmt man sich sozusagen auf das Lied ein. Hat sich dann ein Gast von der Party verabschiedet, erklingt das Chorlied: Es wird abschätzig über ihn getratscht. Keiner schafft es, diesem Klatsch zu entgehen.

Gescheiterte Revoluzzer

Der Immune leitet die Südamerika-Abteilung bei einer Zürcher Wochenzeitung. Nach langer Mitarbeit als freier Zulieferer hat er es bis in die Chefredaktion geschafft. Die Journalisten sind infolge der 68er-Unruhen tief gespalten. Es kommt zu einem Machtkampf um die Ausrichtung des Blattes. Auch der Immune wird in die Intrigen hineingezogen. Mithilfe zweier Großaktionäre plant er eine Allianz, die den Rechtsrutsch der Zeitung unter Führung des Drucker-Bosses, eines Hauptaktionärs, verhindern soll. Die Verschwörung misslingt, weil einer der vermeintlichen Partner seine Aktien längst an den Boss verkauft hat. Bevor der Immune gehen muss, erwirbt er noch seinen Bürosessel.

„Zürich war die schönste Stadt, um regelmäßig zurückzukehren. Denn Zürich, das gibt es.“ (S. 403)

In der Kneipe „Fantasio“ treffen sich nach Mitternacht Zürichs gestrauchelte Existenzen. Auch der Immune ist dabei und säuft mit Huren und ehemaligen Revolutionären. Die Zeit der 68er ist abgelaufen, es gibt keine politische Agitation mehr. Der schöne Rolf, ein ehemaliger Rebell, leitet nun eine Frauenzeitschrift, in der er zum Pflanzen von Sonnenblumen aufruft. Der Immune pöbelt herum. Gemeinsam mit dem Dealer Christian träumt er laut von einer Flucht nach Kabul. Doch keiner der beiden schafft es, abzuhauen.

Knapp am Ende vorbei

Der Immune ist lebensmüde. Mit einer Kugel in der Hand fragt er sich, warum er nicht den Mut zum Selbstmord aufbringt. Er kommt zu dem Schluss, dass er immer ein Meister im Anlauf gewesen ist. Statt konsequent zu sein, säuft und raucht er sich lieber ratenweise zu Tode.

„Ich bin ein Leben lang am Leben geblieben. Das wundert mich in diesem Moment von Neuem. Ich frage mich manchmal: Wie haben das die andern gemacht?“ (S. 446)

Einmal mehr flüchtet er nach Südamerika. Er will nur noch abhauen, den Amazonas hinauf. Das Schiff ist hoffnungslos überfüllt. Was er in Manaus tun will, weiß er nicht. Als er die Stadt erreicht, findet er nicht einmal ein Zimmer. Er hätte früher kommen sollen. Wie immer hat der Immune auch hier das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Er bleibt ein „Señor“ – trotz seiner Solidarität mit den Armen und obwohl er sich dagegen sträubt, anders zu sein. Er trägt Lederschuhe und hat Beziehungen zu besseren Kreisen – das reicht, um selbst zu diesen Kreisen gezählt zu werden. Dass er weint, wenn die Polizei in Quito, Lima, La Paz oder Santiago auf Protestierende einknüppelt, ändert daran nichts.

Ein verhängnisvoller Film

Der Immune schreibt einen Kommentar zu einem Film über eine faschistische Diktatur. Weil er darin den Herrscher und die Folterer beim Namen nennt, bekommen die verantwortlichen Ressortchefs des Fernsehens kalte Füße und setzen den Film in letzter Minute ab. Jemand aus der Botschaft der Diktatur hat kurz zuvor beim Fernsehen angerufen, doch niemand will für die Maßnahme verantwortlich sein. Dem Immunen kommt es vor, als würde er von einer anonymen Gruppe von Menschen hingerichtet. Jetzt ist er definitiv „out“.

Immer wieder geht er nach Zürich zurück. Obwohl die Stadt an ihrer Bürokratie zu ersticken scheint, lebt sie. Der Immune fühlt sich hier zu Hause und hat Lust, „Ethnologe des eigenen Stammes“ zu werden. Das müsste ihm als Journalist eigentlich gelingen. Und doch fehlen ihm immer wieder die Worte. Er fühlt sich nicht nur anders, sondern „anderser“.

Die Befreiung

Zwei Kommissare verhören den Immunen in seiner Wohnung. Sie durchsuchen die Räume und fragen ihn, ob er immun sei oder nicht – in ihrem Spitznamenverzeichnis findet sich ein „Immuner“. Sie verdächtigen ihn des Mordes. Als sie den stehen gebliebenen Wecker sehen, bemerkt einer, womöglich habe er auch die Zeit totgeschlagen. Die Kommissare beschlagnahmen seine Aufzeichnungen.

Der Immune fühlt sich befreit: Er ist sein dickes Bündel Papiere losgeworden. Es wundert ihn, wozu es dienen wird. Er weist auf die Lücken und Lügen in seinem Bericht hin und zweifelt an der richtigen Interpretation des Stoffes.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Immune ist in 45 Kapitel gegliedert. Diese folgen zwar chronologisch dem Werdegang der Hauptfigur, Perspektive, Ort und Zeit der Erzählung aber wechseln von Episode zu Episode. Mal berichtet ein außen stehender Erzähler aus dem Leben des Immunen, mal werden die Geschehnisse in Ich-Form wiedergegeben. Der Roman ist ein Kaleidoskop literarischer Formen. So springt das Buch vom Brief zum Gebet, von der Gutenachtgeschichte zum Autopsiebericht, vom Interview zum Selbstgespräch, von der Arie zum Polizeibericht. Bei allem Hang zur Gesellschafts- und Selbstkritik beweist Loetscher eine Vorliebe für Schalk und Spott. Das ganze Werk ist von ironischer Distanz geprägt. Die unzähligen Anspielungen auf politische und gesellschaftliche Ereignisse sind in blumige Metaphern verpackt und fantasievoll ausgeschmückt. Ein großer Teil des Romans basiert auf autobiografischen Erfahrungen des Autors und philosophischen Gedanken darüber.

Interpretationsansätze

  • Hugo Loetscher benutzt die Literatur als Mittel zur Selbsterkundung. Ein philosophisches Hauptthema des Romans ist die Verlorenheit des Schriftstellers und dessen Suche nach Identität. Der Immune hat immer wieder das Gefühl, nicht dazuzugehören. Er ist anders, „anderser“ gar. Als Intellektueller und Einzelgänger erkennt er seine Andersartigkeit im Kontakt mit der Umwelt und versucht sie in Worte zu fassen.
  • Immun werden heißt lernen, in widriger Umgebung zu überleben. Der Immune will nicht unempfindlich und stumpf werden, aber er muss sich gegen die eigene Empfindlichkeit schützen, um an der Welt nicht zugrunde zu gehen.
  • Der Immune ist weitgehend autobiografisch. Die konkreten Bezüge auf Ereignisse im Leben des Autors sind zwar stets in Metaphern verpackt, jedoch unschwer zu verorten. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Roman auch um eine originelle Form von Memoiren. Der Autor geht seinen proletarischen Wurzeln nach, teilt hier und da hart aus, betreibt aber auch eine schonungslose Aufarbeitung der eigenen Schwächen.
  • Der Roman ist ein früher Abgesang auf eine Epoche. Bereits Mitte der 1970er Jahre gelingt Loetscher eine unverblümte Analyse der 68er-Bewegung. Diese wird als – zumindest teilweise – gescheitertes Projekt geschildert: Ihre Vertreter haben sich entweder mit dem Bürgertum arrangiert oder sind in der Gosse gelandet.
  • Loetschers persönlicher Einblick in die 60er und 70er Jahre kann aber auch als Gesellschaftskritik gelesen werden. Im Zentrum der Anklage steht die rigide, staatlich geförderte Kleinbürgerlichkeit, die dem Menschen kaum Raum zur Entfaltung seiner Möglichkeiten lässt.
  • Das Buch ist auch ein Reiseroman. Der Immune ist ständig unterwegs, er ist besessen vom Weggehen, kehrt aber immer wieder nach Hause zurück. Das Weltbürgertum des Immunen ermöglicht die Sicht von innen und außen, und zwar sowohl auf die Heimat wie auch auf die Fremde.
  • Die formalen und stilistischen Ausschweifungen entsprechen dem Programm des Immunen. Der Autor und sein Romanheld sind Grenzüberschreiter, keine Gelegenheit zu sprachlichen und existenziellen Experimenten wird ausgelassen.

Historischer Hintergrund

Die 68er-Generation

Im Mai 1968 begann mit den Studentenunruhen in Paris eine politisch bewegte Zeit, die eine ganze Generation prägte. Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges, des Kalten Krieges und der sexuellen Befreiung forderten die Protestierenden eine „Revolution der Fantasie“. Die Bewegung griff rasch auf andere Länder Europas über. Während des Sommers kam es in zahlreichen Städten zu Demonstrationen und Aufständen. In Zürich entbrannte der Konflikt im Juni 1968 bei den so genannten Globuskrawallen. Anlass war die Forderung der Jugendlichen nach einem autonomen Jugendzentrum im damals leer stehenden Globus-Kaufhausgebäude beim Hauptbahnhof. Die Polizei löste die Demonstration gewaltsam auf, es gab Dutzende Verletzte und zahlreiche Verhaftungen.

Die Reaktionen auf die Zürcher Krawalle waren in der Schweiz gespalten. Bürgerliche Politiker und die Mehrzahl der Medien stellten sich hinter die Repression, linke Parteien und viele Intellektuelle solidarisierten sich mit den Anliegen der Jugendlichen. 21 Personen aus Kultur, Politik und Universität forderten in einem „Zürcher Manifest“, die Jugendbewegung ernst zu nehmen. Die politisch aufgeladene Zeit nach 1968 mit sozialkritischen Debatten und Aktionen dauerte in Zürich rund zwei Jahre, dann flaute die Agitation allmählich ab. Im europäischen Kollektivgedächtnis wirken die Ereignisse des Sommers 1968 bis heute nach.

Entstehung

Im Schaffen Hugo Loetschers dominierte bis 1969 die journalistische Arbeit. Zwar hatte er mit einigem Erfolg bereits drei Romane veröffentlicht, hauptsächlich aber als Reporter und Redakteur gearbeitet, zunächst für die Kulturzeitschrift du, später im Feuilleton der Weltwoche. Ab 1969 konzentrierte er sich ganz auf das freie Schreiben und ging oft auf Reisen. Trotzdem liegt ein relativ großer Abstand zwischen Loetschers drittem Roman Noah (1967) und dem Immunen, der 1975 erschien. In den Jahren dazwischen veröffentlichte Loetscher neben Essays und Reportagen nur ein weiteres Buch, eine Sammlung von Texten über Kuba, das er mehrmals besucht hatte (Zehn Jahre Fidel Castro, 1969). Gut möglich, dass die stilistische und inhaltliche Reichhaltigkeit des Immunen auf diese lange Entstehungszeit zurückzuführen ist.

Das Werk unterscheidet sich formal stark von Loetschers ersten drei Romanen, die allesamt als Gleichnisse zu bezeichnen sind. Der Immune ist dichter und in der Darstellung ebenso variantenreich wie im Inhalt. Loetscher erzählt einen Großteil seines bisherigen Lebens nach. So versponnen die Ausdrucksformen sind, so blumig die Metaphern, so leicht bleiben die konkreten Ereignisse erkennbar. Der Immune ist ein sehr persönlicher Roman, da der Autor das komplette Liebesleben seiner Hauptfigur – und damit möglicherweise sein eigenes – Revue passieren lässt. Der Lebemann Loetscher lässt keine Zweifel daran, dass es Zeiten gab, in denen ihn der Alkohol und das Zürcher Milieu nahe an den Abgrund führten. Wie sein Romanheld rettete sich Loetscher an den Rand Europas und an den Rand der Welt, nach Portugal und Südamerika. Zehn Jahre nach Erscheinen überarbeitete der Autor den Roman. Die revidierte Fassung erschien 1985.

Wirkungsgeschichte

Die Kritik bezeichnete die beiden Bücher Der Immune und den 1986 erschienenen zweiten Teil Die Papiere des Immunen als Hauptwerk des Schriftstellers. Das lag wohl an der persönlichen Perspektive und an der formalen Reichhaltigkeit, in der Loetscher einen unverwechselbaren Stil fand. Der Germanist Jeroen Dewulf bezeichnete den Immunen als „einen der ersten postmodernen Romane der deutschsprachigen Literatur“. Loetscher, wenig jünger als die beiden Weltautoren Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, etablierte sich als eine der gewichtigsten literarischen Schweizer Stimmen des 20. Jahrhunderts. Von den zwei „Nationalautoren“ unterschied er sich insofern, als ihn deren Generalthema, die „Enge der Schweiz“, kaum quälte. Bei aller Gesellschaftskritik und aller Liebe zum Reisen sah er die Schweiz stets als Refugium und als Chance, die Erfahrungen aus der großen Welt zu reflektieren.

Das Werk beeinflusste die bis heute anhaltende Diskussion um die 68er-Generation, die Loetscher in seinem Buch auf sehr persönliche Art betrachtet. Anfang der 1980er Jahre erntete der Autor den Lohn seiner literarischen Arbeit, indem er reihenweise mit Preisen geehrt wurde. Mit dem Immunen, so schrieb der Kritiker Emanuel La Roche im Tages-Anzeiger, habe Loetscher einen Maßstab gesetzt, vor dem viele jüngere Autoren nicht bestehen könnten – möglicherweise auch jene nicht, die sich von Loetschers Fabulierlust anstecken ließen wie die Schweizer Urs Widmer oder Thomas Hürlimann.

Über den Autor

Hugo Loetscher wird am 22. Dezember 1929 als Sohn einer Zürcher Arbeiterfamilie geboren. In seiner Heimatstadt besucht er das Gymnasium. Ebenfalls in Zürich, aber auch an der Sorbonne in Paris studiert Loetscher politische Wissenschaften, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte und Literatur. Der junge Journalist reist oft und wird so zum Weltbürger, der sich in der Schweiz einen Namen als Lateinamerikakenner und brillanter Essayist macht. Er arbeitet als Redakteur für die Kulturzeitschrift du und ist Mitglied der Feuilletonredaktion der Weltwoche. Er lernt Friedrich Dürrenmatt und den Kunstmaler Varlin kennen; mit beiden verbindet ihn eine tiefe Freundschaft. Ab 1969 arbeitet Loetscher als freier Schriftsteller und Publizist. Er reist immer wieder, bricht jedoch seine Zelte in Zürich nie ganz ab. Als Buchautor debütiert er mit dem Gleichnis Abwässer (1963), dem zwei weitere folgen: Die Kranzflechterin (1964) und Noah (1967). Der Durchbruch gelingt ihm mit dem autobiografischen Roman Der Immune (1975), ein Erfolg, den das Folgewerk Die Papiere des Immunen (1986) noch bestärkt. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit ist Loetscher immer wieder journalistisch für diverse Medien tätig und engagiert sich politisch. So nimmt er in seinem Werk oft Partei für sozial Benachteiligte, stellt dabei aber auch gern die eigene Position ironisch infrage. Für Aufsehen sorgt er mit einem Text, der von seinem Schriftstellerkollegen und Freund Dürrenmatt handelt und 13 Jahre nach dessen Tod in Lesen statt klettern veröffentlicht wird. Dürrenmatts Witwe Charlotte Kerr bezichtigt Loetscher verschiedener Falschdarstellungen und klagt ihn der Persönlichkeitsverletzung an. Loetscher kann die Anschuldigungen kontern und gewinnt den Prozess, der als „Dürrenmatt-Affäre“ Eingang in die Schweizer Literaturgeschichte findet. Neben diversen Literaturpreisen erhält der Autor 1994 den Orden „Cruzeiro do Sul“ für seine Verdienste um die brasilianische Kultur. Hugo Loetscher lebt in Zürich.

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