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Der kleine Herr Friedemann

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Der kleine Herr Friedemann

S. Fischer,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Die Novelle des jungen Thomas Mann erzählt die Geschichte von der Heimsuchung und Vernichtung des zwergwüchsigen Herrn Friedemann durch die Liebe zu einer schönen, aber grausamen Frau.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Moderne

Worum es geht

Die Heimsuchung

Bereits in der Novelle Der kleine Herr Friedemann, einer seiner ersten Veröffentlichungen, schlägt Thomas Mann ein Thema an, das sich später wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht: die Heimsuchung eines Menschen durch eine lang unterdrückte Sehnsucht, die plötzlich mit aller Gewalt und Leidenschaftlichkeit aufbricht und den Protagonisten gegen seinen Willen überwältigt und zerstört. So geht es auch dem kleinen, verkrüppelten Herrn Friedemann. Der hat schon seit seiner Jugendzeit eingesehen, dass er sich in einer Gesellschaft, die vor allem auf Äußerlichkeiten achtet, kaum Hoffnung auf eine Liebesbeziehung machen kann. Mit dieser Tatsache beginnt er sich abzufinden und richtet sich sein Leben so genussvoll wie möglich ein. Doch schon kurz nach seinem 30. Geburtstag bricht das Unheil über ihn herein, und zwar in der Gestalt einer schönen Frau, in die er sich gegen seinen Willen verliebt. Obwohl er ahnt, dass dies seinen Untergang bedeutet, kann sich der kleine Herr Friedemann diesem Einbruch von Leidenschaft in sein Leben nicht entziehen. Das Thema der Heimsuchung ist auch im Leben von Thomas Mann selbst erkennbar, der in seinen Tagebüchern seine homoerotischen Neigungen eingesteht, sie aber nie auslebte.

Take-aways

  • Mit der Novelle Der kleine Herr Friedemann begann Thomas Manns Schriftstellerkarriere.
  • Es geht darin um die Heimsuchung eines Menschen durch eine lang unterdrückte Sehnsucht, die plötzlich mit aller Gewalt aufbricht und den Protagonisten zerstört.
  • Die Erzählung schildert die Lebens- und Leidensgeschichte des Johannes Friedemann, der nach einem Sturz vom Wickeltisch verkrüppelt und zwergwüchsig ist.
  • Seine Behinderung verwehrt ihm Beziehungen zum anderen Geschlecht.
  • Er fügt sich seinem Schicksal, entsagt der Liebe und bescheidet sich mit kleinen Alltagsfreuden.
  • Erwachsen geworden, entwickelt sich Johannes Friedemann zu einem Ästheten und Dandy, liebt Musik, Literatur, das Theater und elegante Kleidung.
  • Als er 30 Jahre alt ist, greift das Schicksal erneut in sein Leben ein: in der Person der schönen Gerda von Rinnlingen.
  • Er fühlt sich zu dieser Frau, die ihn teils mitfühlend, teils spöttisch behandelt, stark hingezogen und versucht vergeblich, sich gegen diese Leidenschaft zu wehren.
  • einem Fest kommt es zur Katastrophe: Friedemann erklärt seiner Angebeteten seine Liebe, doch sie stößt ihn verächtlich von sich, woraufhin er sich im Fluss ertränkt.
  • In diesem Frühwerk Thomas Manns zeichnen sich viele der großen Themen seiner späteren Romane ab.
  • Die Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann führte zu einem Buchvertrag für den Roman Buddenbrooks, für den Thomas Mann später den Literaturnobelpreis erhielt.
  • In Buddenbrooks finden sich auch einzelne Elemente wieder, die Mann bereits in Der kleine Herr Friedemann verwendet hat, z. B. die drei Schwestern.

Zusammenfassung

Eine betrunkene Amme und die Folgen

Schon als der kleine Johannes Friedemann etwa einen Monat alt ist, passiert das Malheur: Die betrunkene Amme lässt das Kind vom Wickeltisch fallen. Als Folge wächst es mit Buckel, verkrüppelt und zwergwüchsig auf. Da sein Vater, ein niederländischer Konsul, noch vor seiner Geburt verstorben ist, lebt Johannes Friedemann mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern, die allesamt unverheiratet sind, im elterlichen Haus am nördlichen Tor einer mittelgroßen Handelsstadt. Den Sommer verbringt er meist im Garten hinter dem Haus. Obwohl von der Gestalt her verwachsen, könnte man sein Gesicht fast als schön bezeichnen; er hat die feinen Züge einer Künstlernatur.

„Die Amme hatte die Schuld.“ (S. 7)

Seine Schulzeit verläuft eintönig. Die Familie gehört zwar zu den besten Kreisen der Stadt und Johannes erhält auch entsprechende Einladungen, aber er kann an den Spielen seiner Altersgenossen nicht teilnehmen und findet keine Freunde. Als Jugendlicher verliebt er sich in ein gleichaltriges Mädchen, aber nachdem er gesehen hat, wie seine Angebetete einen anderen küsst, erkennt er, dass er bei den Mädchen niemals eine Chance haben wird. So verzichtet er bewusst auf das Glück der Liebe und genießt in stiller Bescheidenheit die kleinen Freuden des Lebens. Einen besonderen Stellenwert räumt er dabei der Literatur und der Musik ein.

„Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.“ (über Johannes Friedemann, S. 16)

Als er 21 Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Johannes lebt nun mit seinen drei Schwestern allein im Haus. Diese haben immer noch keine Ehemänner gefunden. Obwohl die Familie sehr angesehen ist, sind die Töchter nicht allzu vermögend und obendrein auch noch ziemlich hässlich.

Lebensfreude eines Buckligen

Der kleine Herr Friedemann entwickelt sich zu einem Epikureer: Als wahrer Genussmensch beschließt er, das Leben, wo immer er kann, in vollen Zügen zu genießen. Eine besondere Vorliebe entwickelt er für das Theater. Gleichzeitig ist er ein wenig eitel und fällt durch elegante, makellose Kleidung auf. Wenn ihm die Leute auf der Straße begegnen, dann sehen sie ihn meist mit wohlwollendem Mitleid an. Was sie dabei nicht ahnen, ist, dass Johannes Friedemann sich in seinem ruhigen Leben voller stiller, unauffälliger Genüsse wirklich wohlfühlt, auch wenn es frei von großen Gemütsbewegungen und Leidenschaften ist.

„Er lernte begreifen, dass alles genießenswert, und dass es beinahe töricht ist, zwischen glücklichen und unglücklichen Erlebnissen zu unterscheiden.“ (über Johannes Friedemann, S. 19)

Er beginnt zuerst eine Kaufmannslehre, macht sich dann aber selbstständig und geht mit wenig Zeitaufwand einer freiberuflichen Tätigkeit nach. Er lebt im Erdgeschoss des elterlichen Hauses und führt von seinem dortigen Büro aus eine Agentur.

Verfrühte Geburtstagswünsche

Als Johannes Friedemann an seinem 30. Geburtstag Bilanz zieht, sieht seine Lebenssituation für ihn gar nicht so schlecht aus. Er hat seinen Seelenfrieden gefunden und erwartet nur noch, dass seine verbleibenden Jahre weiterhin so ruhig verlaufen werden – ohne Licht, aber auch ohne trübende Schatten. Er hat seine kleinen Genüsse und er hat längst seinen Frieden damit gemacht, dass die Leidenschaft kein Teil seines Lebens sein wird. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, dass schon sehr bald Ereignisse eintreten werden, die seinen Waffenstillstand mit den menschlichen Ansprüchen auf Liebe tief erschüttern werden ...

„Die Herren waren verblüfft und hatten vorderhand noch kein Urteil; die Damen aber waren geradeheraus nicht einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.“ (S. 25)

Einen Monat später wird Oberstleutnant von Rinnlingen neuer Bezirkskommandant in der Heimatstadt von Johannes Friedemann. Der Offizier ist ein stattlicher Mann in seinen 40ern und gewinnt sofort die Sympathien der besseren Gesellschaft, besonders der Frauen. Er ist zudem anscheinend außergewöhnlich vermögend und mietet eine große Villa in der südlichen Vorstadt. Dort zieht er mit dem Dienstbotenpersonal und seiner 24-jährigen Frau Gerda von Rinnlingen ein. Außerdem hat er fünf Pferde, eine viersitzige Kutsche und einen leichten Jagdwagen.

„Ein paar Gedichtzeilen flatterten ihm durch den Sinn, die Lohengrin-Musik klang ihm wieder in den Ohren, er sah noch einmal Frau von Rinnlingens Gestalt vor sich, ihren weißen Arm auf dem roten Sammet, und dann verfiel er in einen schweren, fieberdumpfen Schlaf.“ (über Johannes Friedemann, S. 43)

Gerda von Rinnlingen verwirrt die Männer. Sie tritt burschikos auf, raucht, reitet und scheint sich herzlich wenig um männliche Aufmerksamkeit zu scheren – ihren eigenen Mann eingeschlossen. Da das Ehepaar aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, wird es schnell zum Stadtgespräch. Die Frauen bemitleiden Gerdas Ehemann, die Männer sind von ihrem Verhalten verwirrt und wissen sie nicht einzuordnen. Außerdem ist bekannt, dass das Ehepaar kinderlos ist.

Leidenschaft auf den ersten Blick

Dem kleinen Herrn Friedemann, der wie immer elegant gekleidet in der Öffentlichkeit auftritt, begegnet Gerda von Rinnlingen zum ersten Mal, als sie in ihrer Kutsche die Hauptstraße entlangrast, wobei sie selbst auf dem Kutschersitz des gelben Jagdwagens Platz genommen hat, während der Diener mit verschränkten Armen hinter ihr sitzt. Sie nickt nur mit dem Kopf – aber Johannes Friedemann ist bereits von ihrem Anblick betört.

„Da änderte sich plötzlich der Ausdruck ihres Gesichtes. Er sah, wie es sich in einem kaum merklichen grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit jenem unheimlichen Zittern fest und forschend auf ihn richteten, wie schon zweimal vorher.“ (über Gerda von Rinnlingen, S. 54)

Drei Tage später besucht das Ehepaar von Rinnlingen das Haus der Friedemanns und wird von den drei Schwestern, die das Obergeschoss bewohnen, empfangen. Johannes Friedemann ist zuerst versucht, selbst auch nach oben zu gehen, entschließt sich dann aber, das Ehepaar doch nicht zu begrüßen. Später informieren ihn seine Schwestern, dass die Friedemanns nun ihrerseits am kommenden Sonntag ins Haus der von Rinnlingens eingeladen seien.

Begegnung in der Oper

Zu den kleinen Lebensgenüssen Herrn Friedemanns gehört der regelmäßige Opernbesuch. Bei der am folgenden Abend stattfindenden Lohengrin-Aufführung sitzt zufällig das Ehepaar von Rinnlingen in seiner angestammten Loge 13. Erst zögert er, aber dann begibt er sich doch an seinen üblichen Platz, unmittelbar neben Frau von Rinnlingen.

„Da war diese Frau gekommen, sie musste kommen, es war sein Schicksal, sie selbst war sein Schicksal, sie allein! Hatte er das nicht gefühlt vom ersten Augenblicke an?“ (über Johannes Friedemann, S. 61)

Als sich ihre Blicke im Lauf der Aufführung treffen, betrachtet sie ihn aufmerksam, so lange, bis er verlegen die Augen niederschlägt. Gegen Ende eines Akts lässt Gerda von Rinnlingen ihren Fächer zu Boden fallen. Beide, sie und Friedemann, bücken sich gleichzeitig danach. Sie ergreift den Fächer zuerst, dankt ihm aber trotzdem, ein wenig spöttisch. Von ihrem Anblick und ihrem Duft betört, verlässt Johannes Friedemann die Aufführung noch vor dem Ende und irrt verwirrt durch die Straßen der Stadt.

„Niemand beachtete den kleinen Herrn Friedemann, und niemand bemerkte, dass seine großen Augen ohne Unterlass auf Frau von Rinnlingen gerichtet waren.“ (S. 68)

Der kleine Herr Friedemann spürt, dass sich ein Unheil anbahnt, er weiß aber nicht, wie er dem Bann dieser Frau noch entkommen kann. In seiner Verzweiflung beschließt er, jeden Kontakt mit Gerda von Rinnlingen zu meiden und so zu seinem alten Seelenfrieden zurückzufinden. Danach verbringt eine ruhelose Nacht in seinem Arbeitszimmer und ist bei Tagesanbruch völlig erschöpft.

Der Sonntagsbesuch

Als an diesem Sonntag der Besuch der Familie Friedemann bei den von Rinnlingens ansteht, teilt Johannes seinen Schwestern mit, dass er erkrankt sei (in der Tat sieht er sehr mitgenommen aus) und sie nicht begleiten könne. Die Schwestern machen sich enttäuscht auf den Weg. Plötzlich überkommt ihn aber eine Art Übermut und er beschließt einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Unmerklich zieht es ihn dabei zur Villa der von Rinnlingens und bevor er sich bewusst ist, was mit ihm geschieht, steht er vor ihrer Tür.

„Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen, verächtlichen Lachen hatte sie ihre Hände seinen heißen Fingern entrissen, hatte ihn am Arm gepackt, ihn seitwärts vollends zu Boden geschleudert, war aufgesprungen und in der Allee verschwunden.“ (über Gerda von Rinnlingen, S. 75)

Gerda von Rinnlingen empfängt ihn in einem rot-schwarzen, schlichten Kleid, während er selbst, wie gewohnt elegant gekleidet, in schwarzem Samtanzug mit Zylinder und Stock gekommen ist. Als er sich ihr zuwendet, reicht er ihr nur bis an die Brust. Sie sieht ihn intensiv an und ist ausgesprochen höflich zu ihm. Während er im Sessel sitzt, den Hut zwischen den Knien und kränklichen Anblicks, gesteht sie ihm, dass auch sie viel krank sei und allerlei merkwürdige Zustände erlebe, was aber niemand bemerke. Dann erwähnt sie die Begegnung in der Oper; sein frühes Gehen ist ihr aufgefallen. Sie spricht ihn auf seine Liebe zur Musik an. Als er ihr mitteilt, dass er Violine spielt, lädt sie ihn ein, gelegentlich mit ihr zu musizieren. Manchmal meint er an ihrem Gesicht einen fast spöttischen Blick abzulesen. Auf seine Frage, wie es ihr in der neuen Umgebung gefalle, erwidert sie, dass sie sich eingeengt und beobachtet fühle. Am Ende lädt sie Johannes Friedemann zu dem gesellschaftlichen Empfang ein, den das Ehepaar in wenigen Tagen abhalten wird.

„Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhob den Oberkörper und ließ ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.“ (über Johannes Friedemann, S. 76)

Kurz darauf betritt Oberstleutnant von Rinnlingen das Zimmer und begrüßt Johannes Friedemann äußerst freundlich. Auch er lädt ihn zu dem anstehenden gesellschaftlichen Treffen ein und ist voller Wärme und Höflichkeit. Johannes Friedemann beendet nun hastig seinen Besuch.

Böse Vorahnungen

Verstört irrt er danach durch die Stadt. Er fragt sich, ob seine Angebetete ihn absichtlich hilflos mache, und erkennt, dass diese Frau sein Schicksal sein wird, wenn er sich ihrem Bann nicht entziehen kann. Der kleine Herr Friedemann trauert seinem verlorenen Seelenfrieden nach und weiß, dass ihn etwas mit fürchterlicher, unwiderstehlicher Macht ergriffen hat und ihn zugrunde richten wird. Trotzdem beschließt er, nicht länger dagegen anzukämpfen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Noch lange sitzt er mit aufgestütztem Kopf am Flussufer.

Das Fest

Entgegen allen Ängsten und Bedenken leistet Johannes Friedemann acht Tage später der Einladung des Ehepaars von Rinnlingen Folge. Erneut ist er mit viel Sorgfalt gekleidet, mit tadellosem Frack, blendend weißem Hemd, Lackschuhen und rotseidenen Strümpfen. Beim Essen, an dem etwa 30 Personen teilnehmen, trinkt er viel Wein und unterhält sich kaum mit seinen Tischnachbarn.

„Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen.“ (S. 76 f.)

Danach setzt er sich mit einer Zigarre und einer Tasse Kaffee still in eine Ecke und beobachtet ohne Unterlass Gerda von Rinnlingen, die ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgeht. Bald tritt sie zu ihm und fragt ihn, ohne ihn dabei anzublicken, ob er Lust hätte, sie in den Garten zu begleiten. Gerne willigt er ein.

Tod im Fluss

In einer sternenklaren, warmen Sommernacht führt die Dame des Hauses den kleinen Herrn Friedemann die Mittelallee hinunter ans Wasser, an einen Ort, an dem sie selbst oft gesessen hat. Die beiden finden die Bank nahe dem Flussufer unbesetzt. Erst schweigen sie eine Weile, dann erkundigt sich Gerda von Rinnlingen bei Friedemann nach dem Ursprung seines Gebrechens. Johannes Friedemann erzählt ihr, dass er als Kind zu Boden gefallen sei. Sie fragt ihn nach seinem Alter und ob er all diese Jahr denn glücklich gewesen sei. Er antwortet, dass er sein Bestes versucht habe. Sie gesteht ihm, dass auch sie sich auf Unglück verstehe und solche Sommernächte am Wasser hilfreich seien.

Der kleine Herr Friedemann weist aufs andere Flussufer und erzählt, wie er dort neulich so gedankenverloren gesessen hat. Er gesteht ihr auf ihr Nachfragen, dass das direkt nach seinem Besuch bei ihr gewesen sei. Dann sinkt er plötzlich klagend vor ihr zu Boden, ergreift ihre beiden Hände, drückt sein Gesicht in ihren Schoß und stammelt mit keuchender Stimme: „Sie wissen es ja ... Lass mich ... Ich kann nicht mehr ... Mein Gott ... Mein Gott ...“

Erst lässt sie ihn gewähren und schaut nur, gerade aufgerichtet, übers Wasser. Aber dann springt sie mit einem verächtlichen Lachen auf, schleudert ihn zur Seite und verschwindet im Dunkel. Von Gefühlen wie wollüstigem Hass, Ekel vor sich selbst und großer Wut zerrissen, schleppt sich Johannes Friedemann die wenigen Schritte bis zum Wasser und lässt sich kopfüber hineinfallen. Obwohl seine Beine noch das Ufer berühren, treibt er reglos mit dem Gesicht nach unten im Wasser.

Zum Text

Aufbau und Stil

In 15 kurzen Abschnitten beschreibt Thomas Mann in seinem Erstlingswerk (als Buchveröffentlichung) die Geschichte des vom Leben stiefmütterlich behandelten kleinen Herrn Friedemann. In den ersten fünf Abschnitten wird die Herkunft und die frühe Lebensgeschichte des unglücklichen Helden geschildert sowie dessen Versuche, sich mit seinen Lebensumständen zu arrangieren. In den nächsten fünf Abschnitten kommt das Thema der Heimsuchung zum Tragen: Johannes Friedemann versucht sich zu wehren, aber seine Leidenschaft wird durch den unglücklichen Zufall des Zusammentreffens mit Gerda von Rinnlingen in der Oper unaufhaltsam entfacht. Diese Leidenschaft nimmt in den letzten fünf Abschnitten ihren verhängnisvollen Lauf und endet mit der Demütigung und dem Freitod des Protagonisten.

Interpretationsansätze

  • Die Novelle Der kleine Herr Friedemann ist ein Werk der Dekadenzliteratur um 1900. Das zeigt sich vor allem an den Hauptfiguren: Johannes Friedemann ist von Kindheit an verkrüppelt und in gewisser Hinsicht lebensuntüchtig, und auch die Frau, die ihn zerstört, ist auf ihre eigene Art und Weise eine Außenseiterin der Gesellschaft.
  • Johannes Friedemann ist ein Beispiel für den Typus des Dandys. Trotz seiner Behinderung besticht er durch seine feinen Gesichtszüge, seine Freude an den kleinen Lebensgenüssen, besonders an Musik und Literatur, und seine penible und auffallende Art, sich zu kleiden und sich zu geben.
  • Die eigentlich unverständliche Grausamkeit der Gerda von Rinnlingen wird erklärbar, wenn man ihr Verhalten als Ausbruch von unterdrückten homoerotischen Tendenzen mit entsprechender Aggression gegenüber heterosexuellen Annäherungsversuchen versteht.
  • Die Novelle enthält ein tragisches Element: Der körperlich verkrüppelte Johannes Friedemann trifft auf die seelisch leidende Gerda von Rinnlingen, doch statt zu einer Seelenverwandtschaft kommt es zu Missverständnissen mit tragischem Ende.
  • Die Erzählung übt Gesellschaftskritik, indem beide Hauptpersonen aufgrund ihrer Eigenheiten auf Unverständnis und unterschwellige Ablehnung stoßen, die aber von entsprechenden gesellschaftlichen Umgangsformen verschleiert wird.
  • Bereits dieses Erstlingswerk trägt autobiografische Züge des seine homoerotischen Neigungen nicht auslebenden Dichters. Wohl nicht zufällig heißt die Hauptfigur Friedemann, bezeichnet also einen „Mann“, der im „Frieden“ mit sich selbst lebt – einem Frieden, der allerdings durch eine entsprechende Heimsuchung zerstört werden kann. Außerdem hatte Thomas Mann aber auch einen Cousin namens Johann Jakob Wilhelm Mann, der bucklig war, drei Schwestern hatte und in jungen Jahren starb – offenbar ein Vorbild für den Helden der Novelle.

Historischer Hintergrund

Das Zeitalter der Dekadenz

Das Ende des 19. Jahrhunderts war von einer eigentümlichen kulturellen Stimmung geprägt. Zunehmend kamen Risse im moralischen Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft zum Vorschein. Der Schein trog, hinter den Kulissen einer repressiven Sexualmoral herrschten Ehebruch, Perversion und Prostitution. Während Sigmund Freud an seiner psychoanalytischen Theorie dieser Phänomene arbeitete, begann auch die Literatur sich der Realität der unterdrückten Triebe und Leidenschaften, die sich trotzdem mit Gewalt ihren Weg bahnen, bewusst zu werden. Zum einen führte dies zu einer thematischen Ausweitung in der Literatur. Während der bis dahin vorherrschende Naturalismus vor allem das Leben der unterdrückten Klassen detailgetreu zu schildern suchte, richtete sich das Interesse nun mehr auf die Außenseiter der Gesellschaft, die sich in keine der üblichen Klassen einordnen ließen und bei denen die Frage im Vordergrund stand, wie diese gesellschaftlich ignorierten oder geächteten Menschen mit ihrer Triebhaftigkeit zurechtkamen. Die Extremfälle waren aber nur der Ausgangspunkt für die allgemeine Frage: Wie gehen wir als Menschen allgemein mit Lebenslügen und verdrängten Leidenschaften um?

Zu jener Zeit entstand auch eine Art Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft: Nicht der finanziell erfolgreiche, berechnende Kapitalist, sondern der künstlerische, auf Ästhetik und Lebensgenuss ausgerichtete Dandy wurde zum Maßstab und zum möglichen neuen Helden bei der Suche nach Lebenssinn. Einige Autoren, etwa Charles Baudelaire, Oscar Wilde oder Thomas Mann, gingen dieser Spur nach und kamen zu dem Schluss, dass der dekadente Dandy gegen seine eigenen Leidenschaften ebenso wenig gewappnet ist wie die untergehende großbürgerliche Gesellschaft, deren Einfluss er sich zu entziehen versucht.

Entstehung

Nachdem Thomas Mann bereits einige Erzählungen veröffentlicht hatte, konnte er die Novelle Der kleine Herr Friedemann 1897 in der renommierten Literaturzeitschrift Neue deutsche Rundschau des S. Fischer Verlags platzieren. Entstanden war sie in Italien, wo Thomas Mann einige Zeit gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich verbracht hatte. Der Text basiert auf einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel Der kleine Professor, das Thomas Mann bereits 1894 verfasst hatte. Der Verleger Samuel Fischer bat Mann nach dieser Veröffentlichung um eine Novellensammlung, die dann in Buchform mit Der kleine Herr Friedemann als Titelnovelle 1898 erschien.

Bereits in diesem frühen Werk sind deutliche autobiografische Anspielungen zu finden. Schauplatz ist offensichtlich Lübeck, die Heimatstadt Thomas Manns. Und wie sich später herausstellen sollte – nach der posthumen Veröffentlichung von Thomas Manns Tagebüchern –, kämpft Friedemann gegen eine leidenschaftliche Heimsuchung, wie sie auch der Autor im eigenen Leben mehrfach verspürte. In einem Brief an einen Bekannten charakterisierte Thomas Mann den Inhalt dieser Novelle als „öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Hass, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu geben ...“

Viele der Figuren in Der kleine Herr Friedemann wurden, z. T. eins zu eins, von Thomas Mann für die Buddenbrooks übernommen. Die drei Schwestern etwa tauchen mit denselben Namen und wortwörtlich mit denselben Beschreibungen im Roman wieder auf. Daneben kann Gerda von Rinnlingen als Vorstufe der Gerda Buddenbrook gesehen werden.

Wirkungsgeschichte

Samuel Fischer, der legendäre Verleger des S. Fischer Verlags, war von Thomas Manns Novellensammlung so beeindruckt, dass er ihm einen Autorenvertrag für einen größeren Roman anbot. Dieser Roman mit dem Titel Buddenbrooks erschien drei Jahre später (1901) und bescherte dem Autor 1929 den Nobelpreis für Literatur.

Die Novelle Der kleine Herr Friedemann ist aber mehr als nur eine Wegbereiterin für Thomas Manns spätere Romane. Sie enthält im Kern bereits die wichtigsten Themen seines Werks. Die Erzählung wurde 1990 von der DEFA verfilmt und später von der ARD ausgestrahlt.

Erstaunlicherweise gibt es keine literarischen Schüler des wohl wichtigsten deutschen Autors des 20. Jahrhunderts. Aber wie Marcel Reich-Ranicki anlässlich eines späteren Werks von Thomas Mann anmerkte: „Dutzende von Schriftstellern erklärten, niemand sei ihnen gleichgültiger als der Autor des Zauberberg. Aber sie beteuerten es mit vor Wut und wohl auch Neid bebender Stimme.“

Über den Autor

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Er ist der zweite Sohn einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie, sein älterer Bruder Heinrich wird ebenfalls Schriftsteller. Thomas hasst die Schule und verlässt das Gymnasium ohne Abitur. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1894 nach München, dort arbeitet Mann kurzfristig als Volontär bei einer Feuerversicherung. Als er mit 21 Jahren volljährig ist und aus dem Erbe des Vaters genug Geld zum Leben erhält, beschließt er, freier Schriftsteller zu werden. Er reist mit Heinrich nach Italien, arbeitet in der Redaktion der Satirezeitschrift Simplicissimus und schreibt an seinem ersten Roman Buddenbrooks, der 1901 erscheint und ihn sofort berühmt macht. Der Literaturnobelpreis, den er 1929 erhält, beruht vor allem auf diesem ersten Buch – Mann, nicht uneitel, erwartet die Auszeichnung allerdings schon 1927. Trotz seiner homoerotischen Neigungen heiratet er 1905 die reiche Jüdin Katia Pringsheim. Sie haben sechs Kinder, darunter Klaus, Erika und Golo Mann, die ebenfalls als Schriftsteller bekannt werden. Weil Thomas den Ersten Weltkrieg zunächst befürwortet, kommt es zwischen ihm und seinem Bruder Heinrich zum Bruch, der mehrere Jahre andauert. 1912 erscheint die Novelle Der Tod in Venedig, 1924 der Roman Der Zauberberg. In den 1930er Jahren gerät er ins Visier der Nationalsozialisten, gegen die er sich in öffentlichen Reden ausspricht; seine Schriften werden verboten. Nach der Machtergreifung Hitlers kehrt er von einer Vortragsreise nicht mehr nach Deutschland zurück. Zunächst leben die Manns in der Schweiz, 1938 emigrieren sie in die USA, 1944 nimmt Mann die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1947 erscheint Doktor Faustus, eine literarische Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft. Nach dem Krieg besucht Thomas Mann Deutschland nur noch sporadisch; die von ihm vertretene Kollektivschuldthese verschafft ihm nicht nur Anhänger. Als die Manns 1952 nach Europa zurückkehren, gehen sie wieder in die Schweiz. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 in Zürich.

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