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Der Mensch erscheint im Holozän

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Der Mensch erscheint im Holozän

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Tessin im Dauerregen: Max Frischs Parabel über die Vergeblichkeit, dem Tod etwas entgegenzusetzen.


Literatur­klassiker

  • Erzählung
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Alles geht den Bach runter

Der Mensch erscheint im Holozän beginnt denkbar unspektakulär: ein einsamer Witwer in seinem Tessiner Berghaus, und draußen will es nicht aufhören zu regnen. Dann wird der 74-jährige Herr Geiser durch einen Erdrutsch von der Umwelt abgeschnitten, die Naturgewalt konfrontiert ihn mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Auf sich gestellt, versucht er seinem Dasein einen Sinn zu geben, indem er unzählige Notizen und Lexikonausschnitte sammelt und damit die Wände tapeziert. Doch der schleichenden Erosion – nicht nur in der Natur, sondern auch in seinem Kopf – hat er nichts entgegenzusetzen. Draußen stürzen die Mauern ein, drinnen erleidet Herr Geiser einen Schlaganfall: Augenlid und Mundwinkel sind fortan gelähmt, er verliert immer mehr den Verstand und brät seine Katze im Kamin. Und während das versehrte Bergdorf schließlich wieder aufgebaut wird, ist sein persönlicher Verfall unumkehrbar. Mit Herrn Geiser hat Max Frisch die deutschsprachige Literatur um einen Sonderling bereichert. Seine Erzählung hat der Autor rückblickend als sein „vollkommenstes“ Werk bezeichnet.

Take-aways

  • Max Frischs gleichnishafte Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän gilt als spätes Meisterwerk des Schweizer Schriftstellers.
  • Sie handelt von einem Witwer, Herrn Geiser, der sich für seinen Lebensabend in die Einsamkeit eines Tessiner Bergdorfs zurückgezogen hat.
  • Das kleine Haus, das er erworben hat, tapeziert er mit Ausschnitten aus Lexika, aus Wanderführern und aus der Bibel.
  • Draußen regnet es ohne Unterlass, ein Wolkenbruch folgt dem nächsten.
  • Das Dorf wird durch einen Erdrutsch von der Umwelt abgeschnitten. Auch der Strom fällt aus.
  • Obwohl das Leben ohne Strom und Warmwasser bald beschwerlich wird, sucht Herr Geiser kaum den Kontakt zur Außenwelt. Lieber erweitert er stoisch sein Zettelarchiv, das bald alle Wände füllt.
  • Dann unternimmt er doch einen Fluchtversuch: Über einen Pass wandert er ins Maggiatal.
  • Kurz vor dem Ziel kehrt er um: Er sieht keinen Sinn mehr darin, anderswohin zu gelangen.
  • Wieder zu Hause, erleidet Herr Geiser einen Schlaganfall.
  • Seine Tochter, die vergeblich versucht hat ihn zu erreichen, findet ihn. Doch er hat ihr nichts Neues zu erzählen, nur Erinnerungen.
  • Max Frisch greift in diesem Werk nicht mehr politische, sondern persönliche Tabuthemen auf: Einsamkeit im Alter, Vergesslichkeit, Sterblichkeit und die Bedeutungslosigkeit des Menschen.
  • Formal bricht das Buch mit der Konvention: Der Lauftext wird immer wieder durch Herrn Geisers Zettel unterbrochen, die eins zu eins abgedruckt werden.

Zusammenfassung

Eine Pagode und ein Bergrutsch

Herr Geiser, ein alter, einsamer Witwer, versucht vergeblich, Knäckebrot zu einer Pagode aufzutürmen, während es draußen unaufhörlich regnet. Ein Bergrutsch hat das kleine Tessiner Dorf im engen Tal von der Umwelt abgeschnitten. Oder war es vielleicht gar kein Bergrutsch, ist nur die Stützmauer eingefallen? Jedenfalls verkehrt der Bus nicht mehr, und der Strom fällt auch aus. Der Frau auf der Post ist das egal, missmutig wie immer geht sie ihrer Arbeit nach. Dass irgendwann der ganze Berg ins Rutschen geraten und das Dorf verschütten könnte, daran will hier niemand glauben. Herr Geiser kann nichts tun als lesen. Was ihm besonders wissenswert erscheint – von der Beschreibung verschiedener Donnertypen über Bibelzitate bis hin zu Vorratslisten und Auszügen aus Wanderführern, in denen Geologie und Geschichte des Tessins erörtert werden – notiert er sich, oder er schneidet die entsprechenden Passagen aus. Die Zettel heftet er mit Reißnägeln an die Wände, was seiner verstorbenen Frau Elsbeth sicher nicht gefallen hätte.

Eine ganz gewöhnliche Katastrophe

Auch in Herrn Geisers Garten ist die Erde etwas ins Rutschen geraten. Eine kleine Steinmauer ist eingestürzt, Geröll liegt auf dem Salat, und in den Tomaten hängen Fladen von Lehm. Das Dorf ist nicht völlig von der Außenwelt abgeschnitten, immerhin kommen Motorräder noch durch. Was man allerdings nicht mehr hört, sind die laut rumpelnden Lastwagen, die mit Platten und Quadern von Granit ins Tal donnern. Herr Geiser geht mit bloßen Händen gegen das Chaos in seinem Garten an, versucht, Aufräumarbeit zu leisten, aber es hat keinen Sinn bei diesem Wetter. Bergstürze, Hochwasser, Lawinen u. Ä. gab es hier auch schon im 16., 17., 18. und 19. Jahrhundert, liest er. Die Menschen ließen sich von solchen Katastrophen nicht vom Wiederaufbau abhalten. Für alle Fälle hat Herr Geiser einen Rucksack gepackt, sodass er das Tal verlassen könnte, wenn tatsächlich etwas Schlimmes angekündigt werden sollte.

Die anderen

Herr Geiser hat sich nach seiner Pensionierung im Tal niedergelassen mit der Begründung, alt werde man überall. Nun muss er plötzlich ohne Strom und heißes Wasser leben. Solche Unannehmlichkeiten hätte er in einer kleinen Basler Wohnung nicht.

„Es müsste möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot, nichts zu denken und keinen Donner zu hören, keinen Regen, kein Plätschern aus der Traufe, kein Gurgeln ums Haus.“ (S. 9)

Die Bevölkerung im Tal ist katholisch. Früher lebte man hier von der Strohflechterei – Heimindustrie mit Kinderarbeit –, bis japanische Billigwaren den Markt überschwemmten. Herr Geiser pflegt kaum Kontakt zu den Dorfbewohnern, er spricht die Sprache nicht gut und wird als Zugezogener ohnehin nicht richtig akzeptiert. „Il Professore die Basilea“ nennen ihn die Dörfler, weil er stets eine Krawatte trägt, wenn er aus dem Haus geht. Die Kluft zwischen Städter und Dorfbewohner scheint unüberbrückbar. Gelegentliche Besuche eines deutschen Sommergastes – eines Professors für Astronomie – stören Herrn Geiser eher, wenngleich er zugeben muss, dass man erst durch die Kommunikation mit anderen erkennt, dass man noch nicht verrückt ist. Aber da bei diesem Wetter sowieso niemand vorbeikommt, studiert er weiter seine Lexika, insbesondere die Einträge zu den Dinosauriern. Unentwegt macht sich Herr Geiser Notizen über Gelesenes und Beobachtetes, denn seinem Gedächtnis misstraut er zunehmend. Alles Wissenswerte wird ausgeschnitten, aufgeschrieben, aufgehängt.

Die Welt gerät aus den Fugen

Wegen des Stromausfalls kann Herr Geiser die Suppe nicht mehr aufwärmen, die Lebensmittel im Kühlschrank beginnen zu riechen. Auch der Boiler ist ausgefallen. Herr Geiser hat kein warmes Wasser mehr und ist auf den Holzofen angewiesen. Die Packungen aus der Tiefkühltruhe sind grünlich und rötlich verfärbt, das Fleisch ist warm und schlapp, die Turmuhr hat aufgehört zu schlagen. Doch als sich Herr Geiser im Dorf umhört, merkt er, dass die Bewohner zuversichtlich sind. Sie erzählen ihm, dass der Berg gewiss nicht abrutschen werde, dass der Regen ja irgendwann mal aufhören müsse. Die Lebensmittel im Dorfladen werden immer knapper, doch glücklicherweise gibt es noch für jeden eine Schachtel Streichhölzer.

„Herr Geiser braucht im Augenblick keinen Goldenen Schnitt, aber Wissen beruhigt.“ (S. 20)

Nachdem Herr Geiser sich vergewissert hat, dass alles „normal“ ist, kehrt er wieder zurück in sein Haus. Und gelangt zu der Selbsterkenntnis, dass man verblödet, wenn man alt und allein ist. Immerhin stellt er zufrieden fest: So weit, dass er mit der Katze redet, ist er noch nicht. Dann fällt auch noch der Fernseher aus, und mit ihm das einzige Programm, „Televisione Svizzera Italiana“. Nun ist Herr Geiser komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Sicher: Er fand die Fernsehnachrichten ohnehin dumpf. Aber zumindest zeigten sie ihm, dass sich die Welt da draußen weiterdreht. Jetzt flüchtet er sich ganz in seine Bücherwelt. Für alle Fälle aber bringt er einen Zettel an der Tür an mit der Mitteilung, dass er zu Hause sei, denn die Türklingel funktioniert auch nicht mehr. Heißt es „Sono in casa“ oder „Sono a casa“? Elsbeth hätte das gewusst.

Die flatternde Zettelwand

Irgendwann wird Herrn Geiser klar, dass die Wände über kurz oder lang voll sein werden. Die Zettel dürfen ja auch nicht zu tief oder zu hoch gehängt werden, sonst müsste er auf einen Stuhl steigen oder in die Hocke gehen, um sie lesen zu können. Es ist schwer, die Übersicht über all die Notizen zu bewahren, zumal die Zettel nicht richtig haften: Sie rollen sich bei der hohen Luftfeuchtigkeit ein und werden zu einem raschelnden Blätterwald, wenn Herr Geiser einmal die Fenster zum Durchlüften öffnet. Das ist keine Wohnstube mehr, stellt er nüchtern fest. Um Fläche für mehr Notizen zu gewinnen, muss auch das Bildnis seiner Frau den Zetteln Platz machen, es wird abhängt und verschwindet hinter einem Schrank. Später entdeckt Herr Geiser die Vorzüge des Klebebands. Endlich flattert bei offenen Fenstern nichts mehr. Plötzlich glaubt er, einen Riss im Küchenboden entdeckt zu haben. Zum Glück entpuppt sich dieser als Bindfaden. Ein Riss, wenn auch nur ein ganz feiner, wäre beängstigend: Es würde bedeuten, dass das Haus dem Druck des durchnässten Hanges nicht mehr standhält.

Langsame Erosion

Erosion, lernt Herr Geiser, ist ein langsamer Prozess. Gletscher sind seit Jahrhunderten auf dem Rückzug, das Land ringsum wirkt ausgestorben, allenthalben trifft er bei seinen seltenen Spaziergängen auf verlassene Gehöfte, ausgetrocknete Brunnen und Ruinen. Hinten im Tal stehen italienische Grenzwächter, deren Aufgabe es einst war, gegen den Schmuggel vorzugehen, doch der lohnt sich längst nicht mehr. Seltsam war das Verhalten der Spechte vor ein paar Jahren: Plötzlich klopften sie nicht mehr an Baumstämme, sondern ans Fensterglas. Immer mehr Spechte kamen, sie wurden zur Plage und ließen sich kaum verscheuchen. Im Sommer darauf hatten sie dieses Verhalten wieder vergessen.

„Im → Pleistozän erscheint nach bisheriger Auffassung der Mensch (Altsteinzeit); die erdgeschichtl. Gegenwart spielt sich im → Holozän ab.“ (S. 28)

Der Gemeindesekretär weiß zu berichten, dass es hinten im Tal tatsächlich Erdrutsche gegeben hat: Der Bach hat seinen Lauf geändert, der ganze Birkenwald ist weg, die Brücke wurde fortgerissen, die Straße ist weggeschwemmt, das Sägewerk zu einem Drittel eingestürzt. Und er erzählt von einer wüsten Schneise, nichts als nackter Fels.

Der Strom ist wieder da

Auf einmal ist der Strom wieder da. Die aufgewärmte Suppe aber hat etwas Säuerliches. Überall bemerkt Herr Geiser plötzlich Spinnweben. Doch er hat keine Leiter, um an sie ranzukommen, und weiß sich anderswie nicht zu helfen. Überhaupt wird er immer vergesslicher: Warum hat er am Nachmittag einen Hut auf dem Kopf? Was sucht er doch gleich im Keller? Kaum hält er die Zange in der Hand, weiß er schon nicht mehr, wozu er sie braucht. Und wenn er dann einen krummen Nagel in der Wand sieht, erinnert er sich nicht mehr daran, wohin er die Zange gelegt hat. Alles geht kaputt: das Thermometer, die Schere, die Lesebrille. Amphibien nisten sich ein, ein regloser Feuersalamander liegt in der Badewanne. Immerhin hat Herr Geiser eine Idee wegen der Spinnweben: Er montiert den Handlauf des Treppengeländers ab und befestigt einen kleinen Besen daran.

Abgebrochene Flucht

Zwar schlägt die Turmuhr wieder die Stunden, doch die Zeiger von Herrn Geisers Armbanduhr bewegen sich kaum noch. An der Fensterscheibe beobachtet er die langsam herabfließenden Tropfen. Daran erkennt er, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist – was ja auch gar nicht sein könnte, schließlich hat es dies in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Herrn Geisers Wahrnehmung ist aufs Äußerste geschärft, er hört die kleinsten Geräusche, die eigenen Schritte, den eigenen Herzschlag. Er ist auf der Hut, und alles Nötige ist im Rucksack verpackt. Die ersten Anzeichen seiner zunehmenden Verwirrung sind ihm durchaus bewusst. Er kann verstehen, dass jemand auf einen Stuhl steigt, seine Hosenträger an einem Dachbalken festmacht und sich erhängt. Eines Morgens schließlich nimmt er sein Gepäck und macht sich auf den Weg aus dem Tal.

„Vornherum sind sie freundlich und danken für das Fleisch, im Grund halten sie jeden, der nicht in ihrem Tal geboren ist, für reich oder für einen Spinner.“ (S. 33)

Zunächst ist die Wanderung angenehm. Hauptsache, es geht aufwärts und man setzt einen Fuß gleichmäßig vor den anderen, denkt Herr Geiser. Der Sturz über einen Wurzelstock hält ihn nicht auf, ja er holt nicht einmal das Verbandszeug aus seinem Rucksack. Im Gehen gerinnt das Denken zum Nichts. Ungefährlich ist dieser Weg nicht, das weiß er. Erst vor einem Jahr hat ein junges Paar den Pfad verloren und ist umgekommen. Dennoch weicht er einmal von der markierten Route ab und will einen Blick hinunter ins Tal werfen. Aber er findet keinen Ausblick. Der Weg wird immer gefährlicher. Auf allen Vieren kraxelt er durchs Dickicht und befindet sich plötzlich vor einer Felswand. Nur mit Glück gelingt ihm die Rückkehr auf den sicheren Pfad. Er erreicht die Passhöhe und beginnt den Abstieg ins Maggiatal. Alles gehört der Vergangenheit an. Auch das Haus, in dem er lebt, steht jetzt in einem anderen Tal, es ist nicht mehr länger Teil der Gegenwart. Bei einem Bildstock weit unterhalb der Passhöhe rastet er und schläft ein. Wieder aufgewacht, fragt er sich, was er überhaupt in Basel soll, dem ursprünglichen Fernziel seiner Wanderung. Obwohl er schon die Kirchglocke von Aurigeno hört, von wo der Bus nach Locarno fährt, und obwohl er Schmerzen in den Waden verspürt, kehrt Herr Geiser um. Abends um sieben steht er wieder auf der Passhöhe. Es wird dunkel, ein Vorwärtskommen ist nur noch mit Taschenlampe möglich. Herr Geiser legt keine Pause ein, er weiß, dass er danach nicht mehr wieder aufstehen könnte. Wie soll er im Dunkeln durch den reißenden Gebirgsbach kommen? Er sucht Steine, um draufzustehen, findet aber keine. Schließlich watet er durch das eiskalte Wasser.

Letzte Erinnerungen

Nach Mitternacht erreicht Herr Geiser endlich sein Haus. Niemand soll von seinem Ausflug erfahren. Sein Denken wird immer sprunghafter, seine Auseinandersetzung mit den ausgestorbenen Dinosauriern immer manischer. Er stellt fest, dass sich auf den Rückseiten der ausgeschnittenen Lexikonpassagen vielleicht ebenso wichtige Informationen befinden würden, die jetzt für die Zettelwand unbrauchbar geworden sind. Dann fragt er sich, was seine Wissensanhäufung überhaupt soll. Klar ist: Die Saurier brauchen ihn nicht. Es ist ihnen – wie allen Dingen, die Herr Geiser nicht vergessen will – egal, ob sich jemand an sie erinnert.

„Es bleibt nichts als Lesen.“ (S. 38)

Einmal findet sich Herr Geiser auf dem Boden liegend wieder, neben ihm sein Hut. Offenbar ist er gestürzt, ein Stuhl ist umgefallen, aber er hat keine Schramme. Sein linkes Augenlid aber und sein Mundwinkel sind gelähmt. Herr Geiser schließt die Fensterläden, nimmt den Hörer des hartnäckig läutenden Telefons nicht ab, öffnet auch nicht die Tür. Was könnte er seiner Tochter oder seinem Schwiegersohn, der doch immer alles besser weiß, schon berichten? Die Vorräte werden knapper. Herr Geiser brät seine Katze im Kamin, kann sie aber nicht essen. Am Tag darauf mag er auch keine Suppe mehr – es hat Speck darin.

„Das Bildnis von Elsbeth (Öl) von der Wand zu nehmen, um Platz zu haben für weitere Zettel, hat Herr Geiser bis heute gezögert. Es ist aber nicht anders zu machen.“ (S. 53)

Dann steht plötzlich seine Tochter Corinne vor ihm. Er erzählt ihr von seiner Matterhornbesteigung mit seinem ältesten Bruder, die Jahrzehnte zurückliegt. Corinne aber will von der Vergangenheit nichts wissen, sie interessiert sich für die Gegenwart: Warum schließt sich der Vater ein? Warum meldet er sich nicht? Wozu die vielen Zettel an den Wänden? Wozu der Hut? Er hingegen möchte wissen, warum sie mit ihm wie mit einem kleinen Kind redet? Die letzten Lexikonstichworte, die ihn interessieren, sind: „Erosion“, „Eschatologie“, „Kastanienkrebs“, „kohärent“ und „Schlaganfall“. Dann wechselt das Wetter, es wird schön und warm. Was im Dorf zerstört worden ist, wird wieder aufgebaut. Das Leben im Tal geht weiter.

Zum Text

Aufbau und Stil

Max Frisch erzählt die Geschichte aus der Sicht des Protagonisten Herr Geiser (ohne Vornamen), häufig in erlebter Rede. Dazwischen sind zahllose lexikalische Einträge, Bibelzitate und eigenhändige Notizen eingestreut, abgedruckt in der Originaltypografie, als wären sie ins Buch geklebt. Der Text erhält so den Anstrich eines authentischen Dokuments, was ihn umso rührender macht. All diese Ausschnitte gaukeln Ordnung vor, wo sich jemand im wahrsten Sinne des Wortes verzettelt. Die Fülle von Mitteilungen kaschiert die Mitteilungsverweigerung von Herrn Geiser; trotz unzähliger Informationen erfährt man nichts wirklich Wesentliches über ihn, Biografisches wird in Nebensätze verbannt. Zahlreiche Leerzeilen im Text führen vor Augen, dass Geisers Denken nicht fließend, sondern sprunghaft und assoziativ verläuft. Sie markieren Pausen in dem ansonsten ungegliederten Text und geben Frischs karger, extrem verdichteter Prosa ihren Rhythmus. Der Collagestil erlaubt es dem Autor außerdem, Außen- und Innenwelt geschickt zu montieren: So kündigt sich die Wetterkatastrophe parallel zu Herrn Geisers Gedächtnisverlust an und symbolisiert seine Ängste: Risse, Erdrutsche und Tropfen an der Fensterscheibe stehen auch für eine innere Welt, die auseinanderbricht und zerrinnt.

Interpretationsansätze

  • Die Selbstvergewisserung des Individuums ist eines der Hauptthemen in Max Frischs Werk. So versucht auch Herr Geiser sich durch die unentwegte Überprüfung seines Gedächtnisses zu beweisen, dass er noch existiert und, wie er einmal sagt, kein Lurch ist.
  • Angesichts des Alters der Erde erscheint die Gattung Mensch als unbedeutend: Sie taucht erst im Holozän auf, der jüngsten Epoche der Erdgeschichte (beginnend vor etwa 12 000 Jahren), und es ist fraglich, ob sie auch nur annähernd so lange noch Bestand haben wird.
  • Herrn Geisers Zettelarchiv zeigt: Die Anhäufung von Informationen, selbst bei strenger Selektion, führt nicht notwendig zu Erkenntnisgewinn. Oder höchstens zu dem, dass alles Sammeln und Einordnen letztlich vergeblich ist, wie Herr Geiser zum Schluss ahnt.
  • Frisch zeigt das Außen im Innen und umgekehrt. Die Umweltkatastrophe hat ebenso Einfluss auf Herrn Geisers Gemütszustand, wie sich dieser in ihr spiegelt. Beschrieben wird eine doppelte Erosion: Während der Berghang wegbricht, geraten auch Geisers Gewissheiten ins Rutschen, und sein Verstand zerbröckelt in zusammenhanglose Wissenshäppchen.
  • Die Natur selbst ist wesenlos, sie kennt keine Katastrophen und kümmert sich nicht um ihre Geschichte. Der Mensch ist es, der diese erfindet, denn ohne eine Geschichte der Natur gäbe es keine Weiterentwicklung und das menschliche Leben hätte keinen Sinn.
  • In Herrn Geiser wird das prekäre Verhältnis des Menschen zur Natur deutlich: Keine große Naturkatastrophe, sondern ein kleiner Bergsturz reicht aus, ihn auf sich selbst zurückzuwerfen.

Historischer Hintergrund

Diffamierung von Intellektuellen in den 70er Jahren

Die Erschütterung bürgerlicher Werte prägte das gesellschaftliche Klima der 70er Jahre, auch wenn der Enthusiasmus des Jahres 1968 bereits stark nachgelassen hatte. Ein Großteil der Jugendbewegten hatte bereits aufgegeben, ein anderer trat den Gang durch die Institutionen an. Die linke Aufbruchstimmung wich der Resignation. Einige ließen sich von der anscheinenden Unveränderbarkeit der Verhältnisse sogar in die Arme des Terrorismus treiben. Nur so schien es ihnen möglich, dem System Änderungen abzuringen. Der Staat wiederum reagierte mit Repressionen.

Gleichzeitig erlebte die Wirtschaft Zentraleuropas zum ersten Mal seit dem Aufschwung der Nachkriegsjahre eine Rezession. Die bürgerlichen Gesellschaften waren verunsichert, viele Regierungen schlugen eine konservative Kehrtwende ein. Damit einher ging die Verketzerung kritischer Intellektueller vonseiten der Politiker, der sich zunehmend Feuilletonisten anschlossen. Wer es wie Max Frisch oder Niklaus Meienberg wagte, Konventionen infrage zu stellen und öffentliche Kontroversen anzustoßen – in der Schweiz etwa zu Themen wie Neutralität, Armee oder Status von Einwanderern –, wurde sehr skeptisch beobachtet oder sogar als Landesverräter verunglimpft. Die Reaktion vieler Intellektueller folgte auf dem Fuß: Sie verabschiedeten sich reihenweise aus der politischen Diskussion und wandten sich der Subjektivität und Verinnerlichung zu.

Entstehung

Max Frisch warnte nicht erst in seiner Solothurner Rede Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb (1986) vor den Folgen von Materialismus und falsch verstandenem Konservatismus. Schon 1976 zog er in seiner Ansprache anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels ein scharfes Resümee und forderte eine Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung und Kreativität höher gewertet werden als Profitstreben. Dass die Gattung Mensch willens und in der Lage sei, die Gesellschaft in diesem Sinn umzubauen, daran hegte er freilich schon damals Zweifel. In seine einstige politische Begeisterung mischten sich im Lauf der Jahre resignative Töne. Ab 1976 zeichnete sich Frischs Rückzug aus der gesellschaftlichen und literarischen Öffentlichkeit ab. In diese Zeit der allmählichen Verbitterung fiel die Arbeit an der Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän. Frisch hatte die Idee dazu schon Jahre zuvor, nur war der Text stets an der Erzählperspektive gescheitert. Doch jetzt hatte er sie gefunden – eine Collage zwischen Bewusstseinsstrom und neutraler Erzählperspektive. In einem Brief an Uwe Johnson über das Theaterstück Triptychon, an dem er zeitgleich arbeitete, skizzierte Frisch seine Arbeitsweise und nahm damit gleichsam Herrn Geisers Zettelstube vorweg: Eine lange leere Wand füllte er mittels Reißnägeln mit Notizen, damit in seinem schlechten Gedächtnis nicht alles durcheinandergeriet.

Möglicherweise war Frisch beim Schreiben auch von der sich zunehmend schwieriger gestaltenden Ehe mit Marianne Oellers beeinflusst, die im Jahr der Buchpublikation 1979 geschieden wurde. Überhaupt findet man manche Parallelen zur Erzählung in Frischs Biografie: Herr Geiser ist etwa im gleichen Alter wie der Autor es zum Zeitpunkt der Niederschrift war, Frisch litt ebenfalls unter einem hängenden Augenlid, er besaß wie Geiser ein Haus in einem Tessiner Bergdorf, und auch er ordnete dort seine Notizen, die ihm beim Schreiben als Stütze dienten. Den Wanderweg der Erzählung gibt es tatsächlich. Er führt von Max Frischs Haus in Berzona über den Garinapass hinunter ins Maggiatal (Wanderzeit ca. drei Stunden).

Wirkungsgeschichte

Ende der 70er Jahre stand Frisch zwar im Zenit seines Ruhms – ihm wurden Denkschriften geweiht, und eine sechsbändige Werkausgabe wurde vorgelegt –, doch die Jugend interessierte sich kaum noch für ihn, der schon zu Lebzeiten als moderner Klassiker galt. Bei der Literaturkritik stieß die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän auf unterschiedliche Resonanz. Von einem „verzweifelten Endzeitbild“ war ebenso die Rede wie von einem Kulminationspunkt in Frischs Werk. Die Schweizer Germanistin Beatrice von Matt attestierte ihm, einen neuen Mythos kreiert zu haben, der aus einer abgewirtschafteten und lebensfeindlichen Umwelt heraus entstanden sei. Eher kritisch äußerten sich einige andere Rezensenten, die Mühe hatten mit dem alterstrübsinnigen, regengrauen Buch, so auch Marcel Reich-Ranicki, der die Erzählung für mühselig präpariert hielt und dennoch Frisch insgesamt zugestand: „So konnten und können wir in seinem Werk (...) finden, was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber.“ In einem Interview kurz vor seinem Tod bezeichnete Frisch Der Mensch erscheint im Holozän als sein „gelungenstes“ und „vollkommenstes“ Buch.

1992 wurde die Erzählung von Heinz Bütler und Manfred Eicher fürs Schweizer Fernsehen verfilmt. Stephan Roppel bearbeitete das Buch 2002 für das Theater im Kornhaus Baden.

Über den Autor

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 als Sohn eines Architekten in Zürich geboren. Nach dem Gymnasium beginnt er ein Germanistikstudium, bricht es 1934 ab, arbeitet als freier Journalist, u. a. als Sportreporter in Prag, und verfasst Reiseberichte. Er ist vier Jahre mit einer jüdischen Kommilitonin liiert, die er heiraten will, um sie vor Verfolgung zu schützen, sie lehnt jedoch ab. Ab 1936 studiert er in Zürich Architektur, 1940 macht er sein Diplom. Ein Jahr später gründet er ein Architekturbüro und arbeitet gleichzeitig als Schriftsteller. Er heiratet 1942 seine ehemalige Studienkollegin Gertrud (Trudy) Constance von Meyenburg, mit der er drei Kinder hat. 1951 hält sich Frisch für ein Jahr in den USA und in Mexiko auf. 1954 erscheint sein erster Roman: Stiller. Das Buch ist so erfolgreich, dass Frisch sich nun ganz der Schriftstellerei widmen kann. 1955 löst er sein Architekturbüro auf und bereist die USA, Mexiko, Kuba und Arabien. 1958 erhält er den Georg-Büchner-Preis und den Literaturpreis der Stadt Zürich, ein Jahr später wird seine erste Ehe geschieden. 1960 zieht Frisch nach Rom, wo er fünf Jahre lang mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammenlebt – und die 23-jährige Studentin Marianne Oellers kennen lernt. 1961 wird das Theaterstück Andorra uraufgeführt, ein Gleichnis über die fatale Wirkung von Vorurteilen. 1964 erscheint der Roman Mein Name sei Gantenbein. Im Folgejahr übersiedelt Frisch zurück ins Tessin in die Schweiz. 1966 und 1968 unternimmt er größere Reisen in die UdSSR, 1970 folgt wieder ein längerer USA-Aufenthalt. Inzwischen hat er Marianne Oellers, mit der er jahrelang zusammengelebt hat, geheiratet. 1975 veröffentlicht Frisch die autobiografisch gefärbte Erzählung Montauk. Schweizkritische Schriften wie Wilhelm Tell für die Schule (1971) führen in seiner Heimat zu Widerspruch, in Deutschland findet er mehr Anerkennung. 1976 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich an Krebs.

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