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Der Namenlose

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Der Namenlose

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Gedanken- und Redestrom, frei schwebend im Nichts – sehr abstrakte Literatur.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Gedankenstrom im luftleeren Raum

Der Namenlose gilt manchen als Becketts persönlichstes Werk. Persönlich? Beckett? Das scheint nicht zusammenzugehen. Schon gar nicht, wenn man Der Namenlose als Beweisstück zulässt: diesen im luftleeren Raum zerfließenden, auf nichts und wieder nichts hinauslaufenden Gedankenstrom. Derjenige, der ihn hervorbringt, der Namenlose, qualifiziert sich gewiss nicht als Person, er lässt sich überhaupt nicht gegen die von ihm erdachten Figuren abgrenzen und scheint nicht Teil einer objektiven Welt zu sein. Und als Alter Ego des Autors lässt er sich auch nicht so einfach identifizieren. Allzu hermetisch kommt das Ganze daher; Der Namenlose steht sozusagen mit dem Rücken zu uns, nicht an uns interessiert, den forschenden Blick in ein sinnloses Dunkel gerichtet. Als Leser hat man die Wahl: Entweder, man wendet sich verärgert ab – oder man stellt sich eben zu ihm, egal, ob es sich jetzt um Beckett handelt oder einfach um den Menschen an sich. Diesen zu beschreiben, war wohl das persönlichste Anliegen des Autors.

Take-aways

  • Der Namenlose ist der dritte Teil von Samuel Becketts Romantrilogie.//
  • Inhalt: Ein namenloser Erzähler, dessen Identität nicht klar wird, hält einen langen, unzusammenhängenden Monolog, in dessen Verlauf er alles Gesagte gleich wieder hinterfragt und verwirft, bis nichts als die Sprache übrig bleibt.
  • In Der Namenlose kleidet Beckett philosophische Themen in Alltagssprache.
  • //Dem Leser wird der Boden unter den Füßen weggezogen: So etwas wie formale Konstruktion, Entwicklung oder Gliederung sucht er vergeblich.
  • Der Roman zeigt den modernen Menschen am Ende des Holzweges, den er mit Descartes und seinem „Ich denke, also bin ich“ beschritten hat.
  • Der Ire Beckett verfasste Der Namenlose nicht in seiner englischen Muttersprache, sondern auf Französisch.
  • Als Inspirationsquelle dienten ihm u. a. die Lehren des Schweizer Psychologen C. G. Jung.
  • Während der deutschen Besatzung schloss sich Beckett einer Zelle des französischen Widerstands an.
  • 1969 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen.
  • Zitat: „Die Dinge, die ich sage, die ich sagen werde, wenn ich kann, sind nicht mehr, oder noch nicht, oder waren nie, oder werden nie sein, oder, wenn sie waren, oder, wenn sie sind, oder, wenn sie sein werden, so waren sie nicht hier, sind nicht hier, werden nicht hier sein, sondern woanders.“

Zusammenfassung

Ein Anfang?

Der Erzähler ringt mit der Schwierigkeit, einen Anfang zu finden. Er redet, weil er nicht schweigen kann. Schweigen, um zu lauschen schon – aber das zählt nicht; wenn er „Schweigen“ sagt, meint er ein existenzielles, finales, erlösendes Schweigen, das ein evtl. bevorstehendes Ende bezeichnet. Zu diesem Ende zieht es den Namenlosen. Doch es muss ja vorangehen. Es ist von einem zukünftigen Anfang die Rede. Da wird der Namenlose allein sein. Wo befindet er sich? An einem seltsamen Ort, zeitlos, raumlos, abstrakt. Er sieht Malone an sich vorüberziehen. Der eine mag des anderen Geschöpf sein, oder auch andersherum, oder auch nicht. Es ist unklar, wer um wen kreist. Der Namenlose erkennt Malone an seinem Hut. Dennoch ist er sich nicht sicher; es könnte auch jemand anderes sein, etwa Molloy, der Malones Hut trägt. Malones Vorüberziehen wiederholt sich periodisch. Er zeigt sich dem Namenlosen stets im Profil und nur als Oberkörper. Der Namenlose wird ihn ansprechen. Irgendwann. Er weiß aber nicht, mit welchen Worten. Letztlich ist Malone von gestern, irgendwie unergiebig. Obwohl der Namenlose nichts fühlt, weint er. Grundlos.

Ein Ort?

Der Namenlose erörtert seine Umgebung und seine Position darin. Die räumlichen Abmessungen sind unklar. Es herrscht eine Art Grau, das in der Nähe etwas heller ist, in der Ferne dagegen dunkler und wohl auch dichter. Alles ist recht ordentlich – bis auf jene schwachen, unregelmäßigen Lichter, die sich nicht in die Ordnung fügen. Ist der Raum gefüllt? Ist er leer? Um das herauszufinden, bräuchte man einen Stock. Einen Stock aber gibt es hier nicht. Immerhin ist es nicht vollkommen still, ein unbestimmtes Geräusch ertönt von irgendwo. Der Namenlose nimmt an, dass er aufrecht sitzt, etwas erhöht, die Knie angewinkelt, der Blick geradeaus. Er ist wohl mehr oder weniger unbekleidet, was er daraus schließt, dass er das Fließen seiner Tränen am ganzen Körper spürt. Haare hat er keine. Auch kein Gesicht. Und kein Geschlechtsteil. Lediglich Augenhöhlen. Der Einfachheit halber geht er davon aus, dass er sich im Mittelpunkt seiner räumlichen Umgebung befindet. Diese ist vermutlich durch ein Bollwerk begrenzt. Der Namenlose hat schon immer hier gesessen. Aber das ist nicht gewiss. Vermutlich sind er und der Ort, an dem er sich befindet, zugleich und füreinander entstanden.

Ereignisse?

Aus der Stille klingt ein Schrei. Wer hat geschrien? Das bleibt ungeklärt. Ebenfalls zum Grübeln veranlasst den Namenlosen ein anderes Ereignis: Genau in seinem Blickfeld (er kann den Kopf nicht drehen, sieht immer nur, was direkt vor ihm ist) stoßen zwei längliche Gestalten aufeinander und verschwinden anschließend. Vermutlich handelt es sich hierbei um einen regelmäßig wiederkehrenden Vorgang; beim nächsten Mal will der Namenlose besser achtgeben.

„Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben. So was Fragen, Hypothesen zu nennen. Fortschreiten, so was Schreiten zu nennen, so was fort zu nennen.“ (S. 7)

Jetzt erörtert er sein Verhältnis zu jenen Stellvertretern, die statt seiner in der Menschenwelt gelebt haben oder noch leben. Ihnen meint er das Wenige zu verdanken, was er über die Menschen weiß. Wie die Information von ihnen zu ihm gelangt ist? Darüber kann er nur spekulieren. Einer dieser Stellvertreter, Basilius, war ihm besonders unangenehm. Doch da, wo der Namenlose sich jetzt befindet, ist er vor ihnen allen sicher. Dann tritt noch ein Anderer auf, einer mit kaputtem Hut. Er kommt mit hängenden Schultern auf den Namenlosen zu und geht dann rückwärts wieder weg. Wohl auch nicht zum ersten Mal. Der Namenlose sinniert über die Regelmäßigkeit hinter all diesen Erscheinungen. Ohne Ergebnis. Er ist seine Kreaturen leid, bereut, dass er Malone, Molloy, Murphy und andere in die Welt gesetzt hat. Am liebsten wäre er sie alle los. Dann stellt er fest, dass er ja alles nur erfunden hat. Einzig er selbst existiert, und jenes Schwarz. Entsprechend zweifelhaft und substanzlos ist seine Welt, sein Reden. Vieles ist nur so dahingesagt. Sein Reden ist ihm nicht geheuer. Es produziert Unterscheidungen ohne Wirklichkeit. Wie sehr wünscht er sich das Schweigen! Ein Ende. Er nimmt sich vor, keine Fragen mehr zu stellen. Indes, er hält sich nicht im Mindesten an sein Vorhaben. Außerdem bemerkt der Namenlose: Er spricht nicht mit eigener Stimme.

Eine Geschichte?

Jener ärgerliche Basilius ist nicht mehr. Der Namenlose nennt ihn nun Mahood. Von ihm erfährt er Geschichten über sich selbst. Außerdem kommt der Meister ins Spiel, dessen Identität auch unklar ist. Jedenfalls herrscht er über den Namenlosen, hat ihm eine Strafarbeit aufgegeben. Wofür? Der Namenlose meint, für eine nicht gelernte Lektion, widerruft dies aber kurz darauf: Alles nur erfunden! Mahood ist der aktuelle Stellvertreter in einer langen Reihe. Nach ihm werden andere kommen. Er hat nur einen Fuß, sein Nachfolger wird noch stärker verkrüppelt sein. Mahood und der Namenlose hegen widersprüchliche Ansichten: Mahood meint, er und der Namenlose seien ein und derselbe; der Namenlose hält sich für verschieden von Mahood, obwohl er zugibt, vielleicht einmal Mahood gewesen zu sein oder sich zumindest für Mahood gehalten zu haben.

„Ich bin, seit ich bin, hier, da meine Auftritte anderswo von Dritten bestritten wurden.“ (S. 10)

Als solcher hat er die Welt bereist. Bei seiner Rückkehr landete er in einem von Mauern umschlossenen Hof, in dessen Mitte ein rundes, fensterloses Gebäude stand. Darin hausten die Eltern des Namenlosen, seine Frau und seine Kinder. Ganz zu ihnen zurückzukehren, gelang ihm nicht; stattdessen wanderte er durch den Hof. Es verging einige Zeit. Die Verwandten beobachteten ihn, wie er draußen seine Kreise zog. Im Dunkeln verfolgten sie seinen Kurs mit Scheinwerfern; sie verließen ihr Gemäuer jedoch nicht. Immerhin waren sie sich einig, dass der Namenlose ein schönes Baby gewesen war. Abends, vor dem Schlafengehen, sangen sie Hymnen. Laut Mahood sind sie irgendwann gegen Ende der Geschichte gestorben. Von ihren Todesschreien und ihrem Verwesungsgeruch abgestoßen, sei der Namenlose umgekehrt. Der Namenlose zweifelt diese Version der Geschichte an. Wie es aber wirklich war, vermag auch er nicht zu sagen. Immerhin: Nach dem Tod der Seinen hat er das Gebäude betreten und seine Wanderschaft darin und auf den toten Körpern fortgesetzt, wobei deren matschige Konsistenz ihm das Gehen etwas erschwerte.

In der Rue Brancion

Sogleich widerruft der Namenlose die Erzählung: In Wirklichkeit ist er nie woanders gewesen. Was als seine Vergangenheit dargestellt wurde, ist bloße Erfindung. Als Urheber dieses Trugs kommen „sie“ ins Spiel. Wer sind „sie“? „Sie“ eben. Was tun „sie“? „Sie“ setzen dem Namenlosen zu, lassen ihm keine Ruhe. „Sie“ zwingen ihn zur Sprache. Ihre Sprache ist alles, was der Namenlose hat. Er hört permanent ihre Stimmen. Für seine Lage sind „sie“ verantwortlich. Der Ort, den der Namenlose nie verlassen hat, befindet sich auf einer Insel. Einst hat er sich dort umherbewegt, fristet aber nun ein bewegungsloses Dasein. Er besteht nur noch aus Kopf und Rumpf. Sein Aufenthalt ist ein Gefäß am Rande der Rue Brancion. In Hörweite befindet sich ein Schlachthof. Der Schädel des Namenlosen ist voller Pusteln; Schmeißfliegen nähren sich von ihm. Marguerite, die Wirtin des gegenüberliegenden Lokals, bemuttert den Namenlosen. Einmal täglich leert und säubert sie seinen Behälter; ab und zu füttert sie ihn. Wenn es heftig schneit, bedeckt sie ihn mit einer Plane. Zudem hat sie eine Art Altar gebaut, das Gefäß mit dem Namenlosen auf einen Sockel gestellt und es mit Lampions geschmückt. Am Sockel hängt die Speisekarte. Leute kommen und beugen sich herab, um zu lesen, was es zu essen gibt. Eines Tages beginnt der Namenlose zu schrumpfen. Das erzürnt Marguerite. Sie füllt den Boden des Gefäßes mit Sägemehl, sodass der Größenverlust ausgeglichen wird. Manchmal neckt der Namenlose die Wirtin, indem er sich in seinem Gefäß versteckt. Er weiß: Wenn Marguerite aus dem Fenster nach ihm schaut und ihn nicht erblickt, kommt sie herausgerannt. Sobald sie das tut, schnellt er plötzlich mit dem Kopf vor, um sie zu erschrecken. Zur Strafe wird ihm eine Art Halseisen angelegt. Jetzt fängt er Fliegen mit dem Mund.

Mahood wird Worm

„Sie“ wollen den Namenlosen zu einem von ihnen machen. Dieser Prozess erscheint einmal als Geburt, einmal als Tod. Der Namenlose ist ihnen ausgeliefert, nur durch Dummheit, Begriffsstutzigkeit und Illusionslosigkeit widersteht er ihren Versuchen, ihn „ans Licht“ zu ziehen. Seine Strategie ist indes nicht einheitlich; mal wehrt er sich, indem er nicht kooperiert, mal durch Willfährigkeit. Wahre Erlösung gibt es jedoch nur im Schweigen. Und das ist fern. Vorerst reden „sie“ zu ihm, durch ihn. Der Namenlose erfährt, dass die nächste Inkarnation ins Haus steht, ein einsames Geschöpf soll es sein. Worm soll er heißen, beschließt der Namenlose, der gerade als Mahood auftritt. Allerdings gesteht er zu, dass auch er irgendwann Worm heißen wird. Der aktuelle Worm ist sprachlos, murmelt bloß vor sich hin. Marguerite, die Wirtin, ist jetzt Madeleine. Um das Nässen seiner Pusteln einzudämmen, pudert sie dem Namenlosen den Kopf. Der wundert sich derweil, warum ihn niemand außer Madeleine bemerkt; nicht einmal die Hunde nehmen Notiz von ihm, woraus er schließt, dass er keinerlei Geruch ausströmt.

„Kurzum: Ich sehe nur das, was sich genau vor mir ereignet; ich sehe nur das, was sich in meiner Nähe ereignet; das, was ich am besten sehe, sehe ich schlecht.“ (S. 15)

Irgendwie ist er nie vollständig in der Welt gewesen, „sie“ haben ihn hineingestopft. Jetzt soll er wieder hinaus, weigert sich aber. Ein richtiges Ende wäre das nicht. Ebenso wenig hat sein Dasein einen richtigen Anfang gehabt. Überhaupt: Aller Anfang, alles Ende erscheint ihm jetzt als bloßes theoretisches Konstrukt, als unsichere Ableitung aus ebenso unsicheren Voraussetzungen. Madeleine ist zunehmend verwirrt. Sie scheint den Glauben an ihn zu verlieren. Umso mehr sorgt sie für ihn. Warum aber spricht sie nie mit ihm? Der Namenlose weiß es nicht. Eines Tages bleibt Madeleine aus. Nun erleuchten keine Lampions mehr den Altar, kein Essen wird mehr gebracht. Es schneit wieder, doch er wird von keiner Plane geschützt. Allerdings ist ihm ohnehin alle Empfindung seiner Umgebung abhandengekommen. Er beschließt, sich in Geduld zu üben. Sein Dasein in jenem Gefäß ist jetzt Vergangenheit.

Ausdünnung

Im Streit mit Mahood hat der Namenlose obsiegt. Mahood hat aufgegeben. Ob der Namenlose jetzt zur Ruhe kommt? Es gibt keine eindeutige Antwort. Worm wird nun doch sprechen, erfährt er. Das muss ein Trick sein, denkt er sich, mit dem er den Namenlosen glauben lassen will, er sei ein distinktes, ein von anderen verschiedenes Ich, um ihn so ins Leben zurückzustoßen. Wahrscheinlich wollen „sie“ in ihm die Illusion erwecken, er sei Urheber seiner Fragen, Worte usw. Doch er weiß: Alles ist ihm von „ihnen“ eingetrichtert worden. Und wahrscheinlich steckt Worm mit „ihnen“ unter einer Decke, ebenso Mahood. Worm hat von allen am wenigsten Wirklichkeit. Er ist wahrscheinlich ohne Empfindung und ohne Wissen. Überhaupt existiert Worm nur in Gedanken. Unmöglich kann der Namenlose mit so einem Frischling identisch sein. Was ihn indes von Worm unterscheidet, weiß er auch nicht. Vielleicht ist er einstmals mit Worm identisch gewesen und erst später in „ihre“ Macht geraten. Was wollen „sie“ eigentlich? Das bleibt unklar. Hin und wieder verstummen „sie“, scheinen sich flüsternd über ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Der Namenlose legt jetzt sein Ich ab, spricht von sich in der dritten Person. Er macht sich Gedanken über Worm: Der ist „ihnen“ ausgeliefert, zu einem von „ihnen“ wollen „sie“ ihn machen. Der Namenlose überlegt: Wieso holen „sie“ Worm nicht einfach zu sich? Er weiß: Das geht nicht, sie können in der Luft, die Worm atmet, nicht überleben. Das Gleiche gilt für einen etwaigen Hund, den sie schicken könnten. Ein Hakenstock wäre die Lösung. Oder auch nicht. Die Entfernung ist doch zu groß. Worm ist ein „winziger Fleck im Abgrund“. Sein lidloses Auge weint immerfort.

Ein Ende?

Nicht nur der Namenlose ist zum Sprechen verdammt. Auch „sie“ können nicht damit aufhören. Das Sprechen verhindert, dass alles zum Erliegen kommt. Ansonsten ist das Nichts schon ziemlich vollständig: Nichts gibt es mehr zu sehen, nichts mehr, um damit zu sehen. Der Namenlose spekuliert: „Sie“ kommen, ihn zu holen; vielleicht schicken „sie“ auch einen, vielleicht einen seinesgleichen. Der könnte bei ihm bleiben. Das gefiele ihm. In der Folge müsste dann aber noch einer kommen, um den anderen zu holen. Und so müsste es weitergehen bis in alle Ewigkeit. Wie sonst? Der Namenlose wird vielleicht schreien, dann hin und wieder pausieren, um zu lauschen. Er könnte auch woanders hin, um dort zu schreien. Zwar besitzt er keinen Mund, doch der wird ihm wohl wachsen. Immer mehr gleicht er „ihnen“; so wie sie besteht auch er aus Worten. So wie alles. Er beschließt, ein Ich zu behaupten. Er wird die Suche aufgeben, nicht mehr zweifeln, nicht mehr fragen. Er wird sich ein Innen schaffen. Könnte er doch nur, wie einst, sich in Fantasien verlieren, sich in einen Wald, an ein Meeresufer denken, in seine Vergangenheit. Noch besser wäre sogar: sich nicht verlieren zu können. Jetzt verwandelt sich der Namenlose in den nächsten Stellvertreter. Mit Kopf und Augen. Er wird weitere Geschichten von Mahood erzählen. Nur noch er ist da. Nichts und niemand sonst. Worüber noch sprechen? Vielleicht ist das Schweigen nah. Aber: Er traut seinen eigenen Worten nicht, mahnt, ihnen nicht zu trauen; die kommen ja von „ihnen“. Doch er will weitermachen. Wie auch immer.

Zum Text

Aufbau und Stil

Becketts Werke wurden Ende der 1940er Jahre immer „leerer“, eine Entwicklung, die mit dem Namenlosen ihren Höhepunkt erreichte. Mit einigem Recht kann man sagen, dass dem Leser hier vollends der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wer bei dem Roman so etwas wie formale Konstruktion, Entwicklung oder Gliederung erwartet, geht leer aus und muss sich gar noch verspotten lassen, wenn er bei seiner Suche auf die von Beckett entworfenen Zerrbilder der besagten Kategorien stößt. Wo schon in Molloy und Malone stirbt die Identität des Ich-Erzählers zweifelhaft war, ist in Der Namenlose ein Urheber jenes richtungslosen Gedankenstroms, aus dem der Roman besteht, partout nicht mehr auszumachen; beinahe scheint es, als schriebe der Text sich selbst. Zwar tauchen alte Bekannte wieder auf, z. B. Molloy, Moran und Malone, dazu Figuren aus früheren Beckett-Werken, doch mit „auftauchen“ ist bereits zu viel gesagt: Die Namen fallen zwar, aber bald wird klar, dass es leere Hüllen sind.

Beckett hebt in Der Namenlose die Grundfunktionen von Sprache auf, beraubt sie nach und nach ihrer Eigenschaft, Wirklichkeit zu benennen und zu bezeichnen, auf einen Gegenstand zu verweisen. Das hört sich sehr theoretisch an, ist aber – und darin liegt Becketts Kunst – lebendig und anschaulich umgesetzt. Als Meister der geschliffenen Schlichtheit gießt der Autor philosophische Themen in anspruchslose, wenn auch manchmal recht blumige und oft sogar derbe oder vulgäre Alltagssprache. Hierin sowie in einer abgrundtiefen Absurdität wurzelt der unverwechselbare Beckett’sche Humor, von dem auch Der Namenlose reichlich durchtränkt ist.

Interpretationsansätze

  • Das zentrale Bild in Der Namenlose ist das „unvollständige Geborensein“. Der Text nimmt mehrfach direkt auf diese Idee Bezug, und sämtliche Figuren scheinen auf halbem Weg ins Leben stecken geblieben zu sein. Damit verarbeitete Beckett eine Anregung des Schweizer Psychologen C. G. Jung, dessen Vorlesung am Londoner Tavistock-Krankenhaus er gehört hatte.
  • In Der Namenlose treibt Beckett die Verirrung des modernen, „kartesianischen“ Menschen ins Extrem. Die letztlich auf den Philosophen René Descartes zurückgehende Herauslösung des denkenden Subjekts aus der objektiven Welt eben durch sein Denken führt hier zur vollkommenen Isolation der Figuren: Der Namenlose ist ein Torso in einem Gefäß, schwebt einsam im Abgrund, kann nicht zu den Seinen gelangen usw.
  • Aus dieser Isolation versuchen die Figuren in Becketts Trilogie zu einer Art vorgeburtlichem Urgrund alles Seins zurückzukehren. Der Namenlose ist auf diesem Weg am weitesten fortgeschritten: Nur die Sprache steht noch zwischen ihm und dem großen Schweigen, ihrer muss er sich entkleiden.
  • Das Geborenwerden ist der Anfang der menschlichen Tragödie: Wie schon die Ich-Erzähler in Molloy und Malone stirbt flucht auch der Namenlose auf alles, was mit Zeugung und Geburt zu tun hat: Geschlechtsorgane, Gebärmutter, Sex, Liebe, Frauen.

Historischer Hintergrund

Eine veränderte Welt

Samuel Beckett schrieb seine Romantrilogie im Nachkriegsparis, inmitten von Armut und moralischer Ernüchterung. Die europäische Zivilisation war eben zum zweiten Mal von der Geschwindigkeit ihres Fortschritts aus der Kurve geworfen worden. Zwei gewaltige Kriege mit insgesamt über 60 Millionen Toten, dazu die Schrecken des Holocaust, hatten der aufsteigenden Moderne einen gewaltigen Dämpfer versetzt. Dabei hatte man so große Hoffnungen in den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt gesetzt. Die erste Dekade des neuen Jahrhunderts, mit ihren revolutionären Entdeckungen und Erfindungen, schien der Menschheit eine goldene Zukunft zu verheißen: die Eroberung der Lüfte durch die Gebrüder Wright, der Triumph über Krankheiten (Tuberkuloseimpfung, Röntgenstrahlen, Psychoanalyse), die schier grenzenlose Mobilität dank Auto, U-Bahn und Ozeandampfer sowie das Verständnis der innersten Zusammenhänge der physikalischen Welt (Relativitätstheorie, Quantenphysik). Doch das neue Wissen barg auch Gefahren: Es konnten nun Waffensysteme von wahrhaft höllischer Effizienz entwickelt werden.

Paris, noch bis in die 1930er Jahre von magischer Anziehungskraft auf Künstler, Musiker und Literaten aus aller Welt und Ausgangspunkt fast aller großen avantgardistischen Bewegungen der Zeit, lag nach dem Kriegsende am Boden. Racheakte der leidgeprüften Bevölkerung an vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateuren des eben gestürzten Vichy-Regimes waren an der Tagesordnung. Und während in Potsdam und Jalta die Siegermächte über die geopolitischen Konsequenzen des Krieges verhandelten, versuchte in Frankreich eine provisorische Regierung unter General Charles de Gaulle die Einigkeit und das Selbstbewusstsein einer erniedrigten Nation wiederherzustellen.

Entstehung

Der Namenlose entstand 1949/50 im Fahrwasser von Molloy und Malone stirbt. Neben künstlerischen Motiven befeuerte auch die schiere materielle Not Becketts enormen Schaffensdrang. Im ohnehin gebeutelten Paris der Nachkriegszeit grassierte die Inflation. Beckett und seine Lebensgefährtin Suzanne Déchevaux-Dumesnil konnten förmlich zusehen, wie das wenige Geld, das sie von Becketts Mutter aus Irland erhielten, an Wert verlor. Die Einflüsse, die Beckett in Der Namenlose verarbeitete, waren im Wesentlichen dieselben, die auch schon die beiden ersten Teile der Trilogie nährten: das Siechtum seiner Mutter, jene legendäre Vision an ihrem Krankenbett, die ihm seinen künstlerischen Weg aufzeigte, die eigene Krankheit (seit dem Tod seines Vaters 1933 plagten ihn schwere Depressionen; 1934 hatte er eine Psychoanalyse begonnen) und nicht zuletzt die Inspiration, die er aus der Beschäftigung mit den Lehren des Schweizer Psychologen C. G. Jung erfuhr.

All diese Eindrücke setzten jedoch nur in Bewegung, was sich schon seit geraumer Zeit formiert hatte. Denn bereits in Becketts frühem Essay über Marcel Proust von 1930, in dem er weniger den Autor von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zum Thema machte als vielmehr sein eigenes, in der Entstehung begriffenes künstlerisches Weltbild, lassen sich die Anfänge jener Philosophie erkennen, die schließlich in Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose ihre dichterische Ausformung finden sollte.

Wirkungsgeschichte

Mit seiner Trilogie hatte Beckett seine große Aufgabe gefunden, nämlich auszudrücken, „dass es nichts gibt, das auszudrücken wäre, nichts, womit sich etwas ausdrücken ließe, nichts, von wo aus sich etwas ausdrücken ließe, dass aber zugleich die Verpflichtung zum Ausdruck besteht“ – so der Autor in einem späteren Text. So präzise wie Beckett hatte noch niemand das Dilemma des modernen Künstlers benannt, dessen Thema die Auflösung war, der Zerfall überkommener Sinnkonstrukte, das Nichts am Ende allen menschlichen Wissenwollens, und der doch immer einen Sinn, eine Begründung für sein Schaffen benötigte.

Mit der Veröffentlichung der Trilogie etablierte sich Beckett als anerkannter Schriftsteller, zunächst in Frankreich und mit der englischen Übersetzung endlich auch international. Zwar wurde die Wirkung der Romane bald von der Strahlkraft des berühmtesten Werks Becketts, des Theaterstücks Warten auf Godot, überschattet; dennoch bleiben sie Schlüsselwerke der Moderne, die zahlreiche Denker, Künstler und Musiker inspiriert haben, unter ihnen Jacques Derrida, Thomas Bernhard, Harold Pinter, Václav Havel, Imre Kertész, Philip Glass oder Bruce Nauman. Der italienische Komponist Luciano Berio ließ in seiner Sinfonia acht Vokalisten aus Der Namenlose rezitieren.

Über den Autor

Samuel Beckett wird am 13. April 1906 in Foxrock nahe Dublin geboren. Er wächst in einer gut situierten und protestantischen Familie auf. Von 1923 bis 1927 studiert er Sprachen und Literatur in Dublin. Ein Jahr später geht er als Englischlektor nach Paris. Dort lernt er den Schriftsteller James Joyce kennen, mit dem er sich anfreundet. In Frankreich entstehen erste Erzählungen und Gedichte. 1930 kehrt Beckett als Lektor für Französisch ans Trinity College nach Dublin zurück und promoviert. Doch schon 1932 kündigt er seinen Vertrag mit der irischen Universität. Er kann sich nicht mit der Routinearbeit anfreunden, leidet unter Geldmangel und Depressionen. Als 1933 sein Vater stirbt und Beckett eine kleine Erbschaft antritt, reist der junge Schriftsteller jahrelang durch Frankreich, Italien und Deutschland. Seine ersten Romane Dream of Fair to Middling Women (Traum von mehr bis minder schönen Frauen, 1932) und Murphy (1938) entstehen. 1937 lässt er sich in Paris nieder. Hier lernt er seine Lebensgefährtin und spätere Frau, eine Pianistin, kennen. Beide schließen sich der Résistance an. 1942 müssen sie vor der Gestapo fliehen und sich im unbesetzten Südfrankreich verstecken. Beckett ist als Landarbeiter tätig und schreibt während dieser Zeit den Roman Watt, der 1953 veröffentlicht wird. In den Nachkriegsjahren ist der Autor äußerst produktiv. Er beginnt in französischer Sprache zu schreiben und wendet sich neben den Prosawerken dem Theater zu. Zwischen 1946 und 1950 entstehen u. a. der Roman Mercier et Camier (Mercier und Camier), sein erstes Stück Eleuthéria, die Romane Molloy, Malone meurt (Malone stirbt), L’Innommable (Der Namenlose) und das Drama En attendant Godot (Warten auf Godot). Die Uraufführung dieses Stücks bringt Beckett 1953 neben dem literarischen Durchbruch auch den ersten finanziellen Erfolg. Seine Dramen – 1957 erscheint Fin de partie (Endspiel), 1961 Happy Days (Glückliche Tage) – sind äußerst erfolgreich. 1969 erhält er den Nobelpreis für Literatur. Mehrfach inszeniert er seine eigenen Dramen in Berlin, außerdem konzipiert er Fernseh- und Hörspielproduktionen. Am 22. Dezember 1989 stirbt Samuel Beckett in Paris.

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