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Der Schimmelreiter

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Der Schimmelreiter

dtv,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein genialer Deichbauer scheitert an der Bösartigkeit und Mittelmäßigkeit seiner Mitmenschen und geht im Kampf gegen die Urgewalt des Meeres zugrunde.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Realismus

Worum es geht

Ein neues Menschenbild

Mit Hauke Haien, der Hauptfigur seiner Novelle Der Schimmelreiter, hat Theodor Storm eine literarische Figur geschaffen, die das neue Menschenbild der Gründerzeit, des beginnenden industriellen Zeitalters, verkörpert. Ein Menschenbild, das auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann: Haiens Hang zum Visionären, sein auf die Zukunft gerichtetes Denken, technisches Geschick und ein enormer Arbeitseinsatz verhelfen ihm zum sozialen Aufstieg. Verdienst und Leistungsfähigkeit wiegen mehr als Herkunft und Geburt. Gegen den Widerstand der Dorfbewohner realisiert Haien sein ehrgeiziges Projekt eines hochmodernen Deichs. Die Dörfler haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt und legen Haien mit ihrem Sozialneid und Aberglauben Hindernisse in den Weg. Tatsächlich will Hauke Haien sich mit dem Werk auch selbst Genugtuung verschaffen und den eigenen Ehrgeiz befriedigen. So ist er eine "Kippfigur", in der die Chancen und zugleich auch die Gefahren des industriellen Arbeits- und Gesellschaftsethos angelegt sind. Dass es Storm gelingt, die Komplexität von Haiens Wesen in der Kürze einer Novelle zu entwickeln, macht den Schimmelreiter zu einer der künstlerisch höchststehenden Erzählungen der deutschen Literatur.

Take-aways

  • Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter erschien 1888 im Todesjahr des Autors und gilt als eines der bedeutendsten Prosawerke der Gründerzeit.
  • In der Erzählung verbinden sich mündlich überlieferte Gespenstergeschichten mit der realistischen Beschreibung der Lebensbedingungen hinter den Nordseedeichen.
  • Hauke Haien, ein selbstbewusster, begabter junger Mann interessiert sich schon als Kind für die Kunst des Deichbaus und tritt als Knecht in den Dienst des alten Deichgrafen.
  • Er besorgt die Rechnungsführung und hilft dem Deichgrafen bei der Verwaltung der Deiche. Als der Alte stirbt, heiratet Haien dessen Tochter Elke und wird neuer Deichgraf.
  • Die Dorfbewohner, allen voran Ole Peters, neiden Haien den Aufstieg und behaupten, dass er Elke nur aus Berechnung geheiratet habe.
  • Gegen den Aberglauben und die Behäbigkeit der Dörfler setzt Haien den Bau eines modernen, architektonisch kühnen Deichs durch, um neues Land zu gewinnen.
  • Die Dörfler sehen in Haien und seinem Schimmel die Verkörperung des Dämonischen.
  • Nach vielen Jahren des Wartens wird der Deichgraf endlich Vater, doch seine Tochter ist schwachsinnig. Die Familie ist isoliert und Haien verliert seine Lebenskraft.
  • Als am alten Deich Reparaturarbeiten durchgeführt werden müssen, gibt der Deichgraf seinem Gegenspieler Ole Peters nach, der den Schutzwall nur oberflächlich flicken will, statt einen neuen zu bauen.
  • Eine Sturmflut durchbricht den Deich genau an der undichten Stelle und reißt vor Haiens Augen Elke mit dem Kind in den Tod. Darauf stürzt er sich mit seinem Schimmel in die Fluten und kommt in ihnen um.
  • In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Hauke Haien zu einer Führerfigur und einem Übermenschen hochstilisiert.
  • Aufgrund ihres Facettenreichtums und ihrer tiefen Humanität gehört die Novelle seit hundert Jahren zum Kanon der Schullektüre und wurde mehrfach verfilmt.

Zusammenfassung

Vom Erzählen erzählen

Der Dichter entdeckt die Geschichte über den Schimmelreiter beim Blättern in einer Zeitschrift. Ein anonymer Erzähler ist es, der die Geschichte in dem Heft zum Besten gibt: An einem stürmischen Abend erlebt er, wie auf dem Deich ein unheimliches Wesen schemenhaft an ihm vorbeireitet. In einem Wirtshaus, in das er einkehrt, um sich vor dem Sturm zu schützen, verlangt er Aufklärung über das Gesehene. Dort ist man nicht minder erschrocken, denn man glaubt, dass der Geist des Schimmelreiters, des alten Deichgrafen Hauke Haien, bei jeder gefährlichen Sturmflut wiederkommt. Ein alter Schulmeister ist bereit, dem Gast die Geschichte des Schimmelreiters zu erzählen, die sich vor rund hundert Jahren zugetragen haben soll. Doch bevor der Lehrer anhebt, meldet sich der jetzige Deichgraf, der an jenem Abend im Wirtshaus auch zugegen ist, zu Wort: Die Geschichte, die der Lehrer nun erzählen wolle, würde von Antje Vollmers, seiner Wirtschafterin, wohl ganz anders erzählt werden. Auf die Frage des Gastes, worin denn diese Andersartigkeit bestehe, erklärt der Schulmeister, Antje Vollmers habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Hauke Haien für die Verkörperung des Teufels halte. Aber auch der Lehrer muss einräumen, dass man die Geschichte des Schimmelreiters kaum erzählen kann, ohne selbst ein wenig abergläubisch zu sein.

Der junge Hauke Haien

Der Lehrer beginnt seine Erzählung. Zu Anfang berichtet er aus der Kindheit und Jugend des Hauke Haien. Haukes Vater, Tede Haien, ist ein Tagelöhner, der es mit Fleiß und Intelligenz zu einigem Besitz gebracht hat. Im Dorf sagt man, dass Tede mehr von der Landvermessung und dem Deichbau verstehe als der Deichgraf. Der junge Hauke verbringt seine Tage damit, sich zu bilden. Da sein Vater die Abhandlung des Euklid über die Geometrie nur auf Holländisch besitzt, besorgt er sich ein Wörterbuch und übersetzt das Buch während eines Winters. Stundenlang sitzt Hauke bei Flut an der Seeseite der Deiche und beobachtet das Anschlagen der Wellen. Eines Tages überrascht er seinen Vater mit der Feststellung, dass die Deiche nichts taugten. Sie seien auf der Seeseite zu steil und würden bei einer außergewöhnlichen Sturmflut das Land nicht schützen können.

Der Heißsporn

Hauke Haien wächst zu einem begabten, aber in sich gekehrten Jugendlichen heran. Zu seinem Zeitvertreib gehört es, mit geschickten Kieselsteinwürfen Strandvögel im Schlick zu erlegen. Als er eines Abends mit einem Vogel in der Hand auf dem Heimweg ist, reißt ihm der mächtige Kater der alten Trien Jans, einer alleinstehenden Dorfbewohnerin, die Beute aus der Hand. Wie von Sinnen packt der junge Mann das Tier und würgt es zu Tode. Schließlich wirft er verächtlich den Körper des Katers der Alten vor die Tür. Haukes Vater, der Trien den Schaden umgehend ersetzt, nimmt den Vorfall zum Anlass, Hauke aufzufordern, seine körperlichen und geistigen Kräfte endlich nutzbringend einzusetzen und sich eine Anstellung zu suchen. Da sich Tede Volkerts, der Deichgraf, von seinem Knecht getrennt hat, sieht Hauke die Chance, bei ihm unterzukommen. Der Vater willigt ein.

Hauke Haiens Rechenkünste

Der Deichgraf, der von Haukes Begabung gehört hat, stellt den jungen Mann als Kleinknecht ein. Schon bald beauftragt Volkerts Hauke mit dem Rechnungswesen. Ole Peters, der Großknecht, sieht das gar nicht gerne, denn nun muss er Haiens Arbeit im Stall übernehmen. Peters rächt sich, indem er Hauke körperliche Schwerstarbeit aufbürdet. Doch im Verein mit seiner Tochter Elke weiß der Deichgraf Hauke zu schützen. Elke bewundert Hauke wegen seiner beeindruckenden Kenntnisse des Deichwesens. Sie merkt, dass er aufgrund seiner Gewitztheit ihrem alten Vater manch neue Einnahmequelle erschließt, auf die dieser aus Trägheit oder Unkenntnis der Materie bisher verzichtet hat. Die Komplimente, die der Oberdeichgraf bei einem Besuch an ihren Vater richtet, gibt Elke umgehend an Hauke weiter. Hauke mag die ruhige Intelligenz des Mädchens. Aber er fürchtet Ole Peters als Konkurrenten. Als Elke allerdings bei einem Dorffest demonstrativ darauf verzichtet, mit Ole Peters zu tanzen, da er Hauke zuvor von einem Spiel, an dem die Männer aus dem Dorf teilnahmen, ausschließen wollte, spürt Hauke zum ersten Mal Elkes Zuneigung.

Ernennung zum Deichgrafen

Obwohl die beiden sich näherkommen, muss Hauke seinen Dienst bei Elkes Vater aufgeben. Sein eigener Vater ist alt und krank geworden, und das Haus muss nun von dem pflichtbewussten Hauke geführt werden. Bevor Tede stirbt, gibt er Hauke noch mit auf den Lebensweg, dass er danach streben solle, Deichgraf zu werden, und dass er zu diesem Zweck mit großer Sparsamkeit das Familiengut vergrößern müsse. Damit bestätigt er einen lang gehegten Wunsch des Sohnes. Schon bald soll er in Erfüllung gehen. Denn als auch der Deichgraf stirbt, gibt Elke beim Leichenschmaus nicht nur ihre Verlobung mit Hauke Haien bekannt, sondern empfiehlt ihn zudem dem anwesenden Oberdeichgrafen als Nachfolger ihres Vaters mit dem Hinweis, sie habe Hauke ihr ererbtes Vermögen bereits vermacht, sodass sie den reichsten Mann des Dorfes heiraten werde. Nun steht der Ernennung Haukes zum Deichgrafen nichts mehr im Wege. Im Dorf aber gibt es Neider, allen voran Ole Peters, der offen ausspricht, was viele denken: Hauke habe sich an Elke nur herangemacht, um Deichgraf zu werden. Mit Tatendrang und Fleiß sucht der neue Deichgraf diesen Verdacht aus der Welt zu schaffen. An mehreren Stellen gleichzeitig lässt er Deiche flicken und andere Versäumnisse seines Vorgängers wettmachen. Doch die Reaktion der Dorfbewohner fällt nicht wie erhofft aus. Im Gegenteil: Man hält die Reparaturarbeiten für zu früh oder gar nutzlos und beklagt sich über die verlangte hohe Arbeitsleistung und materielle Belastung, die ein jeder neben der Sorge um seinen eigenen Hof noch zu tragen hat.

Ein großer Plan: der neue Deich

Plötzlich wird der Schulmeister, der die Geschichte des Hauke Haien erzählt, unterbrochen. Ein Mann tritt aus der stürmischen Nacht ins Wirtshaus und meldet, dass die geisterhafte Erscheinung des Schimmelreiters, welcher der Gast ja auch begegnet ist, an einer Stelle, wo es im Deich einen Bruch gegeben habe, ins Meer gestürzt sei. Nervös geworden, stehen die abergläubischen Zuhörer auf, um hinauszugehen. Der Schulmeister beruhigt seinen zurückbleibenden Zuhörer und lädt ihn in sein Zimmer ein, um ihm dort das Ende der Geschichte zu erzählen.

„Jetzt aber kam auf dem Deich etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.“ (S. 11)

Die Umstände, unter denen Hauke Haien in den Besitz seines Schimmels kommt, sind unheimlich. Die in ihrem Aberglauben befangenen Dörfler sind davon überzeugt, so erzählt der Lehrer, dass es sich bei dem Schimmel um das gleiche Tier handelt, das sie zuvor tagelang vom Deich aus auf der vorgelagerten Hallig, einer kleinen Insel, zu sehen geglaubt haben, ohne zu wissen, wie das Tier überhaupt dorthin gekommen war. Im Dorf vermutet man nun, Hauke paktiere mit geheimnisvollen Mächten, ja sogar mit dem Teufel. Verärgert und beunruhigt sinnt Hauke Haien über einen Plan nach, den er seit Langem schon in sich trägt: Er will einen großen, modernen und widerstandsfähigeren Deich mit einem flacheren Profil bauen lassen, um kultivierbares Land zu gewinnen. Dies würde den Wohlstand der Dorfbewohner mehren und ihm selbst endlich die gewünschte Achtung einbringen. Entschlossen nimmt der Deichgraf das Projekt in die Hand, und schon bald liegt die Genehmigung des Oberdeichgrafen vor. Doch erneut hat Haien nicht mit der Trägheit der Dörfler gerechnet – insbesondere derjenigen, die, da sie kaum Besitz im Dorf haben, nicht Miteigentümer des durch die Eindeichung neu entstehenden Landes werden können. Zu diesen gehört auch Ole Peters, der ausgerechnet Hauke Haien sein Land verkauft hat und dem Deichgrafen nun vorwirft, ihn nicht früh genug über seine Pläne informiert zu haben.

Kampf mit Trägheit und Aberglauben

Nur mit Mühe gelingt es Hauke Haien, die Dörfler von den Vorteilen des neuen Deiches, seiner größeren Stabilität und Langlebigkeit etwa, zu überzeugen und sie zur Aufnahme der Arbeit zu überreden. Immer wieder muss er sie antreiben, schneller zu arbeiten, denn für den Deichbau stehen nur die Sommermonate zur Verfügung. Haien ist ein unnachgiebiger Aufseher, der jede Liederlichkeit bei der Ausführung sofort bemerkt und sorglose Arbeiter harsch in die Verantwortung nimmt. Zu einer echten Krise kommt es, als die Arbeiter, einem alten Aberglauben gehorchend, einen kleinen Hund, von dem sie nicht wissen, wem er gehört, im Deich lebendig begraben wollen. Zum großen Ärger seiner Arbeiter widersetzt sich Hauke dem Plan, nimmt das Tier an sich und schenkt es seiner kleinen Tochter Wienke, die nach neun Ehejahren geboren worden ist. Als der Deich endlich fertig ist, wird Hauke zwar die Genugtuung zuteil, dass das dem Meer abgetrotzte Land auf Anweisung des Oberdeichgrafen Haiens Namen tragen soll. Doch auch das fertige Werk bringt ihm keine neuen Sympathien und keine innere Ruhe. Zur Vereinsamung des Deichgrafen kommt persönliches Unglück hinzu: Es stellt sich heraus, dass seine Tochter schwachsinnig ist. Doch Hauke und Elke schwören sich, das Kind immer zu lieben.

Haukes Haiens Schwäche

Bald stellen sich neue Schwierigkeiten ein. Bei einer Kontrolle der Deichanlagen stellt Hauke fest, dass der alte Deich unweit der Stelle, wo er an den neuen stößt, von Mäusen unterhöhlt wurde und brüchig ist. Für Hauke ist diese Entdeckung ein Schock. Er zerbricht sich den Kopf, wie es möglich war, dass er diesen Schaden beim Bau des neuen Deiches übersehen konnte. Vor seinem inneren Auge ziehen Bilder der Katastrophe vorbei: Der Deich bricht und das Meer überflutet das Land. Als er Ole Peters mit der Neuigkeit konfrontiert, weiß dieser bereits Bescheid, denn auch er hat die schwache Stelle im Deich schon gesehen. Doch Ole Peters wiegelt ab: Es genüge eine einfache Reparatur, ein neuer Deich sei nicht nötig, denn dieser Schaden rechtfertige es nicht, noch einmal einen so großen Aufwand an Material und Menschen zu betreiben. Peters mag den Deichgrafen zwar nicht zu überzeugen, doch Hauke Haien gibt nach. Ausgelaugt von jahrelangen Machtkämpfen mit der Dorfbevölkerung und durch die Sorge um seine Familie ermüdet, erklärt er sich einverstanden, den Deich lediglich ausbessern zu lassen. Innerlich jedoch bleibt er aufgewühlt. Er fühlt instinktiv, dass er nicht die richtige Entscheidung getroffen hat.

Sturmflut

In einer stürmischen Nacht, wie er sie in seinem Leben noch nicht erlebt hat, treibt es den Deichgrafen nach draußen. Er befürchtet, dass der alte Deich nicht hält, und hat den Dörflern Weisung gegeben, an der ausgebesserten Stelle Wache zu halten, um im Notfall schnell eingreifen zu können. Doch auch ein hoffnungsfrohes Gefühl bemächtigt sich des Deichgrafen: Er ist sicher, dass der neue Deich halten wird und er in dieser Nacht den Beweis antreten wird, dass sein Deich von der richtigen Bauart ist. Aber Hauke Haien wird erneut von den Dörflern enttäuscht. Nicht am alten Deich stehen sie, sondern unweit davon am neuen und machen sich mit ihrem Gerät daran, diesen zu durchbrechen, um den alten Deich zu schützen. Haien kommt gerade noch im rechten Moment, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, zu dem sie von Ole Peters veranlasst worden sind. Plötzlich geschieht das Befürchtete: Genau an der Stelle, die kürzlich ausgebessert wurde, bricht der alte Deich. Das sei die Schuld des Deichgrafen, ruft einer, damit müsse er sich nun vor Gott rechtfertigen.

Untergang und Tod

Unverzüglich wendet der Deichgraf sein Pferd und galoppiert über den neuen Deich auf die Bruchstelle zu. Haien wird bewusst, dass er tatsächlich Schuld auf sich geladen hat, doch nicht in dem Sinn, wie es der Mann aus dem Dorf gemeint hat. Seine Schuld besteht darin, gegenüber Ole Peters nicht durchgesetzt zu haben, den alten Deich durch einen neuen zu ersetzen. Die Standfestigkeit des neuen Deichs in dieser Nacht ist der Beweis dafür. Auf immer breiter werdender Front bricht der alte Deich weg. Da sieht Haien plötzlich auf der anderen Seite des Durchbruchs ein Pferdegespann auf sich zukommen. Entsetzt stellt er fest, dass es Elke und Wienke sind, die er doch auf dem Hof in Sicherheit gewähnt hat. Geradewegs steuern sie auf den Abgrund zu. Vergeblich versucht Hauke sie zum Anhalten zu bewegen: Der Sturm verweht seine Stimme. Da bricht ein weiteres Stück Deich weg und mit ihm stürzen Elke und das Kind in ihrem Wagen in die Fluten. „Das Ende“, spricht Haien vor sich hin, und seinem Pferd die Sporen gebend stürzt auch er sich in den Abgrund.

„,Der Schimmelreiter!' rief einer aus der Gesellschaft, und eine Bewegung des Erschreckens ging durch die Uebrigen.“ (S. 13)

Hier schließt der Lehrer seine Geschichte. Er fügt aber noch hinzu, dass die Dorfbewohner bald nach Haiens Tod wieder ein weißes Pferd auf der Hallig gesehen haben wollten. Über den intakt gebliebenen Hauke-Haien-Deich reitet der Gast am nächsten Morgen durch eine von der Sturmflut verwüstete Landschaft seinem Ziel zu.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Aufbau der Novelle Der Schimmelreiter ist von großer Komplexität. Während Novellen traditionellerweise zumeist nur über eine Rahmenhandlung verfügen, die die Position des Erzählers definiert, verschachtelt Storm gleich mehrere zeitlich gestaffelte Rahmenhandlungen ineinander. Insgesamt treten drei Erzähler auf. Der erste ist der Dichter selbst. Er benennt seine Quelle, nämlich eine Zeitschriftgeschichte über den Schimmelreiter. Der Erzähler dieser Geschichte führt alsbald den dritten Erzähler ein, den alten Schulmeister, der im Wirtshaus die Lebensgeschichte des Hauke Haien nachzeichnet. Während der Lehrer sich weitgehend an die Fakten hält, glauben die Dörfler nach wie vor an die gespenstische Existenz des Schimmelreiters. Der Konflikt zwischen Aufklärung und Aberglauben, zwischen Hauke Haien und den Dörflern, wird auf jeder der drei Erzählebenen neu ausgetragen. So entsteht der Eindruck einer Unentschiedenheit des Konflikts, ein Eindruck, der durch den Duktus der Mündlichkeit des Erzählten gestützt wird, an dem Storm sehr gelegen war. Denn die mündliche Erzählung bringt nicht nur eine große faktische Unsicherheit und Unüberprüfbarkeit mit sich, sie lässt auch eine eigentümliche Tonalität der Gedämpftheit und der gebremsten Dramatik entstehen. Durch die erzählerische Verschachtelung und die Mündlichkeit gelingt es Storm, den Streit zwischen aufklärerischer Rationalität und abergläubischer Irrationalität darzustellen, ohne ihn zu entscheiden. Dem Leser soll es vorbehalten bleiben, Partei zu ergreifen.

Interpretationsansätze

  • Der Schimmelreiter ist die Tragödie eines genialen Menschen, eingebettet in eine Gespenstergeschichte.
  • Storm konstruiert im Text einen Widerspruch zwischen einem den Fortschritt hemmenden Aberglauben und dem Vertrauen in Technik und Weiterentwicklung. Gleichzeitig hält er aber an humanen Werten wie Liebe und Familie fest.
  • Hauke Haiens Visionen erscheinen den Dorfbewohnern als unmenschlich und mit ihren Bedürfnissen nicht vereinbar. Ihre Verbohrtheit führt die Dörfler zu einer paradoxen Wahrnehmung des Geschehens: Für sie ist ausgerechnet der Bruch des alten Deiches der Beweis dafür, dass Haien den neuen Deich nie hätte bauen dürfen.
  • Die Zukunft verhilft Haien zu einem späten Triumph: In der Sturmnacht, in welcher der Lehrer die Geschichte des Schimmelreiters erzählt, schützt Haiens Deich das Land, während ein Teil des alten Deichs einbricht.
  • Hauke Haiens Schwäche ist sein Ehrgeiz. Der neue Deich soll nicht nur besser sein als der alte, er soll nicht zuletzt auch ein Denkmal für seinen Erbauer sein.
  • Storm gestaltet in der Novelle literarisch das Sozial- und Arbeitsethos der Gründerzeit: Der Erfolg des Einzelnen ist dazu angetan, den Wohlstand aller zu heben.
  • Die zeitliche Staffelung der Rahmenerzählungen suggeriert, dass die Auseinandersetzung zwischen rational-zukunftsgerichteten und mythisch-unbewussten Kräften ein uraltes, menschheitsgeschichtliches Schicksal ist.
  • Die Faszination der Novelle beruht darauf, dass diese Auseinandersetzung keineswegs nur ein gesellschaftspolitisches Problem darstellt. Vielmehr widerstreiten im Leser selbst die gleichen rationalen Beweggründe und irrationalen Widerstände: Keiner kann ein völlig durchdachtes Leben führen, der Streit zwischen Aufklärung und Aberglaube ist nie eindeutig zu klären.

Historischer Hintergrund

Gesellschaftsethik der Gründerzeit

Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter stellt mit der Figur des Deichgrafen Hauke Haien den bürgerlichen Unternehmertyp der Gründerzeit, also des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts und der Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, in den Vordergrund. Zur damals herrschenden Aufbruchstimmung, zum technischen und wirtschaftlichen Pioniergeist gehörte das wirtschaftsliberale, gründerzeitliche Prinzip, wonach die Initiative des Einzelnen den Wohlstand aller vergrößern sollte. Die ebenfalls in jener Zeit geborene Sozialdemokratie vertrat genau die Gegenposition: Was gut für das Kollektiv ist, nutzt auch dem Einzelnen. In Karikaturen der linken Presse des jungen Kaiserreichs wurden technische Neuerungen und Erfindungen häufig durch futuristisches Spielzeug repräsentiert, mit dem sich das Bürgertum in seinen Wohnzimmern amüsierte.

Storm verteidigte die Entstehung einer Leistungselite, die er nicht nur gegenüber der damals noch weit verbreiteten adeligen und großbürgerlichen Geburtselite für moralisch überlegen hielt, sondern auch gegenüber der Mittelmäßigkeit und Kurzsichtigkeit der Massen. Denn gerade deren bornierte Trägheit war eines der Kennzeichen jener Untertanenmentalität, die im Kaiserreich ihren Ausgangs- und 50 Jahre später im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt hatte.

Entstehung

Theodor Storm hat vom Stoff der Schimmelreitersage zum ersten Mal als 21-Jähriger Notiz genommen, und zwar bei der Lektüre der von Johann Joseph Christian Pappe in Hamburg herausgegebenen Sammlung Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. In der Geschichte mit dem Titel Der gespenstige Reiter sind wesentliche Elemente des Schimmelreiters bereits angelegt: der Deichgraf, der nach seinem Tod bei drohender Gefahr als Wiedergänger auftaucht, aber auch die Erzählstruktur, nach der ein Reisender bei aufkommendem Sturm einem phantomähnlichen Reiter begegnet und von einem Einheimischen die Geschichte des unglücklichen Untoten erfährt. Storms weitere Vorstudien zu seiner Novelle betrafen Berichte in diversen Chroniken über Sturmfluten, welche die nordfriesische Nordseeküste heimgesucht hatten. Schließlich versäumte es Storm auch nicht, sich mit modernsten niederländischen und dänischen Deichbautechniken vertraut zu machen.

Die Gesamtarbeitszeit an der Novelle – Recherchen und Niederschrift – betrug wohl etwas mehr als zwei Jahre und wurde am 9. Februar 1888 abgeschlossen. Kurz vor Storms Tod am 4. Juli 1888 erfolgte der Erstabdruck des Schimmelreiters in der Deutschen Rundschau. Im Herbst des gleichen Jahres erschien die Erstausgabe im Berliner Verlag Paetel.

Wirkungsgeschichte

Dem Schimmelreiter war bereits bei Erscheinen im Jahre 1888 ein großer Erfolg beschieden. Die Startauflage von 2000 Exemplaren war innerhalb von zehn Monaten vergriffen, sodass sich der Verlag im Frühsommer 1889 entschloss, eine zweite Auflage von weiteren 2000 Stück zu produzieren. Einen ähnlichen Erfolg konnten zu dieser Zeit nur die Romane von Theodor Fontane aufweisen. Das unheimliche Geschehen war, glaubt man damaligen Rezensenten, im besonderen Maße dazu angetan, das Interesse an der Novelle zu steigern. Während die bürgerlichen Kritiken die Fortschrittsgläubigkeit des Hauke Haien lobten, stand in sozialdemokratischen Blättern die Kritik an der vermeintlichen Ausbeutung der Dorfbevölkerung beim Deichbau im Mittelpunkt. Diese Polarisierung sollte die Rezeption der Novelle bis zum Ende der Weimarer Republik prägen. Die vorherrschenden wilhelminischen Lesarten hoben zudem in Hauke Haien das „Faustische“ hervor (auch Goethes Faust baut ja einen Deich), sie vergaßen dabei aber die unter der harten Schale verborgene tiefe Menschlichkeit des Deichgrafen.

Nicht zuletzt wegen des vermeintlichen Goethebezugs fand Der Schimmelreiter noch vor dem Ersten Weltkrieg Eingang in den Lektürekanon an deutschen Gymnasien, wo er auch heute noch zu finden ist. Die Nationalsozialisten mystifizierten Haien in völkischer Art als Übermenschen und Führerfigur.

Bezeichnenderweise blendete die erste der drei deutschen Verfilmungen des Schimmelreiters im Jahr 1933/34 mit Mathias Wiemann in der Rolle des Deichgrafen die Behinderung des Kindes vollkommen aus – der NS-Logik der Ausgrenzung „unwerten Lebens“ gehorchend. Als einen politischen Revoluzzer gegen das konservative Weltbild des Dorfes stellte der bundesdeutsche Regisseur Alfred Weidemann den Deichgrafen in seiner Verfilmung aus dem Jahr 1978 dar. Nur sechs Jahre später drehte eine Verfilmung des DDR-Fernsehens den Spieß wieder um: Erneut waren die Dörfler die Ausgebeuteten und Hauke Haien kam als Machtmensch daher, der aber immerhin nach der Geburt der behinderten Tochter ein menschliches Antlitz annehmen durfte.

Über den Autor

Theodor Storm wird am 14. September 1817 als Spross einer alteingesessenen Husumer Patrizierfamilie geboren. Sein Vater ist Rechtsanwalt. Storm studiert Jura und lässt sich 1843 ebenfalls als Rechtsanwalt in Husum nieder. Als er sich 1853 gegen die Annektierung Husums durch Dänemark auflehnt, muss er seine Heimatstadt verlassen. Erst 1864 kann er wieder dorthin zurückkehren. In der Zwischenzeit arbeitet er als Assessor in Potsdam, wo er unter anderem mit Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff und Paul Heyse verkehrt. In Husum hat er zwischen 1864 und 1880 zuerst das Amt des Landvogts, dann das des Amtsrichters inne. Storm heiratet zweimal, aus den beiden Ehen gehen insgesamt sieben Kinder hervor. Zu einer einschneidenden Erfahrung wird für ihn der Versuch, nach dem Tod der ersten Ehefrau mit der zweiten Frau erneut eine glückliche Ehe zu führen. Die permanente geistige Präsenz der Verstorbenen stellt das neue Eheglück immer wieder infrage. Storm verarbeitet diese Erfahrung in der Novelle Viola Tricolor (1874). Zwischen Immensee (1849), einer Novelle über den Widerstreit zwischen bürgerlichem Leben und Künstlerexistenz, mit der Storm schlagartig berühmt wird, und dem Schimmelreiter (1888) publiziert der Autor noch viele weitere Novellen, unter anderem Pole Poppenspäler (1874), Aquis submersus (1876), Carsten Curator (1878), Hans und Heinz Kirch (1882) sowie Ein Doppelgänger (1886). Daneben entstehen realistisch-impressionistisch getönte Gedichtbände. Theodor Storm erkrankt an Magenkrebs und stirbt am 4. Juli 1888.

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