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Der Spaziergang

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Der Spaziergang

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein bewegendes Prosastück des “ewigen Geheimtipps” Robert Walser.


Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Moderne

Worum es geht

Ein Tag im Leben eines Poeten

Der Spaziergang ist äußerlich ein kleines Werk, nicht einmal 100 Seiten lang, und handelt lediglich von der Schlenderei durch einen einzigen Tag. Und es ist zugleich ein großes Werk, denn es enthält gewissermaßen das Konzentrat von Robert Walsers zahllosen kleinen Prosastücken, die wiederum den Kern seiner Schriftstellerei ausmachen. Zudem bietet Der Spaziergang einen Panoramaschwenk über Walsers spätromantische Lebensauffassung und schafft in einer einzigartigen Mischung verschiedener Jargons und Stile ein schillerndes Sprachkunststück. Inhaltlich passiert nicht viel: Ein armer Poet spaziert einen Tag lang durch das Städtchen, in dem er lebt, und durch dessen Umgebung. Er beobachtet im Vorübergehen und fühlt aus tiefstem Herzen. Er erregt sich über die Unsitten der modernen Zeit und beschwört die Seligkeit der Natur. Er hält kleine, geschraubte Ansprachen und horcht melancholisch in sich hinein. Der heitere Grundton kontrastiert dabei mehrfach mit einem traurigen Befund: Der lustwandelnde Dichter führt offenbar ein bejammernswertes Leben. So war es jedenfalls bei Robert Walser selbst: Der Autor konnte die eigene poetische Heiterkeit immer weniger mit seiner kargen Existenz versöhnen. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einer Heilanstalt, ohne zu schreiben. Von diesem traurigen Hintergrund abgesehen, ist Walsers Spaziergang ein wahrer Glücksfall für heutige Leser.

Take-aways

  • Der Schweizer Robert Walser war ein Virtuose kleiner Prosastücke. Der Spaziergang ist sein bekanntester Text dieser Art.
  • In der Erzählung jongliert Walser auf atemberaubende Weise mit verschiedenen Stilen: von schwärmerisch bis kritisch, von ironisch bis melancholisch.
  • Walser schildert die Begegnungen und Eindrücke des Ich-Erzählers während eines ganztägigen, vielfach unterbrochenen Stadt-und-Land-Spaziergangs.
  • Der Spaziergänger ist ein armer Poet, dessen romantische Seele sich nicht immer mit seinem unbequemen Geist verträgt.
  • Er spricht in Buchhandlungen und Banken vor, redet mit Unbekannten, isst bei einer Gönnerin zu Mittag, begegnet einem Riesen und streitet sich auf der Steuerbehörde.
  • In der Natur wird der Erzähler mehrfach von Zuständen rauschhafter Seligkeit erfasst.
  • Die Montage verschiedenartiger Blickwinkel, Eindrücke und Stimmlagen macht den Spaziergang zu einem hochmodernen Text.
  • Zugleich ist die Erzählung ein Musterbeispiel für Walsers kunstvolles Spiel mit einer besonders ziselierten, brillant gewundenen Sprache.
  • Das Buch enthält zahlreiche autobiografische Elemente. Hinter dem sprühenden Stil verbirgt sich eine prekäre Existenz.
  • In Walsers Leben wurde der immer größer werdende Abstand zwischen schwärmerischer Dichterseele und bitterer Armut schließlich unerträglich.
  • Seine letzten 23 Lebensjahre verbrachte der Autor, ohne noch zu schreiben, in einer Heilanstalt.
  • Der zu Lebzeiten erfolglose Walser zählt heute zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Zusammenfassung

Fort vom Schreibtisch, hinaus auf die Straße

Der Erzähler verlässt am Morgen seinen Schreibtisch und tritt auf die Straße hinaus, mit dem Plan, einen Spaziergang zu machen. Die Welt erscheint ihm sogleich schön und verlockend. Eben noch hat er übellaunig vor einem leeren Blatt Papier gesessen. Jetzt schlägt seine Stimmung um in romantische Entdeckerlust. Würdevoll schreitet er aus und begegnet bereits nach wenigen Metern Professor Meili, einer akademischen Autorität mit gebieterischem Auftreten, dessen milder Gesamteindruck dem Spaziergänger dennoch sympathisch ist. Anschließend beobachtet der Erzähler verschiedene Passanten, ermahnt sich aber dabei selbst, über niemanden billige Witze zu machen.

„Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Straße zu eilen.“ (S. 7)

Als er sich einer Buchhandlung nähert, beschließt der Flaneur, dort nach dem jüngsten Erfolgstitel bei Kritik und Publikum zu fragen. In gewundenen Worten trägt er dem Verkäufer seine Frage vor, und dieser bringt gleich das entsprechende Buch herbei. Mehrfach lässt sich der Erzähler versichern, dass es sich tatsächlich um das bestverkaufte Werk der Saison handelt. Freilich hält der Verkäufer die Anschlussfrage, ob das Buch auch gut sei, für unstatthaft. Daraufhin verlässt der Erzähler das Geschäft, ohne ein Exemplar zu kaufen.

Eine Prämie für den armen Poeten

Als Nächstes betritt der Spaziergänger eine nahegelegene Bank. Dort eröffnet ihm der Bankbeamte am Schalter, dass ein Verein gutgesinnter Frauen ihm, dem offenbar minderbemittelten Dichter, gerade eine Prämie von 1000 Franken habe zukommen lassen. Er könne das Geld sicher im Moment nur allzu gut gebrauchen. Der Erzähler entgegnet dem Beamten, dass dessen Beobachtung zwar durchaus zutreffend sei. Es sei allerdings unrecht, ihn offen darauf anzusprechen. Im Übrigen wachse ein Mensch gerade an den Entbehrungen, die er tapfer ausgestanden habe. Nach Erhalt der Quittung setzt der Erzähler seinen Spaziergang fort.

„Die miserable Sucht, mehr zu scheinen als was man ist, soll der Teufel holen, denn das ist eine wahre Katastrophe. Dieses und Ähnliches verbreitet Kriegsgefahr, Tod, Elend, Hass, Verunglimpfungen auf der Erde und setzt allem, was existiert, eine verwünschenswerte Maske von Bosheit, abscheulichem Egoismus auf.“ (S. 18)

An den Leser gewandt erwähnt er, dass er eine Einladung von Frau Aebi zum Mittagessen bei sich trage. Kurz darauf bleibt er vor einer Bäckerei stehen, deren großtuerische goldene Ladeninschrift ihn zu einer ausführlichen Gegenrede reizt: Allerorten greife die Prunksucht um sich; sie sei eine Katastrophe der neuen Zeit und bringe langsam die alte, bescheidene Ehrsamkeit zum Verschwinden. Unmittelbar nach dieser Erregung ruft sich der Erzähler wegen seines herrischen Tons selbst zur Ordnung. Er wolle die Schriftstellerei nicht missbrauchen und künftig bescheidener auftreten. Anschließend passiert er eine Eisengießerei und kämpft dabei kurz gegen das schlechte Gewissen an, weil er scheinbar bloß müßig umherspaziert, während andere schuften müssen. Er gibt allerdings zu, dass allein sein hellgelber, fast adlig anmutender Anzug diesen Eindruck hervorrufen könne.

Ein kleiner Flirt ohne Folgen

Der Erzähler geht unter Obstbäumen her. Kleine Industriebetriebe und Landwirtschaft wechseln einander am Wegesrand ab. Er beobachtet Hunde auf der Straße und spielende Kinder. Deren Seelenreinheit erfreut ihn, und er möchte sich nicht ausmalen, dass ein Automobil sie überfahren könnte. Die unverantwortliche Raserei im Kraftwagen missfällt ihm ohnehin. Als Freund des Ruhigen und Ruhenden verachtet er grundsätzlich alle Automobil-Insassen, weil sie vor der Schönheit nicht mehr innehalten können. Nun kündigt der Erzähler dem Leser den Auftritt zweier Figuren im Voraus an, um dadurch deren Bedeutsamkeit zu erhöhen: Es handelt sich um eine vermeintliche Schauspielerin und eine vermutlich angehende Sängerin.

„Kinder sind himmlisch, weil sie immer wie in einer Art von Himmel sind. Wenn sie älter werden, so schwindet ihnen der Himmel. Sie fallen dann aus der Kindlichkeit in das trockene, langweilige, berechnende Wesen und in die nutzhaften, hochanständigen Anschauungen der Erwachsenen.“ (S. 20)

Die erste der beiden Frauen entdeckt er auf der Bank vor einem Haus und er spricht sie sogleich in ausführlicher Rede an. Ihr interessantes Aussehen habe ihm eingegeben, sie müsse einmal eine gefeierte Schauspielerin gewesen sein. Er hoffe, er erzürne sie nicht mit der direkten Anrede. Aber den Menschen seien nun einmal Mund und Zunge gegeben, um davon auch Unbekannten gegenüber Gebrauch zu machen. Die Frau fühlt sich zwar geschmeichelt, bekennt jedoch, nie Schauspielerin gewesen zu sein. Der Spaziergänger schildert ihr daraufhin eine eigene seelische Krise, die nun glücklicherweise überwunden sei. Er habe wieder Zutrauen zu sich und den Menschen geschöpft. Die Frau beglückwünscht ihn, er geht seiner Wege.

Der Dichter als General

Als Nächstes fällt sein Blick auf ein von Bäumen, Blumen und Wiesen umrahmtes Modegeschäft, das ihn besonders entzückt. Er kündigt an, es demnächst in eine Prosa-Fantasie mit dem Titel "Der Spaziergang" einzubauen. Nebenbei bekennt er, seine Leser beständig zu fürchten; dies sei allerdings ein typischer Zug kühner Autoren. Das führt ihn zu einem Vergleich von Kriegs- und Dichtkunst: Schriftsteller würden ihren Vorstoß auf den Buchmarkt oft so ausführlich vorbereiten wie Generäle ihren Feldzug. Beide müssten mit gewaltigen Gegenangriffen rechnen. Und die grimmigen Kritiken gegen manches Buch könnten die Autoren leicht zugrunde richten.

„In der Tat liebe ich alles Ruhige und Ruhende, Sparsamkeit und Mäßigkeit und bin allem Gehast und Gehetz im tiefsten Innern abhold.“ (S. 21)

Der Spaziergänger sehnt sich bereits nach dem Mittagsmahl bei Frau Aebi. Doch noch ist es nicht Zeit. Er schreitet an Getreidefeldern und Gärten vorbei, begegnet Marktfrauen und steht plötzlich dem Riesen Tomzack gegenüber, der ihm die gesamte Straße verdunkelt. Auf die Ansprache des Dichters reagiert der Riese nicht. Daraufhin wünscht der Erzähler ihm Lebewohl und geht weiter, während er innerlich die gefühllose und doch schmerzvolle Wesensart des Ungetüms bedauert.

Eine kleine Todessehnsucht und andere Eitelkeiten

Der Erzähler betritt einen Tannenwald und fühlt sich in dessen Stille sofort geborgen. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllt ihn. Er würde im Wald gern lieben und küssen. Doch dann überkommt ihn eine Todessehnsucht. Er wünscht sich, hier unauffällig begraben zu liegen - wenn er diesen Tod nur bewusst genießen dürfte. Schon der Wald an sich erscheint ihm wie ein grünes Grab. Doch bald tritt er wieder ins Freie. Kurz gerät er in Versuchung, umgehend ein Wirtshaus zu betreten. Doch er hält sich zurück: Da weder sein Durst noch seine Anstrengung außerordentlich sind, hat er sich den Eintritt ins Gasthaus nicht verdient.

„Hier in kühler Walderde unauffällig begraben zu liegen, müsste süß sein. Dass man im Tode doch auch den Tod noch fühlte und genösse!“ (S. 33)

Nun tritt die bereits zuvor angekündigte Sängerin auf. Es handelt sich dabei um ein junges Mädchen, das der Erzähler am Fenster stehen sieht und singen hört. Aufs Höchste gerührt, lobt er sie überschwänglich und prophezeit ihr eine glänzende Laufbahn, wenn sie nur ihre stimmliche Begabung sowie ihren offensichtlichen Herzensadel zu hüten imstande sei. Am Ende seiner ausgreifenden Rede gesteht er sich selbst, dass er die hochmögenden Worte vor allem zum eigenen Vergnügen gesprochen habe. Dem Mädchen fehle die Reife, sie nachzuvollziehen.

Mittagessen bei Frau Aebi

Der Spaziergänger unterrichtet den Leser von weiteren anstehenden Erledigungen. Er habe einen Schneider aufzusuchen, Steuern zu entrichten, einen Brief auf die Post zu tragen und müsse womöglich auch noch zum Friseur. Für entsprechende Umstände bittet er den Leser vorsorglich um Nachsicht. Nun allerdings geht er zu Frau Aebi, denn endlich ist Mittagszeit. Zwanglos lässt er sich von ihr ins Esszimmer führen und fängt dort sogleich an, gewaltig zuzugreifen. Bis er bemerkt, dass seine Gastgeberin selbst gar nichts isst. Er hält inne. Sie aber fordert ihn auf, unbedingt bis zur Besinnungslosigkeit weiterzuessen. Erst als er panisch reagiert, spricht sie von einem "Scherz" und dringt nicht weiter in ihn. Er verabschiedet sich umgehend, während er zu seiner Freude noch wahrnimmt, dass Frau Aebi offenbar an seinem Bleiben viel gelegen ist.

„Ernsthaft und staunend hörte das Mädchen meinen Worten zu, die ich indessen mehr nur zu meinem eigenen Vergnügen sprach, als um von der Kleinen gewürdigt oder begriffen zu werden, wozu ihr die nötige Reife fehlte.“ (S. 38)

Später spricht sich der Erzähler Mut zu für den drohenden Besuch beim selbstherrlichen Schneider. Zunächst wirft er freilich auf der Post den erwähnten Brief ein. Dessen Wortlaut gibt er komplett wieder. Es handelt sich um ein Schreiben, in dem der Verfasser einem geschäftlichen Bekannten entschieden auseinandersetzt, dass dessen herz- und charakterloses Benehmen ihn zum Abbruch aller Beziehungen nötige.

Bekenntnisse eines Gescheiterten

Der Erzähler betritt die Werkstatt des Schneiders Dünn, um dort einen zuvor in Auftrag gegebenen Anzug anzuprobieren. Alle seine Befürchtungen über des Schneiders Pfuscharbeit bestätigen sich, doch der Handwerker ist durchaus nicht einsichtig und beharrt stur auf seiner unzweifelhaften Meisterschaft. Hilflos zieht der Spaziergänger von dannen. Als Nächstes spricht er bei der Steuerbehörde vor und schildert dem zuständigen Steuerbeamten, dass er als verkannter, erfolgloser Dichter nur ein sehr bescheidenes Einkommen habe, geradezu ärmlich leben müsse und ihn deshalb inständig darum bitte, von der angekündigten Beitragserhöhung abzusehen. Der Beamte zweifelt an der Notsituation des Dichters; schließlich sähe er ihn immerfort in aller Ruhe herumspazieren. Daraufhin hebt der Erzähler zu einem leidenschaftlichen und sehr ausführlichen Plädoyer für den Spaziergang an. Dieser sei gewissermaßen das Zentrum seiner dichterischen Inspiration. Beim Spaziergang lasse er sich von vielfältigsten Eindrücken überraschen, beglücken und bereichern. Spazierengehen diene nicht nur der Herzensbildung, sondern sei ihm zugleich eine unmittelbare Notwendigkeit. Der Beamte verspricht schließlich die Prüfung des Sachverhalts im Lichte dieser letzten Erklärung.

Aufs Tiefste mit Gott und der Welt verbunden

Mit neuem Elan strebt der Erzähler wieder hinaus auf die Straße. Vor einem Bahnübergang muss er warten. Der vorbeifahrende Zug ist voller Soldaten, die vermutlich im Kriegsdienst stehen. Plötzlich erscheint dem Spaziergänger die eigene Umgebung noch einmal um ein Vielfaches schöner als bisher. Das Land kommt ihm geradezu paradiesisch vor. Gott selbst scheint frisch nachgebessert zu haben, und Jesus Christus scheint persönlich durch die Gegend zu wandeln. Für Augenblicke geht der Erzähler ganz im unendlichen Glanz der Gegenwart auf und fühlt sich zugleich aufs Tiefste mit der gütigen Erde verbunden.

„‚Spazieren’, gab ich zur Antwort, ‚muss ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte.’“ (S. 54 f.)

Kurz darauf fallen ihm zwei beschauliche Häuschen angenehm auf, dann verschiedene Geschäfte. Vor einer Schulstube wünscht er sich, erneut ein ungezogenes Kind sein zu dürfen. Anschließend erregt er sich kurz über Bauern, die Nuss- oder Obstbäume auf ihren Grundstücken fällen. Seine schwersten Verwünschungen gegen sie nimmt er allerdings umgehend zurück, um des lieben Friedens willen, und lobt sich dabei selbst für die eigene Gutmütigkeit. Angesichts eines prachtvollen Herrenhauses mit maurischem Pavillon beginnt der Erzähler, sich ein romantisches Stelldichein auszumalen, doch ein vorbeibrausendes Automobil zerreißt ihm die zarte Fantasie. Einen herausgeputzten Herrn schilt er innerlich für dessen Unempfindlichkeit gegen den Not leidenden Teil der Welt. Allerdings muss er sich gleich eingestehen, dass auch ihn die kultivierte, gepflegte Gesellschaft unwillkürlich anzieht.

Rückblick am Seeufer

Es geht langsam dem Abend entgegen. Der Spaziergänger weist kurz auf verschiedene bemerkenswerte Gebäude hin und zählt einige Gestalten auf, die er nicht unerwähnt lassen will. Dann gibt er in voller Länge die umständliche Anschlagtafel einer Pension wieder, die sich alleinstehenden Herren zum dauernden Aufenthalt anbietet. Darauf wird in geschraubten Worten um vermögende und wohlerzogene Kunden geworben, denen man edelste Speisen vorzusetzen gedenke; Grobiane mit großem Hunger wolle man dagegen entschieden bitten, das Haus gar nicht erst zu behelligen.

„Ich verdiene mein tägliches Brot durch Denken, Grübeln, Bohren, Graben, Sinnen, Dichten, Forschen, Untersuchen und Spazieren so sauer wie irgendeiner. Indem ich vielleicht die allervergnüglichste Miene schneide, bin ich höchst ernsthaft und gewissenhaft, und wo ich weiter nichts als schwärmerisch und zärtlich zu sein scheine, bin ich ein solider Fachmann.“ (S. 59)

Nun ist es wirklich Abend geworden. Der Spaziergänger wandert unter Bäumen zum See. Während er auf dem Feld Blumen sammelt, fängt es leicht an zu regnen. Dem Erzähler kommt der Regen wie Weinen vor. Er erinnert sich an ein junges Mädchen, seine letzte verlorene Liebe, und beklagt die eigene Einsamkeit. Seine Seele ist angefüllt mit Selbstvorwürfen. Er bedauert alle Schwächen und Niedrigkeiten, unter denen andere Menschen seinetwegen leiden mussten. Voller Schrecken fällt ihm ein alter Mann ein, den er neulich sterbensmatt hat am Boden liegen sehen. Auch er selbst legt sich nun nieder, auf den weichen Grund am Seeufer. Den Blick in den Himmel gerichtet klagt er darüber, dass die Menschen im Grunde arme Gefangene seien, deren Weg in eine andere Welt unglücklicherweise zunächst ins Grab führe. Abermals fällt ihm das junge Mädchen ein. Er muss sich eingestehen, dass er selbst die Schuld trägt für das Ende der zarten Beziehung. Er war nicht in der Lage, ihr seine Liebe zu gestehen; da hat sie ihn verlassen. Der Erzähler erhebt sich, um nach Hause zu gehen. Denn es ist schon spät und dunkel.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Spaziergang schildert weitgehend chronologisch die Erlebnisse und Eindrücke eines namenlosen Erzählers während eines einzigen Spaziergangs. Der äußerlich bescheidene Rahmen des Werks wird allerdings ständig gesprengt. Nicht nur dauert der Streifzug einen ganzen Tag lang. Auch die Begebenheiten und Empfindungen, von denen der Erzähler im Verlauf seines ausgedehnten Lustwandelns berichtet, gehen in der Intensität des Erlebens und in der Stilisiertheit ihrer Darstellung über die Erzählung eines bloßen Spaziergangs weit hinaus. Oberflächlich wahrt Walser ein impressionistisches Prinzip: Sein Erzähler schildert, was ihm vor die Augen kommt und durch den Kopf geht. Doch zugleich wird das Material in sehr unterschiedlichen Schreibstilen und Tonlagen montiert. Oft bedient sich Walser eines leicht schwärmerischen, exaltierten Tons. Doch das unmittelbare, poetische Aufzeichnen der Sinneseindrücke wird regelmäßig unterbrochen durch die Reflexion der eigenen dichterischen Herangehensweise. Der Erzähler macht kritische oder rechtfertigende Bemerkungen über seinen herrischen Schreibgestus, über beleidigende Anfälle oder weitschweifige Ausführungen. In der Tat ist die elaborierte Weitschweifigkeit ein herausragendes Merkmal des Buches. Besonders in den eingeschobenen monologisierenden Passagen türmt Walser manierierte Floskeln und ziselierte Umschreibungen zu schillernden, ausufernden Wortwucherungen auf. Die formale Sprunghaftigkeit ist zugleich ein Abbild der extremen Stimmungsschwankungen, denen der Erzähler während seines Spaziergangs unterliegt.

Interpretationsansätze

  • Walsers Spaziergänger ist die Verkörperung der romantischen Dichterseele. Ausdauernd beschwört er die magische Schönheit der Natur. Bewusst steigert er sich in verzückte Schwärmereien hinein, die er in blumigen Worten genüsslich ausschmückt. Die im Lustwandeln erfahrene Weltbeseelung ist zugleich des Erzählers wichtigste Inspirationsquelle. Außerdem gibt er zu erkennen, dass ein romantisch geneigter Blick allgemein zur Besserung der Menschheit beitragen könne.
  • Hinter der verzückten Anschauung wird allerdings auch eine verzweifelte Anstrengung erkennbar. Die längst entzauberte, unromantische Wirklichkeit macht es dem Erzähler nicht leicht, seine schwärmerische Fassade unbeschadet aufrechtzuerhalten. Die ironischen und kritischen Brechungen des Textes zeigen, dass die romantische Haltung nur unter Mühen und mit hohem persönlichem Einsatz einer prosaischen Gegenwart abgetrotzt werden kann.
  • Der Spaziergänger kontrastiert die eigene inspirierte Innerlichkeit immer wieder mit der oberflächlichen Äußerlichkeit des modernen Lebens: Das Vorhandensein des Automobils verbietet es, sich der Welt noch im Detail zuzuwenden. Im Buchhandel zählt nicht mehr die Qualität, sondern nur noch der Verkaufsrang eines Werkes. Allerorten wird geprotzt und vorgetäuscht. Bei so viel Ignoranz und Marktschreierei droht die reine Seele ins Abseits zu geraten.
  • Walser inszeniert im Wechsel der Erzählstile ein spannungsvolles Spiel um die Selbstbehauptung des Dichter-Ichs. Regelmäßig spürt der Spaziergänger eine enorme innere Kraft, trumpft mitunter herrisch auf und verurteilt eitel seine Umwelt. Dann wieder zuckt er zurück, bedauert die eigene Arroganz, macht sich klein und möchte am liebsten ganz verschwinden. In diesem Wechselbad aus Allmachts- und Ohnmachtsfantasien spiegelt sich auch der persönliche Konflikt des Dichters Walser, dessen innere Zerrissenheit später in eine schwere psychische Störung münden wird.

Historischer Hintergrund

Weltkrieg und Industrialisierung

Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich Europa im Aufruhr. Seit Sommer 1914 tobte der Erste Weltkrieg. Die Schweiz, bereits seit 1848 ein parlamentarischer Bundesstaat, war komplett von Krieg führenden Nationen umgeben. Im Nordwesten lieferten sich Deutschland und Frankreich einen erbitterten und verlustreichen Stellungskrieg, im Südosten kämpften von 1916 an Italien und Österreich-Ungarn gegeneinander. Die Schweiz blieb den gesamten Krieg hindurch neutral, doch der europäische Ausnahmezustand ging natürlich an der eidgenössischen Bevölkerung nicht spurlos vorbei. Die Männer rückten im Rahmen von Armeeeinsätzen zur Grenzsicherung ein. Es kam zu innenpolitischen Spannungen, weil die Deutschschweizer eher mit dem Deutschen Reich, die französisch sprechenden Westschweizer dagegen eher mit Frankreich sympathisierten. Auch wirtschaftlich war das Land vom Krieg stark betroffen. Die Schweiz, eine damals bereits hoch industrialisierte Nation, hing von ausländischen Rohstoff- und Lebensmittelimporten ab. Im Zürcher Exil verfasste Wladimir Iljitsch Lenin 1916 sein Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Ein Jahr später verhalf er in Russland der Oktoberrevolution zum Sieg. In Zürich wurde 1916 auch der Dadaismus ins Leben gerufen, Ausdruck einer radikalen künstlerischen Neuorientierung. Europa befand sich bereits seit Längerem in einem tief greifenden Modernisierungsprozess. Die Industrialisierung veränderte die Struktur der traditionellen Gesellschaft, der wissenschaftliche und technische Fortschritt wirkte sich auf das Selbstverständnis des Menschen aus. Der Weltkrieg und seine moderne stählerne Maschinerie bekräftigten und beschleunigten diesen Wandel auf ihre eigene, furchtbare Weise.

Entstehung

Der Spaziergang entstand 1916 in Walsers Geburtsstadt Biel. Dorthin war der Autor 1913 nach einem achtjährigen Aufenthalt in Berlin zurückgekehrt, nachdem ihm ein wirklicher Durchbruch als Schriftsteller verwehrt geblieben war. Walser lebte nach wie vor von seinen Texten, die er an verschiedene Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum versandte. Manchmal wurde eine Sammlung seiner Prosastücke als Buch herausgegeben. Doch seine Honorare reichten nur für ein sehr bescheidenes Dasein. Der Dichter bewohnte eine karge Mansarde im Bieler Hotel "Blaues Kreuz". Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl waren alles, worüber er verfügte. Im Winter heizte er kaum und arbeitete stattdessen im Militärmantel, mit selbstgemachten Hausschuhen aus Kleidungsresten an den Füßen. Einem seiner Verleger gegenüber bekannte er später, er habe "das Menschenmögliche an Sparsamkeit" geleistet. Walser empfand den existenziellen Zwang zur literarischen Produktion als stark belastend. Im Text Das letzte Prosastück heißt es, autobiografisch gefärbt: "Hundertmal rief ich aus: ‚Nie mehr wieder schreibe und sende ich’, schrieb und sandte aber jeweilen schon am selben oder folgenden Tag neue Ware, derart, dass ich meine Handlungsweise heute kaum noch begreife." Mehrfach wurde Walser, im Herzen unpolitisch, während des Weltkriegs für einmonatige Armeeeinsätze an der Landesgrenze eingeteilt. Ansonsten kam er nur selten über die Umgebung von Biel hinaus. Er war ein ausdauernder, gegenüber seinen Mitmenschen allerdings oft abweisender Spaziergänger. Walser lebte allein. Die Frau, die ihm am nächsten stand, war Frieda Mermet, eine Freundin seiner Schwester Lisa Walser. Gelegentlich warb er um sie, aber nie mit der nötigen Entschiedenheit. Der Liebeskummer, der Walsers Spaziergänger am Ende packt, spiegelt diesbezügliche Selbstvorwürfe seines Schöpfers.

Wirkungsgeschichte

Der Spaziergang erschien als Einzelausgabe im April 1917 im Schweizer Verlag Huber und Co. Zwei Jahre später wurde die Erzählung, geringfügig überarbeitet, als Teil der Prosasammlung Seeland nochmals veröffentlicht. Das Echo der Kritik war verhalten. Die Neue Zürcher Zeitung lobte Walsers "Apologie des geschäftigen Müßiggängers" als "vielleicht das beste der kleineren Werke". Das Literarische Echo aus Berlin bemerkte einen neuen Ton, "den Walser bisher nicht hatte: die Selbstironie, eine feine Persiflage seiner eigenen Art". Zu einem Erfolg wurde das Buch allerdings genauso wenig wie Walsers übrige Werke. Der Dichter geriet stattdessen immer mehr in Vergessenheit. Obwohl er bereits früh prominente Fürsprecher und "Fans" hatte, darunter Hermann Hesse, Robert Musil, Franz Kafka und Walter Benjamin, spielte er auf dem literarischen Markt bald keine Rolle mehr. Dann hörte er überhaupt auf zu schreiben. Während der mehr als 20 Jahre in der Heilanstalt Herisau, bis zu seinem Tod 1956, kämpfte vor allem Walsers Bewunderer und späterer Vormund Carl Seelig um Neuausgaben alter Texte.

Erst in den 1970er Jahren wurde das Werk in größerem Maßstab wiederentdeckt. Nun erschien auch eine umfangreiche Werkausgabe. Im Jahr 2000 wurde außerdem eine erste, sechsbändige Edition der von Walser in winziger Schrift verfassten Mikrogramme abgeschlossen. Heute ist Robert Walsers Rang als bedeutender Autor der literarischen Moderne unbestritten. Mit seinem Stil hat er Autoren wie Peter Bichsel, Ror Wolf oder Max Goldt stark beeinflusst. Elfriede Jelinek machte sein Leben und Werk 1998 zur Grundlage ihres Theatertexts er nicht als er.

Über den Autor

Robert Walser wird am 15. April 1878 in Biel im Kanton Bern geboren. Hier absolviert er nach der Schulzeit eine Banklehre. In den Jahren 1896-1905 lebt er überwiegend in Zürich, arbeitet dort als Angestellter in Banken und Versicherungen, als Buchhändler und technischer Gehilfe eines Ingenieurs, aber auch - nach einer entsprechenden Ausbildung in Berlin - in Oberschlesien als Diener. Erste Gedichte verschaffen ihm Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines Debüts, Fritz Kochers Aufsätze (1904), folgt Walser 1906 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner arbeitet und ihn in die Künstlerszene einführt. Walser verfasst in rascher Folge die Romane Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909). Trotz Anerkennung durch Künstlerkollegen bleibt der Erfolg beim Publikum aus; Walser kehrt Berlin wieder den Rücken. Überzeugt davon, literarisch gescheitert zu sein, reist er 1913 in seine Heimatstadt Biel zurück. Im Hotel "Blaues Kreuz" mietet er eine Mansarde, wo er unter ärmlichsten Bedingungen lebt und schreibt. Hier entstehen eine Sammlung von Kurzprosatexten und die Erzählung Der Spaziergang (1917). Trotz der Präsenz in literarischen Zeitschriften kommt es nur noch zu einer Buchveröffentlichung: Die Rose (1925). Den so genannten Räuber-Roman von 1925 hinterlässt er nur als Entwurf, in mikroskopisch kleiner Schrift (Mikrogramm). Die Entzifferung soll mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Wegen psychischer Labilität lässt sich Walser 1929 in die psychiatrische Klinik Waldau bei Bern einweisen. Bis 1933 schreibt er weiter, danach muss er aufgeben und wird gegen seinen Willen in die Heilanstalt Herisau im Kanton Appenzell überstellt. Dort vegetiert er weitere 23 Jahre dahin, unerkannt und unbeachtet. Auf einem einsamen Spaziergang im Schnee verstirbt Walser am 25. Dezember 1956.

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