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Die Blendung

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Die Blendung

Hanser,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Canettis grotesker Roman über extreme Bücherliebe und Menschenhass.


Literatur­klassiker

  • Entwicklungsroman
  • Moderne

Worum es geht

Misanthropische Kopfgeburt

Elias Canettis literarisches Hauptwerk Die Blendung erzählt von einem Bibliomanen, den seine Liebe zu Büchern in den Wahnsinn treibt. Der Roman liest sich als ausgedehnte Metapher für eine übersteigerte Intellektualität ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. Zugleich führt der Autor seine eigene Belesenheit vor: Von Kant bis Nietzsche, von Weininger bis Freud hat er die halbe Ideengeschichte seiner Zeit verarbeitet. Das verleiht der Blendung bei allem Mord und Totschlag, der auch stattfindet, etwas Schablonenhaftes. Die Figuren erscheinen wie auf dem Reißbrett entworfen, die Handlung wie im Labor erzeugt. In monotonen Gedankenströmen sinnieren die einsamen, in ihrer Verblendung gefangenen Individuen über die Schlechtigkeit der Welt. Aus fast jeder Seite dieses monströsen Romans spricht geballter Menschen- und insbesondere Frauenhass. Gewiss: Canettis Erstling, der ihm den Nobelpreis für Literatur einbrachte, ist eine satirische Überzeichnung und lebt von seiner grotesken Komik. Auf der langen Strecke von über 500 Seiten ist das mitunter allerdings schwer verdauliche Kost.

Take-aways

  • Elias Canettis Roman Die Blendung zählt zu den Klassikern der Moderne und wird in einem Atemzug mit Kafka und Joyce genannt.
  • Inhalt: Der Sinologe und Büchernarr Peter Kien sucht in seiner riesigen Privatbibliothek Zuflucht vor der Welt. Als er, von seiner Haushälterin zur Ehe verführt, mit den Zumutungen des Alltags konfrontiert wird, flüchtet er sich in den Wahnsinn. Nach einer Irrfahrt durch Wien wird er von seinem Bruder, einem Psychiater, wieder in seine Bibliothek gebracht. Dort legt er Feuer und verbrennt.
  • Die Hauptfigur Kien verkörpert eine übersteigerte Intellektualität ohne Bezug zur Außenwelt.
  • In Die Blendung antizipiert Canetti seine in Masse und Macht entwickelte Massentheorie.
  • Der bereits Ende der 20er Jahre verfasste Roman nimmt hellsichtig den sich ankündigenden Faschismus vorweg.
  • Das Männliche und Weibliche, der Jude und der Kleinbürger werden grotesk überzeichnet.
  • Canetti setzt großzügig das stilistische Mittel der erlebten Rede ein.
  • Seine „akustischen Masken“, wie er es nannte, charakterisieren die Figuren und verleihen ihnen Individualität.
  • Der Roman wurde auf dem Umweg über England und Frankreich ab den 60er Jahren auch in Deutschland ein Erfolg.
  • Zitat: „Das herrschende Prinzip im Kosmos ist die Blindheit.“

Zusammenfassung

Geistige Höhenflüge und die Niederungen des Alltags

Der Gelehrte Peter Kien, wahrscheinlich der größte Sinologe seiner Zeit, hat eine einzige Leidenschaft: Bücher. In seiner freien Zeit streift er durch die Buchhandlungen und gibt dort das Geld aus, das er geerbt hat. Seine Wohnung ist eine riesige Privatbibliothek, die er wie einen Schatz hütet. Frau und Kinder lehnt er ab, denn das verträgt sich nicht mit seinem Gelehrtendasein. Einladungen schlägt er aus, er hat auch keine Freunde. Überhaupt ist ihm das normale Leben – Arbeiten, um Geld zu verdienen, Essen, Liebe – zuwider. Schon im Alter von 30 Jahren hat der äußerst magere Mann beschlossen, seinen Schädel der Hirnforschung zu vermachen. Er führt ein Tagebuch über die „Dummheiten der Menschheit“.

„Wochentags schwitzte oder schwatzte man für sein Brot. Sonntags schwatzte man umsonst.“ (S. 35)

Zuflucht vor den Zumutungen des Alltags bietet ihm die Beschäftigung mit chinesischen Philosophen. Der einzige menschliche Kontakt, den er pflegt, ist der zu seiner Haushälterin Therese Krumbholz, einer ernsten, bescheiden wirkenden Frau, die stets einen steifen, blauen Rock trägt. Zunächst nimmt Kien sie kaum wahr. Als sie ihn eines Tages um ein Buch bittet und das abgegriffene Exemplar, das er ihr borgt, mit Samthandschuhen anfasst, sieht er sie plötzlich mit anderen Augen. Sie wird sich gut um seine Bücher kümmern! Kien beschließt, Therese zu heiraten. Doch er ist auf einen Trick hereingefallen: Tatsächlich ist sie Analphabetin und nur hinter seinem Geld her.

Die Ehehölle

Schon bald wird Kien Thereses Nähe zu viel. Er fürchtet sich davor, mit ihr zu schlafen, ekelt sich vor dem gemeinsamen Essen. Auch Therese ist enttäuscht. Sie hat das ewige Kochen und Abstauben satt, hat mehr von der Ehe erwartet. Liegt es an ihrem vorgerückten Alter oder an der Schlafzimmergarnitur, dass ihr Mann sie nicht anrührt? In ihrer Verzweiflung versucht sie mit Herrn Grob, dem Bettenverkäufer, anzubändeln, der sie allerdings zurückweist. Kien seinerseits zieht sich von diesem „materiellen Beziehungswesen“, wie er es nennt, in sein Arbeitszimmer zurück. Er schließt die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen: Was er nicht wahrnimmt, existiert auch nicht. Eines Tages stürzt er von der Leiter in seiner Bibliothek. Therese glaubt, er sei tot. Aber zu früh gefreut: Er ist nur verletzt. Sie genießt ihre Rolle als Pflegerin, denn nun hat sie alle Macht über ihn. Heimlich sucht sie nach seinem Testament und überzieht ihn mit ihren Hasstiraden. Kien wünscht, er hätte Ohrenlider. Am liebsten würde er sie erschlagen. Er ist überzeugt: Alle Frauen sind Verbrecher.

„Blindheit ist eine Waffe, gegen Zeit und Raum; unser Dasein eine einzige, ungeheuerliche Blindheit, bis auf das wenige, das wir durch unsere kleinlichen Sinne – kleinlich ihrem Wesen wie ihrer Reichweite nach – erfahren. Das herrschende Prinzip im Kosmos ist die Blindheit.“ (S. 73)

Therese überredet Kien, sein Testament zu machen. Doch die Enttäuschung ist groß: Der Hauptteil von Kiens Vermögen ist in den Kauf von Büchern geflossen. Wütend sperrt sie ihre drei Zimmer vom Rest der Wohnung ab und verweigert ihm den Zugang zu ihren Räumen. Auch zu essen gibt es nichts mehr. Als Kien abends aus dem Gasthaus zurückkommt, schlägt Therese ihn und schimpft ihn einen Krüppel. Als er so geschunden und schwach daliegt, hat sie fast Mitleid mit ihm. Sie stellt ihm das Futter neben das Bett wie einem Hund. Ihr Zorn über das verschwundene Geld ist so groß, dass sie ihn eines Tages einfach aus der Wohnung wirft.

Bücher – im Kopf und in der Wirklichkeit

Seit Kien auf der Straße lebt und nicht mehr in seine Bibliothek kann, ist er zunehmend verwirrt. Unermüdlich grast er die Buchhandlungen ab, auf der Suche nach Büchern, die er für seine wissenschaftliche Arbeit benötigt. Tatsächlich aber ordnet er sie nur in seine „Kopfbibliothek“ ein. Dank seines Sparbuchs, das er vor Therese gerettet hat, lebt er in verschiedenen Hotels auf großem Fuß. Bei aller Verwirrung fühlt er sich auch seltsam befreit: Therese kann ihn nicht länger von der Welt des Geistes in die schmutzige Wirklichkeit zurückziehen. Auf seinen Streifzügen durch Wien begegnet er einem buckligen Zwerg namens Siegfried Fischer, genannt Fischerle. Der arbeitet im Gasthaus „Zum idealen Himmel“ als Zuhälter seiner eigenen Frau, der Fischerin, die ihn über alles liebt. Wenn sie Kunden empfängt, liegt er unter ihrem Bett. Als leidenschaftlicher Schachspieler träumt er davon, Schachweltmeister in Amerika zu werden – aber dafür braucht er Geld. Von Anfang an durchschaut er Kiens Wahn und hofft, an dessen Vermögen zu kommen. Kien, von der Intelligenz des Zwergs angezogen, fühlt sich verpflichtet, diesem zu einer würdigen Existenz zu verhelfen, und nimmt ihn in seinen Dienst: Der Zwerg soll den wachsenden Bücherberg – der ja nur in Kiens Kopf existiert – von einem Hotel zum anderen bringen.

„Geld war das Unpersönlichste, Nichtssagendste, Charakterloseste, was er sich vorstellen konnte.“ (über Kien, S. 116)

In seiner grenzenlosen Bibliomanie verfällt Kien auf die Idee, Bücher vor dem Pfandhaus zu retten. Er stellt sich vor das Wiener Pfandhaus, dem Theresianum, fängt Leute, die ihre Bücher verpfänden wollen, ab und bezahlt sie dafür, dass sie die Bücher wieder mit nach Hause nehmen und sie so vor dem sicheren Untergang im Büchergefängnis bewahren. Fischerle wittert seine Chance, endlich an das große Geld zu kommen. Er stellt in seiner neu gegründeten Firma ein paar Bekannte ein, die in seinem Auftrag Buchpakete zum Leihhaus bringen sollen: die Fischerin, die er für ihre grenzenlose Liebe verachtet, den plumpen Kanalräumer, den hündisch ergebenen Blinden und den dummen Hausierer. In wechselnder Maskierung kreuzen die vier vor dem Pfandhaus mit Büchern auf. Kien fällt auf den Betrug herein und zahlt den immer gleichen Personen für die immer gleichen Buchpakete hohe Summen seines väterlichen Erbes.

Ein Schuldiger muss her

Da erscheinen Therese und mit ihr der Hausbesorger und pensionierte Polizist Benedikt Pfaff mit einem mächtigen Buchpaket vor dem Pfandhaus. Die beiden haben sich in ihrem Hass und in ihrer Geldgier gegen Kien verbündet und versetzen dessen kostbare Bibliothek. Es entsteht ein Handgemenge. Unter den neugierigen Blicken der herbeieilenden Menschen entreißt Therese Kien seine prall gefüllte Brieftasche und bezichtigt ihn als Dieb. Das Geld flattert durch die Luft, Therese und Fischerle balgen sich darum. Die Menschenmenge sucht einen Schuldigen für den Krawall: die Frau oder der Krüppel oder der Magere – jeder könnte es sein! Kien wird von der herbeigerufenen Polizei als Dieb abgeführt und einem entwürdigenden Verhör unterzogen, bei dem er den Mord an Therese, die er in seinem Wahn für tot hält, gesteht.

„Ein Mensch ist nicht zum Lieben auf der Welt. Er hat nicht aus Liebe geheiratet. Er wollte seine Bücher versorgen, sie schien ihm der geeignete Mensch dafür.“ (über Kien und Therese, S. 128)

Fischerle wird von der aufgebrachten Masse beschimpft und verprügelt. Er sieht sein Geld und den Traum von Amerika dahinschwinden. In seiner Verzweiflung fällt ihm ein, dass Kien einmal einen Bruder erwähnt hat, der es in Paris als Frauenarzt zu einigem Vermögen gebracht habe und dann zur Psychiatrie übergewechselt sei. Fischerle beschließt, diesem Georg Kien ein Telegramm zu schicken und ihm mitzuteilen, dass sein Bruder verrückt geworden sei. Bald findet er aber, es sei noch besser, Kiens Bruder persönlich aufzusuchen. Der Hochstapler staffiert sich neu aus, besorgt sich illegal einen Pass und ein Fahrkarte nach Paris und lernt schon mal Englisch für seine Zukunft in Amerika. Mit dem neuen Pass, dem feinen Anzug und den knallgelben Schuhen fühlt er sich wie neu geboren: Er ist kein Jude, er ist kein Krüppel mehr, sondern wird schon bald ein berühmter Schachweltmeister sein! Vor der Abreise will er noch sein Hab und Gut unter dem Bett seiner Frau hervorholen – und wird dabei von dem Blinden grausam ermordet.

Die normalen Irren und die gestörten Normalen

Pfaff, der seine Frau zu Tode geprügelt sowie seine Tochter missbraucht und ebenfalls getötet hat, überlässt Kien sein Portierskabinett. Durch ein Guckloch hat der Hausbesorger stets das Treiben im Haus beobachtet und die Bewohner wie ein Wachhund kontrolliert. Kien soll ihn nun in seiner Funktion als Hausmeister vertreten, während er selbst mit Therese die Wohnung und Bibliothek des Gelehrten im vierten Stock bezieht. Mit wissenschaftlicher Neugier verfolgt Kien das Leben im Haus, und die Ablenkung tut ihm sogar gut. Er macht sich Gedanken über die Farbe Blau und findet empirische Argumente gegen ihre Existenz. In seiner Verwirrung schneidet er sich einen Finger ab und tötet die blauen Kanarienvögel des Hausbesorgers. Allmählich beginnt Kien an seinem eigenen Verstand zu zweifeln.

„Er freute sich, weil wieder ein Mensch so gering war, wie er von Menschen im Allgemeinen dachte.“ (über Kien, S. 188)

Aufgrund von Fischerles Telegramm ist Kiens Bruder aus Paris angereist. Der Leiter der Pariser Irrenanstalt ist ein sehr einfühlsamer Arzt. Seine Patienten vertrauen ihm und lassen ihn an ihren Wahnvorstellungen teilhaben. Heilung betrachtet er als Verarmung; er zieht die interessanten Narren den langweiligen Normalen vor. Seine unkonventionellen Behandlungsmethoden stoßen bei seinen Assistenten auf Unverständnis. Insgeheim verachtet Georg Kien diese „Scheuklappenherzen“, die stets der Mehrheitsmeinung und den Moden der Zeit folgen. Sie haben keine Ahnung vom Drang der Menschen, in der Masse aufzugehen – vor diesem wilden Urinstinkt schützt sie ihre Bildung. Irgendwann einmal wird die Masse sich durchsetzen und die Individuen, für die wir uns alle halten, verschlingen, meint Georg Kien. Er selbst gibt schon jetzt diesem Impuls in sich nach, verzichtet auf persönliche Neigungen und Ehrgeiz und verliert sich in der Masse.

Die Frau als Ursprung allen Übels

Therese offenbart Georg Kien, sein Bruder sei ein Dieb und Mörder. Seine erste Ehefrau habe er zerstückelt und hinter den Büchern versteckt, und sie selbst sei von ihm bedroht worden. Georg kann es nicht fassen: Sein selbstloser, bücherliebender Bruder ein Lustmörder? Doch Pfaff entkräftet die Anschuldigungen und bezichtigt Therese, ihren Mann in den Wahnsinn getrieben zu haben. Um ihn vor ihr zu schützen, habe er ihn in das Portierskabinett eingesperrt. Georg findet seinen stark abgemagerten Bruder in einem dunklen, stickigen Loch vor. In seiner Verwirrung wirft dieser dem Psychiater vor, zu lügen und sich nur bei den Irren einzuschmeicheln. Um sie wirklich zu heilen, müsste er ihre Frauen einsperren, die die Männer in den Wahnsinn trieben. Konfuzius, Buddha, alle großen Denker seien vom Unwert der Frau überzeugt gewesen. Spinnenweibchen würden den Männchen die Köpfe abbeißen, nachdem sie sie missbraucht hätten, und nur die Mückenweibchen würden Blut saugen. In der Spinne, dem grausamsten und hässlichsten aller Tiere, sieht Kien die Verkörperung des Weiblichen.

„Einzelheiten an Lebenden merkt er sich schlecht, sein Gedächtnis funktioniert nur vor Büchern.“ (über Kien, S. 349)

Er überschätze die Frauen, wirft Georg ein. Er selbst sehe in ihnen nur ein notwendiges Übel. Die Termiten etwa seien da schon weiter als die Menschen: Aus einer oder wenigen Müttern gehe der ganze Stock hervor. Die übrigen Tiere hätten kein Geschlecht und lebten ohne Liebesbegehren auf engstem Raum zusammen. Würde es im Termitenstock die Liebe geben, wäre er dem Untergang geweiht. Das unerfüllte Begehren würde die Termiten wahnsinnig machen und Feinde heranlocken, an denen sie zugrunde gingen. Der Liebestrieb, der bei den Menschen dem Fortleben diene, verkehre sich auf diese Weise ins Gegenteil. Das sei ebenso sinnlos, als würde sich Peter Kien bei vollem Verstand und ohne Anlass in seiner Bibliothek zusammen mit seinen Büchern in Brand setzen. Georg will Peters Fantasie durch das Beispiel glücklicher Geschlechtslosigkeit bei den Insekten in eine andere Richtung lenken, doch dieser steigert sich weiter in seinen Frauenhass hinein. In den Beispielen aus der antiken Geschichte und griechischen Mythologie, die Kien zum Beweis für die Verkommenheit der Frauen anführt, erkennt der Psychiater Muster aus dem Leben des Bruders.

Eine Bücherverbrennung

Georg Kien will seinen Bruder ins Leben zurückholen, die Frau und den Hausbesorger aus der Bibliothek schmeißen, die Wohnung reinigen, die Geldangelegenheiten regeln, Peter wieder zum Arbeiten bringen und ihn dann sich selbst überlassen. Therese und Pfaff bringt er mit schmeichlerischen Worten und Drohungen tatsächlich dazu, die Wohnung zu verlassen und eine Tierhandlung zu übernehmen. Nachdem Peter Kien wieder in seine Bibliothek eingezogen ist, packt ihn sofort die Arbeitslust. Georg hingegen fühlt sich von dem ganzen erdrückenden Wissen der Bücher abgestoßen und tritt die Rückreise an.

„Analphabeten sind die Weiber, unerträglich und dumm, eine ewige Störung. Wie reich wäre die Welt ohne sie, ein ungeheures Laboratorium, eine überfüllte Bibliothek, intensivster Arbeitshimmel bei Tag und bei Nacht!“ (S. 423)

Wieder allein in seiner Wohnung verriegelt Peter Kien die Haustür und gibt sich seinen Halluzinationen hin: Über die Dächer der Stadt hallen die Schreie der Bücher, die im Theresianum eingesperrt sind, es riecht nach Petroleum, der Himmel leuchtet rötlich. Man zieht ihn aus, durchsucht seine Taschen, er ist ein Raubmörder, er hat seine Frau getötet. Es klopft, die Polizei kommt ihn holen. Wo ist Georg? Georg ist fort, er hat es nur auf Peters Erbe abgesehen. Aber sein Bruder wird die Bücher nicht bekommen, ebenso wenig wie die Polizei ihn selbst bekommen wird. Kien baut Mauern aus Büchern, verschanzt sich dahinter und zündet alles an. Inmitten seiner Bücher verbrennt er – laut lachend.

Zum Text

Aufbau und Stil

Elias Canettis Die Blendung ist in drei Teile untergliedert, die ihrerseits aus mehreren Kapiteln bestehen. Die Überschriften der drei Teile geben das Handlungsmuster vor: „Ein Kopf ohne Welt“ gibt überwiegend die Gedanken des Büchermenschen Kien wieder. „Kopflose Welt“ spielt in der aus den Fugen geratenen, trieb- und instinktgesteuerten Außenwelt. Der dritte Teil schließlich, „Welt im Kopf“, taucht in die Halluzinationen der wahnsinnigen Hauptfigur ein. Canettis Sprachstil ist deutlich an Karl Kraus geschult, der in seinen berühmten Vorlesungen gerne in die Rollen und Idiome verschiedener Personen schlüpfte. Canetti selbst prägte für seinen Stil den Begriff der „Sprachmasken“, die er sich abwechselnd überzieht. Dabei lässt er seine Figuren in Form von erlebter Rede und innerem Monolog sozusagen unzensiert vor sich hin sinnieren. Präzise imitiert er die typischen Sprechweisen des Bildungsbürgers, des von Geld und Liebe träumenden Hausmädchens und den Wiener Slang der Kleinbürger, die ihren Aggressionen freien Lauf lassen. Fast jede Kommunikation reduziert sich dabei auf den Austausch von Phrasen, die in Missverständnissen enden und die Isolation der Akteure umso deutlicher vor Augen führen.

Interpretationsansätze

  • Peter Kien verkörpert eine übersteigerte, sich selbst vergötternde Intellektualität ohne jeden Kontakt zur Wirklichkeit. Er leidet an einer Krankheit, die Friedrich Nietzsche als „Blindheit für das Leben“ bezeichnete. Wissenschaftliche Spezialisten als „wandelnde Enzyklopädien“ seien blind für alles, was außerhalb der Grenzen ihres Fachs liege.
  • Die bizarren, extremen Figuren Canettis sind wie auf dem Reißbrett entworfen und agieren wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Sie sind alle auf ihre Weise verblendet und in ihren Wahnvorstellungen gefangen. Selbst der Psychiater, der am Ende auftritt, kann die Menschen nicht retten – eine klare Absage an Freuds psychoanalytische Theorie.
  • Canetti antizipiert in Die Blendung die in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk Masse und Macht entwickelte Theorie von der wahnhaften Welt der Masse, in der das Individuum aufgehe. Mit seinen Schilderungen von Massen und der Darstellung des aggressiven Kleinbürgertums schafft Canetti Szenen, die an den – damals erst nahenden – Faschismus, erinnern. Gleichzeitig verweigert er sich aber jeder einseitigen politischen Interpretation: Seine Figuren erliegen einem zeitlosen Wahn, sei es die Büchersucht oder das Schachspiel.
  • Die Blendung ist durchdrungen von der Philosophie Otto Weiningers, dessen Ideen auf die Spitze getrieben und ins Groteske verzerrt werden. So entsprechen Kien und Therese den Prototypen des bewussten, vernünftigen, keuschen Mannes und der irrationalen, amoralischen, triebgesteuerten Frau, die allerdings nach Weininger in dieser reinen Form gar nicht existieren.
  • In der Figur Fischerles bündelt Canetti gängige antisemitische Topoi der Juden als Nutznießer und Parasiten, als Finanziers und Hochstapler. Fischerle entspricht dem Stereotyp des schlauen jüdischen Gauners und Chefs, der die Nichtjuden ausbeutet, des Hässlichen und Verwachsenen, der gleichwohl die christlichen Frauen verführt.

Historischer Hintergrund

Das Wien der 20er Jahre

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie übernahm in den 1920er Jahren erstmals die Sozialdemokratische Partei die Regierung in der österreichischen Hauptstadt. Das „Rote Wien“ stellte einen Gegenpol zum konservativen Geist der mehrheitlich von Christsozialen regierten Alpenrepublik dar. Die Sozialdemokraten sahen sich vor eine Vielzahl schwieriger Herausforderungen gestellt. Die heimkehrenden Beamten aus der zusammengebrochenen österreichisch-ungarischen Monarchie, Flüchtlinge aus dem russisch besetzten Galizien und Soldaten der ehemaligen k. u. k. Armee strömten massenweise in die Stadt. Durch Inflation und Währungsreform verloren Löhne und Gehälter drastisch an Wert. Das Wien der 20er Jahre war geprägt von scharfen Gegensätzen: hohe Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot einerseits, Modernität und Glamour andererseits. In den engen, überfüllten Behausungen grassierten Krankheiten wie Tuberkulose, Spanische Grippe und Syphilis. Trotz – oder gerade wegen – der großen materiellen Not herrschte auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft Aufbruchstimmung. In den Kaffeehäusern der Stadt traf die künstlerische und intellektuelle Avantgarde zusammen. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud und Alfred Adler entwickelte sich Wien zur Hochburg der noch jungen psychologischen Disziplin.

Die Wiener Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war tief verunsichert; es herrschte eine allgemeine Angst vor dem Zerfall althergebrachter Werte und Normen. In dieser Atmosphäre der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit waren Feindbilder und Projektionen an der Tagesordnung. Nicht zufällig avancierte Otto Weiningers 1903 erschienene Abhandlung Geschlecht und Charakter, in dem Frauen und Juden für die Seelenlosigkeit des modernen Lebens verantwortlich gemacht werden, zum philosophischen Bestseller der Epoche. Das Werk übte maßgeblichen Einfluss auf viele Intellektuelle jener Zeit aus, u. a. auf den österreichischen Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus, auf den schwedischen Dramatiker August Strindberg und den Maler Alfred Kubin. In seinen Memoiren berichtet Canetti, dass das Buch in den Wiener Kaffeehäusern selbst 20 Jahre nach Erscheinen noch für Diskussionen sorgte.

Entstehung

Schon in jungen Jahren hatte Elias Canetti sich mit dem Phänomen der Masse auseinandergesetzt, das ihn noch in seinem 1960 erschienenen Buch Masse und Macht beschäftigen sollte. Während seiner Frankfurter Zeit hatte er bei einer Demonstration anlässlich der Ermordung Walther Rathenaus 1922 beobachtet, welche Lust die Menschen erfasst, wenn sie plötzlich vom „Ich“ zum „Wir“ werden. Als er 1927 in Wien Zeuge wurde, wie eine Menschenmenge den Justizpalast stürmte, erlebte er abermals die Faszination der Masse. Zudem entwickelte er schon früh ein Interesse für die sprachlichen Eigenheiten der Menschen, in denen er ihre Individualität begründet sah. Als junger Mann, so schrieb er in seiner Autobiografie, habe er im Café mit geschlossenen Augen den Gesprächen der Menschen zugehört und gelernt, diese allein an ihren Reden und sprachlichen Eigenheiten zu unterscheiden. In seiner sprachkritischen Haltung wurde er von Karl Kraus bestärkt, den er geradezu abgöttisch verehrte und dessen Vorlesungen er in Wien besuchte. Daneben pflegte der promovierte Naturwissenschaftler Canetti, der stets um Anerkennung in der Künstler- und Intellektuellenszene rang, gute Kontakte zu Robert Musil, Franz Werfel und Hermann Broch.

Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin, das er im Vergleich zum eher gemächlichen Wien im Sommer 1928 als „Irrenhaus“ erlebte, begann er seinen Roman zu schreiben. Die extremen Menschen, die er in Berlin kennen gelernt hatte – darunter George Grosz, Bertolt Brecht und Isaak Babel – ließen ihn nach eigenen Angaben nicht mehr los. Bereits 1931 beendete Canetti den Roman, der ursprünglich mit „Kant fängt Feuer“ betitelt und als erster Teil einer insgesamt achtbändigen „Comédie Humaine an Irren“ geplant war.

Wirkungsgeschichte

Nach der Veröffentlichung der Blendung 1936 gab es einige wohlwollende Reaktionen; zu einem Verkaufserfolg wurde das Buch indes nicht. Canettis Freunde, darunter Alban Berg und Robert Musil, äußerten sich positiv. Thomas Mann, der das Manuskript einige Jahre liegen ließ, bevor er es schließlich las, zeigte sich höflich beeindruckt „von der krausen Fülle, dem Debordierenden seiner Phantasie, der gewiss erbitterten Großartigkeit seines Wurfes“. Hermann Broch sprach etwas vorsichtiger von einer „abstrakten Seelenlandschaft“. Nachdem Die Blendung in England und Frankreich bereits als Meisterwerk gepriesen wurde, verhalf die dritte Auflage dem Buch 1963 auch in Deutschland zu Anerkennung und wurde nun in einem Atemzug mit den Werken eines Franz Kafka und James Joyce genannt.

Über den Autor

Elias Canetti wird am 25. Juli 1905 in Rustschuk in Bulgarien geboren. Beide Elternteile stammen aus Spaniolenfamilien, jüdischen Auswanderern aus Spanien. Im Juni 1911 zieht die Familie nach Manchester, wo Elias, der noch zwei jüngere Brüder hat, zur Schule geht. Im Oktober des Jahres 1912 verstirbt der Vater überraschend. Die Mutter zieht mit ihren Kindern über Paris und Lausanne nach Wien. Hier erlebt Canetti, der erst jetzt die deutsche Sprache lernt, die allgemeine Begeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1916 zieht die Familie abermals um: In Zürich fühlt sich Canetti so wohl, dass er es als „Vertreibung aus dem Paradies“ empfindet, als die Familie 1921 nach Frankfurt umsiedelt. Er kehrt drei Jahre später nach Wien zurück, studiert Chemie und promoviert 1929. Während des Studiums lernt er seine spätere Frau Veza Taubner-Calderon kennen und wird ein begeisterter Anhänger des Dichters und Kritikers Karl Kraus. In dieser Zeit reift seine Idee, ein Buch über das Phänomen der Masse zu schreiben. Der Roman Die Blendung entsteht 1931, wird aber erst 1936 veröffentlicht. In Wien schreibt Canetti auch Theaterstücke wie Die Hochzeit und die Komödie der Eitelkeiten. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich emigriert er 1938 über Paris nach London. Hier nimmt er die Arbeit an Masse und Macht wieder auf, wohl auch unter dem Eindruck des Nationalsozialismus. Veröffentlicht wird das Werk aber erst lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1960. Zunächst mehr oder weniger unbekannt, macht Canetti langsam von sich reden, mit seinem Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch (1956), mit Aufsätzen und Essays und schließlich mit seiner Autobiografie in drei Bänden: Die gerettete Zunge (1977), Die Fackel im Ohr (1980) und Das Augenspiel (1985). Die zahlreichen Preise, die ihm in den 70er und 80er Jahren verliehen werden, werden gekrönt durch den Literaturnobelpreis 1981. Elias Canetti übersiedelt 1972 erneut nach Zürich, zu seiner neuen Frau Hera, mit der er auch ein Kind hat. Er stirbt am 14. August 1994.

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