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Die Gefangene

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Die Gefangene

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Der fünfte Band von Prousts Jahrhundertwerk: ein Eifersuchtsdrama, das Sartres Diktum vorwegnimmt: „Die Hölle, das sind die anderen“.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Eifersucht und Einsamkeit

Die Gefangene ist Teil von Prousts Lebenswerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Ich-Erzähler berichtet darin u. a. von seinem Versuch, seine lebenslange Schreibblockade zu überwinden und seinem müßigen Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem fünften von sieben Bänden kommt er seinem Ziel keinen Zentimeter näher, ganz im Gegenteil: Von morgens bis abends hockt er in seinem stickigen Pariser Zimmer und zermartert sich das Hirn über seine aussichtslose Beziehung zu Albertine. Er hat sie bei sich einziehen lassen, vor allem damit er sie auf Schritt und Tritt überwachen kann. Die Mutmaßungen über ihre lesbischen Eskapaden machen ihn zwar rasend – doch ohne diesen Verdacht langweilt er sich tödlich mit ihr. Proust schuf mit diesem klaustrophobischen Eifersuchtsdrama eine Art Vorläufer des existenzialistischen französischen Beziehungsfilms: Zwei Menschen, auf engem Raum miteinander eingesperrt, machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle und steuern mit schlafwandlerischer Sicherheit am Happy End vorbei. Prousts Figuren sind letztlich zur Einsamkeit verdammt – wir dürfen sie uns als moderne Menschen vorstellen!

Take-aways

  • Die Gefangene ist der fünfte Band des siebenteiligen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, eines der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.
  • Zwischen 1913 und 1927 erschienen, ist das Werk ein nostalgischer Abgesang auf die Belle Époque und ein modernes Erzählexperiment.
  • In Die Gefangene steht die krankhafte Eifersucht des Ich-Erzählers Marcel im Mittelpunkt.
  • Marcel lässt Albertine in seine Pariser Wohnung einziehen, damit er sie besser überwachen kann.
  • Er verlässt kaum noch das Zimmer und vergeudet seine Zeit mit Grübeleien über ihre mutmaßlichen lesbischen Abenteuer.
  • Albertines Besuch einer Abendgesellschaft verhindert er, um selbst hinzugehen und ihre Absichten auszuspionieren.
  • Dabei erfährt er, dass auch zwei bekannte Lesbierinnen erwartet wurden.
  • Eine Aussprache mit Albertine bringt unzählige Lügengeschichten ans Licht.
  • Er spürt, dass sie ihm entgleitet, und täuscht Trennungsabsichten vor, um sich wieder mit ihr zu versöhnen.
  • Einige Tage später fühlt er sich bereit, tatsächlich Schluss zu machen. Doch Albertine hat das Haus schon verlassen.
  • Die Gefangene ist eine emotionale Bankrotterklärung: Weil die Menschen einander fremd bleiben, muss die Liebe scheitern.
  • Proust schrieb den Text bis zu seinem Tod 1922 wie ein Besessener immer wieder um.

Zusammenfassung

Gefangen im eigenen Haus

Nach seiner Rückkehr aus Balbec lebt Marcel in der Pariser Wohnung seiner Eltern. Auch seine Freundin Albertine zieht dort ein. Die alte Dienerin Françoise sieht in dem Mädchen eine elende Schmarotzerin, und Marcels Mutter schreibt aus Combray sorgenvolle Briefe über das in ihren Augen unmoralische Arrangement. Er selbst fühlt sich hin- und hergerissen zwischen totalem Überdruss und rasender Eifersucht. Einerseits wünscht er sich sein selbstbestimmtes Leben zurück, etwa den Luxus, morgens ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können. Andererseits kann er die Vorstellung nicht ertragen, dass seine Freundin Vergnügungen nachgeht, von denen er nichts weiß, denn dann kann er sich erst recht auf nichts anderes mehr konzentrieren. Er geht kaum noch aus dem Haus und hält Albertines Anwesenheit vor seinen Freunden geheim, so groß ist die Furcht, sie könnte mit einem von ihnen flirten. Er erlaubt ihr nur, mit ihrer Freundin Andrée auszufahren, und lässt sich anschließend von dieser einen ausführlichen Bericht übermitteln. Die ersehnte innere Ruhe will sich dennoch nicht einstellen, denn immer wieder ertappt Marcel Albertine bei fahrlässigen oder vorsätzlichen Lügengeschichten. So behauptet sie etwa, eine bestimmte Frau von zweifelhaftem Ruf niemals gekannt zu haben, nur um sich zu einem anderen Zeitpunkt zu rühmen, die hartnäckigen Annäherungsversuche derselben Frau geschickt abgewehrt zu haben. Marcel verdächtigt Albertine irgendwann auch einer lesbischen Beziehung zu Andrée. Es gelingt ihm aber nie, herauszufinden, was Albertine tatsächlich getrieben hat und was nicht.

Geliebtes Traumbild

Am intensivsten liebt Marcel Albertine, wenn sie schläft. Voller Natürlichkeit, einer langstieligen Blüte gleich, liegt sie dann vor ihm ausgestreckt. In solchen Momenten hat er das Gefühl, dass sie ganz und gar ihm gehört. Manchmal legt er sich neben sie, hält sie umschlungen und kommt durch bloßes Streicheln und die Betrachtung ihrer Schönheit zu einem Orgasmus, ohne dass die Schlafende erwacht. Wenn sie allerdings von ihren Ausflügen heimkehrt und ihn neckisch fragt, ob er denn endlich etwas geschrieben habe, kehrt die Wirklichkeit mit aller Härte zurück. Denn nach wie vor vergeudet er müßig sein Leben. Tag für Tag schaut er in der Zeitung nach, ob endlich ein Artikel von ihm gedruckt wurde – immer vergebens. Eines Abends verspricht er Albertine, am folgenden Tag mit der Arbeit zu beginnen. Doch ein unverhoffter Wetterumschwung und die neue Qualität des Lichts machen es ihm gänzlich unmöglich. Anstatt zu schreiben, brütet er den ganzen Tag über Vergangenes nach und steigert sich in seine Eifersucht hinein. Als Albertine bei ihrer Rückkehr mit gespielter Gleichgültigkeit den Wunsch äußert, am folgenden Tag zu den Verdurins zu gehen, beschließt Marcel, diesen Besuch zu verhindern. Er glaubt, dass sie sich ein verbotenes Vergnügen davon erhofft. Andrée gegenüber deutet er am Telefon an, dass er gerne mitkommen würde, woraufhin Albertine ihren Plan aufgibt. Marcel sieht dadurch seinen Verdacht bestätigt. Ihr Kuss an diesem Abend ist kalt und nichtssagend, und er weint die ganze Nacht hindurch.

Die Poesie der Straße

Am nächsten Morgen scheint die Wintersonne hell und warm wie im Frühling in sein Zimmer. Von der Straße her dringen die Sprechgesänge der fahrenden Händler und Handwerker herein. In Marcels Ohren klingen die Rufe der Fischfrauen, Kesselflicker und Ziegentreiber köstlich wie eine „Festouvertüre“. Mit Bedauern stellt er fest, dass sie ein Überbleibsel des alten, aristokratischen Frankreichs sind und dass die Zukunft den Geschäften und Warenhäusern gehört. Albertine teilt ihm mit, dass sie seinem Rat folgen und die Matinee im Trocadéro besuchen werde. Sie ist ganz entzückt von dem morgendlichen Marktgeschrei und bekommt plötzlich große Lust auf die angepriesenen Austern und Muscheln. Marcel verspricht ihr, stattdessen bald Spargel zu kaufen.

Kunst und Verderbtheit

Nach ihrer Abfahrt zum Trocadéro liest Marcel in der Zeitung, dass die Schauspielerin Léa dort auftreten werde. Das beunruhigt ihn, denn Léa ist als Lesbierin bekannt, und er verdächtigt Albertine einer intimen Beziehung zu ihr. Voller Sorge schickt er Françoise mit der Botschaft zum Schauspielhaus, Albertine solle sofort zu ihm kommen. Seine Freundin lässt ihm ausrichten, dass sie ihm gerne gehorche. Das wiederum bewirkt, dass sie Marcel auf einmal völlig gleichgültig ist. Er setzt sich ans Klavier und spielt die Sonate von Vinteuil. Dabei denkt er über das Wesen der Kunst nach. Liegt in ihr eine tiefere Wahrheit, oder ist sie nichts als virtuos erlernte Technik?

„(...) überlegene geistige Qualitäten haben mich bei einer Frau immer so wenig interessiert, dass ich, wenn überhaupt, nur aus purer Höflichkeit der einen oder anderen solche Qualitäten attestiert habe.“ (S. 19)

Marcel beendet sein Klavierspiel und läuft Albertine entgegen, als er aus Jupiens Werkstatt hässliche Worte vernimmt: Der Geiger Morel, seit einiger Zeit mit Jupiens Nichte verlobt, schimpft das zitternde Mädchen „Hure“ und „elende Schlampe“. Marcel erschauert vor dieser Szene. Er kommt zu dem Schluss, dass künstlerische Begabung und moralische Verderbtheit bei Menschen wie Morel oft sehr nahe beieinanderliegen. Anschließend unternimmt er mit Albertine einen Ausflug in den Bois de Boulogne. Beim Anblick der vielen schönen, jungen Frauen überkommt ihn das Verlangen nach neuen Liebesabenteuern und einer Reise nach Venedig. Die eigene Gefangenschaft wird ihm erneut schmerzlich bewusst. Auch Albertine scheint müde und verdrossen. Marcel glaubt in ihrem Verhalten Anzeichen für Fluchtpläne zu erkennen. Er verspricht ihr kostbare Kleider des Modemachers Fortuny. Dann bricht er auf zur Abendgesellschaft der Verdurins, ohne ihr etwas davon zu sagen.

Ein qualvoller Verdacht

Auf dem Weg dorthin trifft er Morel, der schluchzend auf dem Bordstein sitzt. Marcel gegenüber behauptet er, er sei untröstlich, da er am Nachmittag eine geliebte Person verletzt habe. In Wirklichkeit ist er seiner Verlobten aber einfach überdrüssig und würde am liebsten mit ihr brechen. Er weiß allerdings, dass dem Baron von Charlus sehr viel an einer Heirat zwischen ihnen beiden liegt, und fürchtet, dass dieser ihm sämtliche finanzielle Unterstützung entziehen werde. Seine Tränen gelten nicht dem Mädchen, sondern sind Ausdruck einer nervösen Angst vor dem finanziellen Ruin.

„Tatsächlich hatte ich geglaubt, mit Balbec auch Gomorrha hinter mir zu lassen und Albertine völlig daraus zu lösen; aber ach! Gomorrha war bis in alle Winkel der Erde zerstreut.“ (S. 27)

Vor dem Haus der Verdurins begegnet Marcel dem Baron. Er bemerkt die Veränderung im Erscheinungsbild des einst so streng und männlich aussehenden Charlus: Stark geschminkt, mit weiblicher Brust und wogendem Hinterteil wirkt er wie die Karikatur eines Homosexuellen. Obwohl er nach wie vor glaubt, sein Laster erfolgreich geheim halten zu können, wird es längst in seinen Reden offenbar. Sobald er zwei Männer in einer vertrauten Unterhaltung miteinander sieht, macht er anzügliche Bemerkungen. Er stößt spitze, affektierte Schreie aus und behauptet im Brustton der Überzeugung, dass weniger als die Hälfte aller Menschen „Heilige“, also heterosexuell seien. Mit einer peinlichen Besessenheit kommt er immer wieder auf sein Lieblingsthema zurück, ohne sich im Geringsten der Gefährlichkeit solcher Reden bewusst zu werden. Marcel erfährt vom Baron, dass zu der Aufführung eines unveröffentlichten Werks von Vinteuil bei den Verdurins eigentlich auch dessen Tochter und deren Freundin angemeldet gewesen seien. Im letzten Moment hätten sie ihren Besuch aber abgesagt. Marcel spürt wieder den Stachel der Eifersucht: Er meint nun den wahren Grund dafür zu kennen, dass Albertine unbedingt zu den Verdurins gehen wollte.

Hoher Kunstgenuss und tiefer Fall

Der Baron von Charlus hat das Konzert vor allem deshalb organisiert, um Morels Karriere voranzubringen. Er hat seine exzellenten Beziehungen spielen lassen und einige der vornehmsten adligen Damen in Madame Verdurins Salon gelockt. Mit Ausnahme der Königin von Neapel würdigen sie jedoch die bürgerliche Gastgeberin keines Blickes, grüßen sich lediglich untereinander und zeigen unverhohlen ihre Verachtung. Die Hausherrin kocht vor Wut. Mit seinem heuchlerischen Standesdünkel steht der Baron ihrem gesellschaftlichen Aufstieg klar im Weg. Er weigert sich, mit wichtigen Beamten und Vertretern des niederen Adels zu verkehren, die ihren Salon zu einem der besten in Paris machen würden. Außerdem passt es ihr nicht, wie sehr er Morel vereinnahmt und ihn herumkommandiert. Sie beschließt, die beiden zu trennen und den Baron aus ihrem kleinen Kreis zu verstoßen.

„ (...) ihr Leib aber (an der Stelle, die beim Mann verunziert ist wie mit einem Krampen, der in einer demontierten Statue stecken geblieben ist) schloss sich mit zwei muschelförmigen Schalen über dem Ansatz der Schenkel zu einer sanften, beruhigenden und klösterlichen Wölbung wie der des Horizonts nach Sonnenuntergang.“ (S. 108)

Dann beginnt das Konzert. Marcel erlebt es als künstlerische Offenbarung: Neue, wunderschöne Welten und Ideen tun sich ihm auf. Die schillernde Ausdruckskraft der Musik steht in krassem Gegensatz zu seiner Erinnerung an den unscheinbaren, schüchternen Komponisten Vinteuil. Am Ende ist Marcel überzeugt, dass wahre Kunst weit über die oft schlichte Existenz des Künstlers hinausgeht. Tatsächlich schenkt ihm die Musik ein ähnlich sinnliches Vergnügen wie einst der Geschmack einer in Tee eingetauchten Madeleine. Als die Instrumente verklungen sind, schmerzen die Worte der anwesenden Gäste in seinen Ohren. Es scheint ihm, als hätten die Menschen mit der Entwicklung der Sprache die Fähigkeit verloren, sich wie in der Musik auf der Ebene ihrer Seelen zu verständigen.

„‚Oh! Muscheln!‘, sagte Albertine, ‚ich möchte so gern welche essen!‘“ (S. 176)

Madame Verdurin sät derweil Zwietracht zwischen dem Baron und Morel. Ihr Mann, Monsieur Verdurin, warnt den Geiger vor dem schlechten Ruf seines Gönners als homosexueller Lüstling. Sie selbst lügt, Charlus habe sich über Morels niedere Herkunft lustig gemacht. Damit stochert sie in einer Wunde, denn Morels Onkel war der Kammerdiener von Marcels Onkel – ein Detail, das Morel stets geheim zu halten versuchte. Tatsächlich hat der Baron Madame Verdurin unter dem Siegel der Verschwiegenheit von dieser Verwandtschaft erzählt. Morel glaubt dadurch jedoch alle Verleumdungen bestätigt zu wissen. Als der völlig ahnungslose Baron auftaucht, schimpft der Geiger ihn einen Perversen und verbietet ihm jegliche Annäherung. Zu Marcels großem Erstaunen erlebt Charlus keinen seiner berühmten Wutanfälle. Nein, er erstarrt vor Schreck und stammelt nur ein paar Worte des Unverständnisses. Einzig die Königin von Neapel, die die Szene empört beobachtet hat, zeigt sich mitfühlend und begleitet den liebeskranken Baron hinaus, ohne Madame Verdurin eines Blickes zu würdigen.

Der Bluff

Bei seiner Rückkehr nach Hause erzählt Marcel Albertine, wo er den Abend verbracht hat. Sie ist sichtlich erbost, behauptet aber, es sei ihr vollkommen egal. Marcel spürt ihre Unaufrichtigkeit und wird ebenfalls zornig. Er spricht sie auf viele Verdachtsmomente an und erfährt dabei, dass sie ihn noch viel schamloser angelogen hat als bisher angenommen. Albertine scheint überzeugt zu sein, dass er eine sichere Informationsquelle besitzt. Sie versucht daher, seinen Argwohn durch freiwillige Berichte zu zerstreuen. Zum Beispiel behauptet sie nun, Mademoiselle Vinteuil und deren Freundin in Wahrheit nie gekannt zu haben. Sie habe es ihm damals nur erzählt, um bei ihm Eindruck zu schinden, da sie die beiden Frauen für intellektuell hielt. Innerlich kocht Albertine vor Wut über Marcels Spionagetätigkeit. Dann bricht es aus ihr heraus: Wenn sie Geld hätte und frei wäre, würde sie es sich „hintenherum“ – den Satz lässt sie unvollendet, doch Marcel ergänzt in Gedanken „besorgen lassen“, bestürzt über diese abscheuliche Wendung. Er spürt, dass sie ihm entgleitet. Listig täuscht er eine Trennung von seiner Seite vor: Sie solle am besten früh am Morgen, während er noch schlafe, das Haus verlassen. Jetzt bestreitet Albertine, dass sie bei ihm unglücklich sei, und schwört, sie wolle bei ihm bleiben. Marcel beendet das Täuschungsmanöver und bietet ihr eine Versöhnung an. Erleichtert stimmt sie zu.

Die Flucht

Anschließend schenkt Marcel ihr mehrere kostbare Kleider von Fortuny. Doch die anfängliche Unbeschwertheit ihrer Beziehung ist endgültig verflogen: Aus der wilden Amazone ist eine müde Sklavin geworden, die er kaum noch begehrenswert findet. Sobald allerdings seine Eifersucht neue Nahrung erhält, flammt auch die Liebe wieder auf. Er weiß genau, dass die Situation aussichtslos ist und sie beide zum Unglücklichsein verurteilt sind. Doch aus eigener Kraft kann er sich nicht befreien. Eines Abends äußert er während eines Streits seinen Verdacht bezüglich Andrée. Albertine streitet alles ab, kann aber ihre Wut kaum verbergen. An diesem Abend erwidert sie seinen Kuss nicht. Er hört, wie sie mitten in der Nacht mit einer heftigen Bewegung das Fenster öffnet – wegen seiner Angst vor Durchzug hat er ihr das verboten –, und es kommt ihm vor, als fürchte sie, bei ihm zu ersticken. Nur wenige Tage nach ihrem Streit wacht Marcel an einem wunderschönen Frühlingsmorgen auf. Ein unbändiger Tatendrang erfüllt ihn. Er möchte raus ins Grüne, eine unbekannte Frau erobern und nach Venedig reisen. Da er glaubt, dass Albertine ihm nicht mehr böse ist, will er sich nun mit ihrem Einverständnis von ihr trennen. Er schellt nach Françoise, die ihm einen Reiseführer für Venedig bestellen soll. Sie richtet ihm aus, dass Albertine am Morgen ihre Koffer verlangt habe und verschwunden sei.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Hauptschauplatz von Die Gefangene ist das Pariser Zimmer des Ich-Erzählers Marcel. In die klaustrophobisch-stickige Atmosphäre dieser vier Wände dringen die Geräusche und Gerüche des Viertels, während der Müßiggänger seinen Eifersuchtsfantasien nachhängt. Der fünfte Band des Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist in wenige, detailliert beschriebene Tagesabläufe gegliedert, verteilt über etwa ein halbes Jahr. Wie keiner der vorherigen ist dieser Band streng durchkomponiert, fast wie ein Musikstück: Die geschilderten Tage ähneln in ihrem Aufbau den Sätzen in einem Konzert. Sie beginnen meist mit Sinneseindrücken, mit denen Marcel erwacht, und enden mit dem Zubettgehen der beiden Hauptfiguren. Darüber hinaus komponiert Proust wahre Wortgemälde, die mehrmals auf verschiedene Richtungen der zeitgenössischen Kunst verweisen. Albertine etwa „malt“ er auf diese Weise mal impressionistisch, futuristisch oder kubistisch. Die Handlung tritt dabei stark zurück, im Vordergrund stehen ästhetische Reflexionen, mit Scharfblick aufgenommene Charakterstudien und nicht zuletzt die Beschreibung der oft quälenden und zähflüssigen Zeit, die der Protagonist durch seine ausweglose Liebe verliert.

Interpretationsansätze

  • In Die Gefangene treibt Proust das Schlüsselmotiv von der Unmöglichkeit der Liebe auf die Spitze: Beim Versuch, Albertine einzusperren und sie so von dem angenommenen Laster der lesbischen Liebe abzuhalten, wird Marcel selbst zum Gefangenen seiner Eifersucht.
  • Albertine indessen bewahrt sich einen Rest von Freiheit, indem sie Marcel den Zugang zu ihrem Innersten verwehrt. Ihre Lügen und Ausweichmanöver verdeutlichen die im Roman mehrfach thematisierte Oberflächlichkeit menschlicher Beziehungen.
  • Marcel und damit auch der Leser erhalten nie Gewissheit darüber, ob Albertine tatsächlich Frauen liebt oder nicht. Ihre Berichte und Marcels Vorstellungen von der Wahrheit verändern sich ständig, jede objektive Erkenntnis scheint unmöglich zu sein.
  • Am Beispiel der Musik Vinteuils formuliert Proust eine Art ästhetisches Manifest: Wahre Kunst steht demnach über der Zufälligkeit und Wechselhaftigkeit des Lebens. In der Tiefe von Vinteuils Werk liegt laut Proust die „verlorene Heimat“ des Künstlers, die er in unterschiedlichen Variationen zum Ausdruck bringt.
  • Proust arbeitet mit zahlreichen Leitmotiven und Metaphern. Dazu gehören die mehrfach erwähnten Kleider des Schneiders Fortuny: Einmal wird ihre venezianische Pracht beschrieben und damit Marcels Fernweh ausgedrückt, an anderer Stelle werden die auf den Stoff gedruckten Vögel erwähnt – Symbole der Auferstehung, die eine Ahnung von Albertines Tod heraufbeschwören, der in Band 6 des Romanzyklus tatsächlich eintritt. Ein wiederkehrendes Motiv sind auch die Rufe der fahrenden Händler mit ihren erotischen Nebenbedeutungen: Sie fordern Albertine indirekt auf, aus ihrem Gefängnis auszubrechen und ihre Sexualität auszuleben.
  • Das Schaffen von Kunst durch die Erinnerung steht im Mittelpunkt von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Proust unterscheidet zwischen dem willentlichen und dem unwillkürlichen Erinnern. Während Ersteres oft scheitert, wird Letzteres spontan durch unvermittelte Sinneseindrücke hervorgerufen. Das Glücksgefühl, das Marcel bei der Musik von Vinteuil verspürt, ist ein Beispiel dafür.

Historischer Hintergrund

Belle Époque und Fin de Siècle

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spielt im Frankreich der Belle Époque, in einer Zeit des relativen Friedens und Wohlstands zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Die 1875 ausgerufene Dritte Republik bescherte dem aufstrebenden Großbürgertum ideale Bedingungen, um von der zweiten Welle der industriellen Revolution zu profitieren. Automobile verdrängten die Kutschen von den Straßen, Flugzeuge und die Verbreitung des Telefons ließen Entfernungen schwinden, und zur Pariser Weltausstellung 1889 baute man den Eiffelturm, der bis in die schwindelnde Höhe von 300 Metern emporgetrieben wurde. In den Pariser Salons feierten die Reichen und Privilegierten das Leben, die Schönheit und sich selbst.

Im kulturellen Leben gewann etwa ab 1890 der Begriff des Fin de Siècle an Bedeutung. Zur Zeit der Jahrhundertwende wechselten sich übersteigerte Zukunftseuphorie und verzweifelte Endzeitstimmung ab. Die rasanten Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft sorgten für mehr Freiheit, während bestehende Wertvorstellungen ins Wanken gerieten. Viele Künstler rebellierten gegen die Zwänge und Konventionen ihrer Zeit mit einer frivolen Lebensweise, exzessivem Drogenkonsum und einem offeneren Umgang mit Homosexualität. Der typische Dandy des Fin de Siècle sah seine Lebensaufgabe vor allem darin, seinen Stil und sich selbst zu kultivieren. Marcel Proust gilt zugleich als großer Chronist dieser Epoche und als Wegbereiter der auf sie folgenden literarischen Moderne.

Entstehung

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit war ursprünglich nur als zweibändiges Werk geplant. Als der erste Band Unterwegs zu Swann 1913 in Druck ging, zeichnete sich ab, dass das Gesamtwerk wohl drei Teile umfassen würde (letztendlich wurden es dann sogar sieben), woraufhin Proust die Gliederung veränderte und neue Figuren und Episoden hinzufügte. Der zweite Band war bereits gesetzt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Prousts Verleger das Projekt auf Eis legte. Auch das Leben des Autors schrieb den Roman mehrmals um: Im Mai 1914 kam Prousts Sekretär Alfred Agostinelli, eines von mehreren Vorbildern für die Figur der Albertine, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Proust entwickelte daraufhin einen völlig neuen Romanteil, der Albertines Gefangenschaft, ihre Flucht und ihren Tod behandeln sollte.

Die Gefangene ist der erste Band innerhalb des Romanzyklus, von dem keine durch Proust autorisierte Endfassung vorliegt. Noch bis kurz vor seinem Tod im November 1922 schrieb er die Manu- und Typoskripte immer wieder um und fügte ganze Abschnitte an Seitenrändern, auf Rückseiten und in separaten Heften hinzu. Diese Zusätze machen etwa die Hälfte der gesamten Textmenge von Die Gefangene aus. Robert Proust, der Bruder des Dichters, und sein Verleger Jacques Rivière fügten vor der Drucklegung die verstreuten Teile zusammen und beseitigten die vielen Unstimmigkeiten und Widersprüche im Text.

Wirkungsgeschichte

Die Gefangene erschien 1923 in Paris, ein Jahr nach Prousts Tod. Im Mittelpunkt des Interesses standen fortan die mit Spannung erwarteten letzten beiden Bände, die Robert Proust und Rivière 1925 und 1927 veröffentlichten. Sie hatten die Texte gründlich überarbeitet und vertraten die These, damit eine vom Autor beabsichtigte Version des Gesamtwerks vorgelegt zu haben. In den neueren Editionen wurde jedoch versucht, die drei nachgelassenen Bände so unvollendet zu veröffentlichen, wie Marcel Proust sie hinterlassen hatte. Für den Leser ist das manchmal verwirrend: So stirbt z. B. der Schriftsteller Bergotte im fünften Band und weilt im letzten wieder unter den Lebenden. Die unbereinigten Ausgaben verfügen jedoch über erklärende Angaben im Anhang und spiegeln das sprunghafte Schaffen und die innere Zerrissenheit des Autors auf eindrucksvolle Weise wider.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gilt vielen als das wichtigste literarische Werk des 20. Jahrhunderts. Spätestens 1972 fand es mit einem Sketch der britischen Komikergruppe Monty Python auch in die Popkultur Eingang: Darin sollen die Teilnehmer eines „Proust-Zusammenfassungs-Wettbewerbs“ den Inhalt der sieben Bände in 15 Sekunden wiedergeben – alle scheitern, und am Ende gewinnt „das Mädchen mit den größten Titten“. Volker Schlöndorff verfilmte 1984 den ersten Band unter dem Titel Eine Liebe von Swann. Zur Jahrtausendwende kam es dann zu einem echten Proust-Revival: Alain de Botton schrieb 1997 den augenzwinkernden Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann, und 1998 erschien in Frankreich zum Entsetzen orthodoxer Proust-Fans Stéphane Heuets Comic-Adaption des Romans. Raoul Ruiz verfilmte 1999 Die wiedergefundene Zeit, Chantal Akerman 2000 Die Gefangene, und das Londoner Royal National Theater brachte im selben Jahr das Proust Screenplay des britischen Dramatikers Harold Pinter auf die Bühne.

Über den Autor

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Auteuil bei Paris geboren. Sein Vater ist ein berühmter Arzt, die Mutter stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie. Ab 1878 verbringt er die Ferien in dem Dorf Illiers bei Chartre, das später als Vorbild für das fiktive Combray dienen wird. 1881 erleidet der kränkliche Proust seinen ersten Asthmaanfall. Ab dem Folgejahr besucht er das Lycée Condorcet, wo er zusammen mit Schulkameraden verschiedene literarische Zeitschriften herausbringt. Nach dem Abitur dient Proust trotz seiner schwachen Gesundheit für ein Jahr in der Armee in Orléans. Anschließend studiert er Politik und Jura, bricht ab und macht in Philosophie und Literatur einen Abschluss. Auf Druck seines Vaters nimmt er 1895 eine unbezahlte Stelle als Bibliothekar an, lässt sich aber bald darauf krankschreiben. Sein nach außen hin müßiges Leben, die exzellenten Verbindungen zum Adel sowie die Besuche in den schicksten Pariser Salons verschaffen ihm den Ruf eines Snobs und gesellschaftlichen Emporkömmlings. Der Autor kämpft zeitlebens mit seiner Homosexualität, die sein Vater ihm während seiner Jugend noch durch einen Bordellbesuch hat austreiben wollen. Proust hat zahlreiche Liebhaber, bekennt sich aber nie offen zu seiner sexuellen Orientierung. 1896 erscheint sein erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung Les plaisirs et les jours (Freuden und Tage). Mit einem Kritiker, der sich abschätzig darüber äußert, duelliert er sich. 1903 stirbt sein Vater und zwei Jahre darauf die über alles geliebte Mutter. Proust erbt ein Vermögen, das ihm ein arbeitsfreies Leben im Luxus ermöglicht. Doch seine Gesundheit verschlechtert sich zusehends. Er zieht sich mehr und mehr in das Schlafzimmer seiner Pariser Wohnung zurück und arbeitet an seinem Lebenswerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Den ersten der sieben Bände gibt er 1913 auf eigene Kosten heraus. Die letzten drei veröffentlicht sein Bruder posthum bis 1927. Marcel Proust stirbt am 18. November 1922 an einer Lungenentzündung.

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