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Die Wahlverwandtschaften

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Die Wahlverwandtschaften

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Buch, tausend Interpretationen: Goethes „Wahlverwandtschaften“ sind eine wahre Wonne für Entschlüsselungskünstler.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Weimarer Klassik

Worum es geht

Ein vielschichtiger Eheroman

Goethes Wahlverwandtschaften sind der gemeinen Küchenzwiebel sehr ähnlich: Kaum meint der Leser bzw. der Koch, ihrem Kern etwas näher gekommen zu sein, da muss er unter Tränen feststellen, dass er noch viele Schichten vor sich hat. Die Handlung ist mit wenigen Worten umrissen: Ein alternder Baron verliebt sich in die blutjunge Nichte seiner Ehefrau, und die Baronesse wirft ein Auge auf seinen Freund. Was auf natürliche Weise zueinander strebt, scheitert doch auf ganzer Linie: Am Ende gibt es vier Todesfälle und keine Hochzeit. Rund um diese Haupthandlung hat Goethe einen schier unendlichen Schatz Metaphern, gespiegelter Motive und ironischer Seitenhiebe auf seine Zeitgenossen angeordnet. Vom eindeutig zweideutigen Anfangssatz bis hin zum Gips im Fußboden einer Kapelle hat scheinbar alles einen tieferen Sinn. Wir müssen uns den damals 60-jährigen Goethe als heiter-verschmitzten Menschen vorstellen. Schließlich hat er nach eigener Aussage in seinem Roman mehr versteckt, als "irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre". 200 Jahre und tausend Interpretationsversuche später scheint der Schatz noch immer nicht ganz gehoben zu sein. Wenn das kein Geniestreich des alten Meisters war!

Take-aways

  • Goethes Die Wahlverwandtschaften ist einer der komplexesten Romane der deutschen Literatur.
  • Es geht darin um den Konflikt zwischen Natur und Kultur, zwischen menschlicher Leidenschaft und gesellschaftlichen Normen.
  • Der reiche Baron Eduard und seine Frau Charlotte haben spät geheiratet und führen ein beschauliches Landleben.
  • Analog zu dem chemischen Phänomen der "Wahlverwandtschaften" löst sich die Eheverbindung auf, als eine dritte und vierte Person hinzukommen.
  • Charlotte fühlt sich zum rationalen Hauptmann und Eduard zur romantischen Ottilie hingezogen.
  • Eines Nachts verkehren die Eheleute miteinander, während jedem in Gedanken die geliebte dritte Person vorschwebt.
  • Charlotte wird schwanger und gebärt einen Sohn, der auf verblüffende Weise dem Hauptmann und Ottilie ähnelt.
  • Charlotte will ihre Ehe retten und entsagt der Liebe zum Hauptmann. Eduard jedoch verlangt die Scheidung, um Ottilie heiraten zu können.
  • Kurz vor Charlottes Entscheidung ertrinkt ihr Neugeborenes durch Ottilies Schuld im See.
  • Ottilie entsagt ihrem Leben, hungert sich zu Tode und wird bald als Heilige verehrt. Kurz nach ihr stirbt auch Eduard.
  • Goethe spiegelt den Grundkonflikt auf vielfache Weise: mit Hilfe von Parallelhandlungen, einer Binnenerzählung und Metaphern aus Natur und Architektur.
  • Seine Zeitgenossen verurteilten das Werk als unmoralisch. Heute gilt es als genialer Wurf des alten Goethe.

Zusammenfassung

Langeweile auf dem Land

Der Baron Eduard und seine Frau Charlotte führen ein zurückgezogenes Leben auf einem herrschaftlichen Landgut. Er kümmert sich um den Garten und sie sich um die Finanzen. In ihrer Jugend waren die beiden ein Liebespaar, wurden aber gezwungen, sich anderweitig zu verheiraten. Nach dem frühen Tod ihrer Ehepartner bat Eduard Charlotte um ihre Hand. Er wird der Zweisamkeit jedoch schon bald überdrüssig und möchte deshalb seinen besten Freund, einen Hauptmann, zu sich holen. Trotz unguter Vorahnungen gibt Charlotte dem Drängen ihres Mannes schließlich nach.

Das Gleichnis der Wahlverwandtschaften

Nach der Ankunft des Freundes beginnen die Männer mit der gemeinsamen Arbeit: Sie wollen vor allem das Gut korrekt ausmessen und die Pachtverträge neu regeln. Charlotte gefällt zwar die kluge und besonnene Art des Hauptmanns. Doch angesichts des Dritten im Bunde wünscht sie sich nun eine vierte Person herbei: Nach der Hochzeit hat sie ihre Tochter Luciane zusammen mit ihrer Nichte Ottilie in eine Mädchenpension gegeben. Die schüchterne Ottilie leidet dort unter dem Einfluss der herrischen Luciane, und Charlotte glaubt, dass sie sich auf dem Landgut unter ihrer Aufsicht besser entwickeln kann.

„Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.“ (S. 5)

Eine abendliche Unterhaltung über chemische Zusammenhänge liefert einen willkommenen Anlass für die Entscheidung: Wenn man verdünnte Schwefelsäure zu Kalkstein gibt, entsteht Gips, und die zuvor im Kalk gebundene Säure löst sich auf. Halb ernst, halb scherzend weist Charlotte auf die Parallelen zu menschlichen Beziehungen hin: Leider kenne sie allzu viele Fälle, wo die Verbindung zweier Menschen durch das Eindringen eines Dritten zerstört worden sei. Die Chemie, entgegnet Eduard, habe auch hier eine Antwort parat: Man müsse nur ein viertes Element hinzufügen, damit zwei neue, zufriedene Paare aus den alten entstünden. Die Chemiker nennen dieses Phänomen eine "Wahlverwandtschaft". Die Eheleute beschließen, Ottilie zu sich zu holen, damit Charlotte eine Gefährtin erhält.

Neue Neigungen

Ottilie findet sich schnell in die ihr zugedachte Rolle der Haushälterin ein. Dienstbeflissen liest sie den Menschen ihre Wünsche buchstäblich von den Augen ab. Ihre Freundlichkeit färbt auf alle Hausgenossen ab und sorgt für eine perfekte Harmonie. Eduard fühlt sich immer mehr zu Ottilie hingezogen, während Charlotte und der Hauptmann sich zusammentun, um das Dorf und den Schlosspark zu verschönern. Auf Ottilies Vorschlag hin soll auf der Anhöhe ein Lusthaus gebaut werden, das einen herrlichen Ausblick auf das Gebirge und die drei Teiche im Park bietet. An Charlottes Geburtstag wird mit den Dorfbewohnern und adligen Nachbarn die Grundsteinlegung des neuen Hauses gefeiert. Ein Maurergeselle hält dazu eine feierliche Rede, trinkt ein Glas Wein in einem Zug aus und wirft es in die Luft, damit es zerschelle und dem Bau Glück bringe. Doch ein Arbeiter auf dem Baugerüst fängt es lachend auf und zeigt es stolz herum: Auf dem Glas sind die ineinander verschlungenen Buchstaben E und O eingraviert. Es gehört Eduard, der eigentlich auf den Namen Otto getauft ist.

Neue Besucher

Abends kommt Mittler zu Besuch. Der ehemalige Geistliche hat es sich, ganz seinem Namen entsprechend, zur Lebensaufgabe gemacht, zwischen Streithähnen zu vermitteln. Nichts ist ihm heiliger als die Ehe, und so verschwindet er unverzüglich, als der Graf und die Baronesse, ein prominentes Paar von Ehebrechern, im Hof vorfahren. Vor Jahren schon haben beide die Scheidung von ihren Ehepartnern verlangt, doch die Gattin des Grafen will ihn nicht freigeben. Charlotte ist bei dem Besuch nicht ganz wohl. Sie fürchtet, dass die beiden einen schlechten Einfluss auf Ottilie haben könnten. Tatsächlich redet das Paar betont freimütig über das Zwangskorsett der Ehe. Der Graf berichtet augenzwinkernd vom Vorschlag eines Freundes, man solle sich nur auf fünf Jahre verheiraten - gerade genügend Zeit, um ein paar Kinder zu zeugen.

Ehebruch im Geiste

Am Abend bittet der Graf Eduard, ihn zu den Zimmern der Frauen zu führen. Die Baronesse erwartet ihn dort. Eduard geht mit ihm und bleibt dann unschlüssig im Flur stehen. Im Geiste sieht er Ottilie an einer Schreibarbeit sitzen, die sie für ihn erledigen wollte. Er möchte zu ihr. Weil aber kein direkter Weg in ihre Gemächer führt, klopft er an Charlottes Tür. Diese wiederum erhofft und fürchtet zugleich einen nächtlichen Besuch des Hauptmanns. Als sie schließlich öffnet, sind beide Ehepartner vom Anblick des anderen enttäuscht. Eduard flüchtet sich in Scherze und bittet seine Frau, bei ihr bleiben zu dürfen. Doch während sie miteinander schlafen, hat Charlotte im Geiste den Hauptmann und Eduard Ottilie vor Augen.

„Es ist schlimm genug, rief Eduard, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.“ (S. 41 f.)

Am nächsten Tag reicht Ottilie Eduard die fertige Schreibarbeit. Er traut seinen Augen nicht: Auf den letzten Seiten hat sie seine eigene Handschrift eins zu eins kopiert. Er sieht darin einen Beweis ihrer Liebe und sie fallen sich in die Arme. Wenig später treten der Hauptmann und Charlotte durch die Tür. Sie kommen verspätet von einer gemeinsamen Bootsfahrt zurück, auf der sie sich geküsst und gegenseitig ihre Liebe gestanden haben. Doch bei ihnen hat die Vernunft gesiegt. Sie sind übereingekommen, den Vorfall als "Episode" zu vergessen. Der Hauptmann will eine neue Stellung antreten und Charlotte will ihre Ehe erhalten.

Böse Vorzeichen

Anders als seine Frau steigert sich Eduard ganz in seine Leidenschaft hinein. Ottilie versichert er, dass Charlotte den Hauptmann heiraten und in eine Scheidung einwilligen werde. Die Arbeiten an Haus und Park treibt er ungeachtet aller Kosten voran, damit sie rechtzeitig zu Ottilies Geburtstag fertig werden. Die Feier beginnt als rauschendes Fest. Doch dann brechen die Deiche an der Stelle, an der die drei Teiche zu einem See zusammengeführt werden sollen. Zahlreiche Gäste fallen ins Wasser; ein Knabe wird gar erst im letzten Moment vom Hauptmann vor dem Ertrinken gerettet. Die Festgesellschaft löst sich auf. Eduard besteht darauf, am See allein mit Ottilie das Geburtstagsfeuerwerk anzuschauen.

„Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit seine Milde zu beweisen.“ (Mittler, S. 88)

Am nächsten Tag reist der Hauptmann ab und Charlotte nimmt ihren Mann ins Gebet: Wenn ihre Ehe noch eine Chance haben soll, müsse Ottilie fort - entweder zurück in die Pension oder zu einer anderen Familie. Doch Eduard will davon nichts wissen. Er stimmt nur zum Schein der Abreise seiner Geliebten zu und verlässt dann selbst auf unbestimmte Zeit sein Haus. In einem Abschiedsbrief nötigt er Charlotte, Ottilie bei sich zu behalten, bis er sich gefangen habe. Nur unter dieser Bedingung werde er sich von ihr fernhalten. Andernfalls gehöre sie ihm.

„Niemals reizte sie den Mann, ja, seinem Verlangen kam sie kaum entgegen; aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt.“ (über Charlotte, S. 106)

Eduard zieht in ein abgelegenes Bauernhaus und gibt sich dort wilden Phantasien hin. Mittler macht ihn ausfindig und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass Eduard weiter vom rechten Pfad abgekommen ist denn je zuvor. Eduard zeigt ihm den während der Grundsteinlegung aufgefangenen Kelch mit den Initialen von Ottilie und ihm und behauptet feierlich, dies sei ein Wink des Schicksals. Er schickt Mittler mit der Bitte zu Charlotte, ihm die Scheidung zu gewähren. Diese empfängt den frommen Mann mit einer Neuigkeit, die alles in einem anderen Licht erscheinen lässt: Sie ist schwanger. Der Appell an Eduards Vatergefühle geht jedoch ins Leere. Eduard beschließt, in den Krieg zu ziehen und auf dem Schlachtfeld den Tod zu suchen.

Die Heiligenkapelle

Ein junger Architekt führt unterdessen die Arbeiten an dem Lusthaus und den Parkanlagen weiter. In der Dorfkirche entdeckt er eine ungenutzte Seitenkapelle und beschließt, diese mit Malereien von Engeln und Heiligenfiguren zu verschönern. Ottilie hilft ihm dabei. Auf wunderliche Weise beginnen die Gesichter der Figuren, die der Architekt ausmalt, mehr und mehr Ottilie zu gleichen. Er ist offenbar in das Mädchen verliebt. Erfüllt vom Schmerz um Eduard sieht diese im Architekten jedoch nicht mehr als einen Bruder.

Geburt und Tod

Mit den ersten Herbststürmen bricht Charlottes vergnügungssüchtige Tochter Luciane in das ruhige Leben der Gutsbewohner herein. Luciane ist in allem das krasse Gegenteil von Ottilie: selbstverliebt, geltungsbedürftig und blind gegenüber den Gefühlen anderer. Sie zwingt die Gesellschaft zu wilden Schlittenfahrten, ausgelassenen Bällen und dilettantischem Theater. Da ihre Schauspielkünste nicht die besten sind, schlägt der Architekt ihr vor, berühmte Gemälde nachzustellen. Luciane ist begeistert, schließt aber Ottilie eifersüchtig von diesen "lebenden Bildern" aus. Sie bemerkt auch die Gefühle des Architekten und bietet ihm prompt eine Stellung bei sich an, um ihn von Ottilie fortzureißen. Nach Lucianes Abreise kurz vor Weihnachten besteht der Architekt darauf, ein lebendes Bild von Christi Geburt zu inszenieren. Ottilie stellt darin die Mutter Gottes an der Krippe dar. Ihre Wirkung auf die Zuschauer ist überwältigend: Nicht einmal die großen Meister haben Marias Reinheit und Demut mit solcher Vollendung gemalt, wie Ottilie sie verkörpert.

„In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.“ (S. 107)

Unbemerkt ist während der Vorstellung der pädagogische Gehilfe aus der Mädchenpension in den Raum getreten. Ihm gefällt die Inszenierung nicht. Alle frömmelnden Bilder sind dem strengen Protestanten verdächtig. Der Gehilfe ist vor allem gekommen, um Ottilie zu umwerben. Denn die Pensionsvorsteherin will ihn demnächst zu ihrem Nachfolger machen, nur fehlt ihm dazu noch die passende Ehefrau. Angesichts Eduards Drohungen zögert Charlotte jedoch, ihre Nichte fortzugeben. Sie vertröstet den Gehilfen auf die Zeit nach der Geburt ihres Kindes. Wenige Wochen später bringt Charlotte einen Sohn zur Welt. Obwohl niemand an ihrer Tugend zweifelt, sieht das Kind dem Hauptmann und Ottilie verblüffend ähnlich. Er soll Otto heißen, genau wie sein Vater und der Hauptmann. Die Taufe endet mit einem bösen Omen: Der alte Dorfgeistliche lehnt sich in seinen Stuhl zurück und stirbt.

Unglück im See

Ottilie kümmert sich in ihrer ganzen freien Zeit um das Neugeborene. Sie beschließt, nur noch uneigennützig zu lieben, Eduard zu entsagen und sich mit niemand anderem zu verbinden. Das Lusthaus ist nun fast fertig, sodass die beiden Frauen während der warmen Sommertage mit dem Kind dorthin ziehen. Inzwischen ist Eduard heil aus dem Krieg in das Bauernhaus zurückgekehrt. Den Hauptmann überredet er, um Charlottes Hand anzuhalten, damit diese Eduard die Scheidung gewähre. Während der Hauptmann Charlotte aufsucht, will Eduard in einem nahe gelegenen Dorf auf ihn warten. Doch seine Ungeduld treibt ihn schon vorher in den Park, wo er Ottilie mit dem Kind am See sitzen sieht. Ottilie sagt ihm ihre Hand unter der Bedingung zu, dass Charlotte in eine Scheidung einwilligt. Sie schickt ihn an den Ort zurück, wo der Hauptmann ihn erwartet. Es ist schon spät, und Ottilie beschließt, den Weg mit einer Bootsfahrt über den See abzukürzen. Während sie in den schwankenden Kahn steigt - ein Buch in der einen und Otto an der anderen Hand -, entgleitet ihr das Kind und fällt ins Wasser. Sie zieht es an seinen Gewändern wieder heraus, reißt sich verzweifelt das Kleid auf und legt das erstarrte Bündel an ihre Brust. Doch es ist zu spät: Der kleine Otto ist tot.

Auffahrt in den Himmel

Charlotte meint nun, ihr starrsinniges Festhalten an der Ehe mit Eduard trage die Schuld am Schicksal ihres Sohnes. Sie willigt in die Scheidung ein. Der Hauptmann und Eduard sind über den Tod des Kindes im Grunde erleichtert. Sie glauben, nun unbeschwert ein neues Leben mit den Frauen ihrer Wahl beginnen können. Allerdings haben sie die Rechnung ohne Ottilie gemacht: Diese sieht das Unglück als Gottes Strafe für ihre Liebe zu einem verheirateten Mann und beschließt, als Erzieherin in der Pension für ihre Sünden zu büßen. Eduard erfährt von diesem Plan und fängt sie in dem Gasthaus ab, in dem sie während der Reise übernachten will. Von nun an sagt Ottilie kein Wort mehr. Sie kehrt scheinbar willenlos mit Eduard zum Schloss zurück. In einem Brief bittet sie darum, in Ruhe gelassen zu werden. Die Mahlzeiten nimmt sie mit ihrer Dienerin Nanny in ihrem Zimmer ein.

„Denn so ist die Liebe beschaffen, dass sie allein Recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden.“ (S. 108)

Eines Tages bekommt Ottilie einen Schwächeanfall und stirbt. Von Nanny ist zu erfahren, dass die Verstorbene schon seit Tagen die Nahrung verweigert hat. Die Dienerin ist vor lauter Schuldgefühlen so außer sich, dass man sie während der Beerdigung einsperrt. Doch sie springt vom Dachboden, als sie den Trauerzug erblickt. Ihre Glieder scheinen zerschmettert, fügen sich aber wie durch ein Wunder wieder zusammen, als sie ihre tote Herrin berührt. Ottilie wird in einem gläsernen Sarg neben dem kleinen Otto in der Kapelle aufgebahrt. Nannys wunderbare Genesung zieht schon bald Menschen von weit her an, die Ottilie als Heilige verehren. Bald stirbt auch Eduard. Charlotte lässt ihn neben seiner Geliebten beisetzen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman ist streng symmetrisch in zwei Teile zu jeweils 18 Kapiteln aufgeteilt: Der erste konzentriert sich auf die vier Hauptpersonen und endet mit Eduards Kriegseintritt auf dem Höhepunkt der Verwicklungen. Im zweiten Teil führt Goethe neue Personen, Schauplätze und Stilformen in das Geschehen ein, die auf verschiedene Art die Katastrophe vorwegnehmen. Nichts überlässt der Autor dem Zufall, der Roman ist bis ins kleinste Detail konstruiert. Mit Hilfe von Auszügen aus Ottilies Tagebuch lässt er den Leser tiefer in ihr Innenleben blicken, als es aus seiner überwiegend auktorialen Erzählperspektive möglich wäre. Die Novelle "Die wunderlichen Nachbarskinder", von einer Nebenfigur innerhalb des Romans berichtet, spiegelt als Binnenerzählung die Haupthandlung. Analogien und Spiegelbilder finden sich gleich auf mehreren Ebenen: zwischen den Charakteren, der Landschaft und Architektur, den Pflanzen und Jahreszeiten. Die Geschichte wird überwiegend in der Vergangenheitsform erzählt, jedoch wechselt der Autor immer dann ins Präsens, wenn er das Erzähltempo erhöhen, Spannung erzeugen oder die Seelenqualen einer Figur darstellen möchte. Der Literaturkritik gelten Die Wahlverwandtschaften als einer der komplexesten deutschen Romane. Die schiere Fülle von Symbolen und Motiven, philosophischen, pädagogischen und religiösen Exkursen machen es dem gewöhnlichen Leser fast unmöglich, mehr als nur Teilaspekte zu begreifen. Genau das scheint auch Goethes Absicht gewesen zu sein: Er selbst sah seinen Roman als Puzzlespiel, das man unmöglich nach einmaliger Lektüre entschlüsseln könne.

Interpretationsansätze

  • In Analogie zur Chemie sind Die Wahlverwandtschaften ein einziges großes Experiment: Die Protagonisten sind zwischen dem Naturgesetz der Liebe und dem Sittengesetz gesellschaftlicher Normen gefangen und können vom experimentierenden Autor/Leser dabei beobachtet werden, wie sie sich den Gesetzen gemäß verhalten. Goethe schätzte den Begriff der Wahlverwandtschaften als geistreiches Symbol für ein komplexes Paradox: Schließlich beinhaltet "Wahl" die Idee von Freiheit, während "Verwandtschaft" durch die Natur determiniert ist.
  • Den Determinismus der Naturgesetze unterstreicht der Autor u. a. durch die Wahl der Vornamen der vier Hauptpersonen: Eduard heißt eigentlich Otto, genau wie der Hauptmann. Während dieser Name in sich selbst gespiegelt werden kann, ist er zusätzlich als Fragment "ott" auch in den Namen der beiden weiblichen Hauptfiguren enthalten.
  • Goethe jongliert virtuos mit den Geschlechterrollen: Der Hauptmann und Ottilie sind die Stereotypen ihres Geschlechts, die rationale Charlotte und der romantische Eduard ihr Gegenteil.
  • Der Grundkonflikt zwischen Natur und Kultur wird durch zahlreiche Motive ausgemalt. Eines davon ist die Umwandlung des barocken Gartens in eine geordnete Landschaft nach englischem Vorbild, die eine Harmonie zwischen Natur und menschlichem Eingreifen herstellen soll. Die Illusion eines harmonischen Miteinanders von Mensch und Natur zerfällt, als Charlottes Kind in dem künstlichen See ertrinkt.
  • Allen sozialrevolutionären Ideen setzt Goethe eine Philosophie der Entsagung entgegen. Ihr zufolge macht nicht die Rebellion gegen gesellschaftliche Normen wirklich frei, sondern der vollkommene Verzicht auf alles Materielle. Aus Sicht vieler Interpreten des 20. Jahrhunderts veranschaulichen Die Wahlverwandtschaften damit das Spannungsfeld zwischen dem klassischen Weltbild und der aufkommenden Moderne.

Historischer Hintergrund

Zwischen Klassik und Moderne

Die Wahlverwandtschaften erschienen 1809 in einer Zeit tief greifender politischer und sozialer Umwälzungen. Napoleon hatte große Teile Europas erobert. 1806 hörte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf zu bestehen. Im selben Jahr wurde die preußisch-sächsische Armee in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt von Napoleon vernichtend geschlagen und französische Soldaten plünderten Goethes Wahlheimatstadt Weimar. Reformer wie Freiherr vom Stein und Staatskanzler Karl August von Hardenberg sahen in dem Zusammenbruch der alten Ordnung aber auch eine Chance zum Neuanfang. 1807 begann mit dem Edikt zur Bauernbefreiung eine Reihe von Sozialreformen in Preußen, welche die ehemals absolute Macht des Adels empfindlich einschränkten. Mit der Städteordnung von 1808 erhielt das Besitzbürgertum das Recht, eigene Stadtverordnete zu wählen, und 1809 begann der Humanist Wilhelm von Humboldt mit Bildungsreformen, die bis heute die Grundlage des deutschen Erziehungswesens darstellen. In diese Zeit des Umbruchs fiel der Tod Friedrich Schillers (1805) - für Goethe eine Zäsur. Gemeinsam mit dem Dichterfreund hatte er die Weimarer Klassik geprägt: Der Kern der klassischen Ästhetik war das Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen, nach Sittlichkeit und vollkommener Harmonie. Goethe blieb diesen Prinzipien auch in seinem Spätwerk treu, jedoch konfrontierte er sie verstärkt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als engagierter Naturwissenschaftler und Minister am Weimarer Hof nahm er regen Anteil an politischen Reformen, der beginnenden Industrialisierung und entstehenden Moderne, die er z. T. als Bedrohung empfand. Dem aus der Aufklärung hervorgegangenen, scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug des Rationalismus konnte er sich nicht anschließen und setzte diesem sein klassisches, nach Ganzheitlichkeit strebendes Weltbild entgegen.

Entstehung

Den Begriff "Wahlverwandtschaften" prägte im 18. Jahrhundert der schwedische Chemiker Torben Bergman: Die Bezeichnung steht für einen chemischen Prozess, bei dem zwei Stoffverbindungen miteinander in Berührung kommen, sich voneinander trennen und sich aufgrund näherer "Verwandtschaft" neu zusammenfinden. Goethe führte seit seiner Jugend alchemistische und chemische Experimente durch und war auch mit der zeitgenössischen Forschung vertraut. Analog zu seiner Romanfigur Charlotte wandte er sich in einem 1796 erschienenen Aufsatz jedoch gegen die zu seiner Zeit übliche Tendenz, tote Materie zu vermenschlichen.

Im Roman verarbeitete der fast 60-jährige Goethe seine späte Liebe zu der damals knapp 20-jährigen Minna Herzlieb. Er kannte die Pflegetochter eines Jenaer Buchhändlers schon seit ihren Kinderjahren und hatte sie zu einer außerordentlichen Schönheit heranwachsen sehen. Seiner Ehefrau Christiane Vulpius, mit der er übrigens mehrere Jahre in "wilder Ehe" zusammengelebt hatte, gestand er offen, dass er diese Zuneigung für "mehr als billig" hielt. Seinem Freund Johann Peter Eckermann sagte er 1820: "Es ist in den Wahlverwandtschaften überhaupt keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre." Goethe erwähnt den Roman erstmals in einem Tagebucheintrag vom 11. April 1808 als "kleine Erzählung". Was ursprünglich als Novelle innerhalb von Wilhelm Meisters Wanderjahre gedacht war, wuchs in wenigen Monaten konzentrierter Arbeit zu einem zweibändigen Roman heran.

Wirkungsgeschichte

Der Roman Die Wahlverwandtschaften ging nach der Veröffentlichung im Oktober 1809 buchstäblich weg wie warme Semmeln: Eine Augenzeugin berichtete, dass die "Buchhändler nie so bestürmt wurden - es war wie vor einem Bäckerhause in einer Hungersnot". Wer einen Skandal erwartete, wurde befriedigt: Goethes gebildete Zeitgenossen reagierten teilweise mit Unverständnis und Entrüstung auf das Werk. Einer Dame, die das Buch als unmoralisch geißelte, entgegnete Goethe schlicht: "Das tut mir Leid, es ist doch mein bestes Buch." Außerdem äußerte sich der Autor Jahre später ironisch über einen Freund, der sich über seine "strengen Grundsätze in Bezug auf die Ehe" gewundert habe, wo er doch "in allen übrigen Dingen so lässlich denke". Goethes Kommentare lassen vermuten, dass der Roman weder als konservative Moralpredigt noch als Aufruf zum fröhlichen Ehebrechen gedacht war. Doch ließ Goethe sich nie dazu hinreißen, seine Zeitgenossen über seine letztendlichen Absichten aufzuklären.

Erst im 20. Jahrhundert erkannten auch Goethes Dichterkollegen die Bedeutung der Wahlverwandtschaften. Thomas Mann bezeichnete das Buch als "den höchsten Roman der Deutschen" und selbst Bertolt Brecht - eigentlich kein Freund des Weimarer Geheimrats - bewunderte die dem Werk innewohnende Eleganz. Das Werk gilt als Vorläufer zahlreicher berühmter Ehe- und Ehebruchsromane des 19. Jahrhunderts, z. B. Gustave Flauberts Madame Bovary, Leo Tolstois Anna Karenina oder Theodor Fontanes Effi Briest. Die Wahlverwandtschaften wurden mehrmals verfilmt, darunter 1981 von Claude Chabrol und 1996 von Paolo und Vittorio Taviani mit Isabelle Huppert in der Rolle der Charlotte.

Über den Autor

Johann Wolfgang von Goethe ist bis zum heutigen Tag der wichtigste Dichter der deutschen Literatur. Seine lyrischen Werke, Dramen und Romane wurden in alle Weltsprachen übersetzt. Als "Universalgenie" zeigte sich Goethe an vielen Wissenschaften interessiert: Er war Maler, entwickelte eine Farbenlehre, stellte zoologische, mineralogische und botanische Forschungen an, wobei er die Theorie einer "Urpflanze" entwickelte. Goethe wird am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren und wächst in einer gesellschaftlich angesehenen und wohlhabenden Familie auf. Nach dem Privatunterricht im Elternhaus nimmt der inzwischen 16-Jährige auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Leipzig auf, das er 1770 in Straßburg mit dem Lizentiat beendet. Dort macht er die Bekanntschaft von Johann Gottfried Herder und verfasst erste Gedichte. In Frankfurt eröffnet Goethe eine Kanzlei, widmet sich aber vermehrt seiner Dichtung. 1774 veröffentlicht er Die Leiden des jungen Werther; einige Dramen folgen. 1775 bittet ihn der Herzog Karl August nach Weimar; Goethe macht dort eine schnelle Karriere als Staatsbeamter. Nach zehn Jahren Pflichterfüllung am Hof reist er 1786 nach Italien. Diese "italienische Reise" markiert einen Neuanfang für sein Werk. 1788 kehrt Goethe nach Weimar zurück und lernt Christiane Vulpius kennen, mit der er bis zur Heirat 1806 in "wilder Ehe" zusammenlebt. Nach anfänglichen Differenzen freundet sich Goethe 1794 mit Friedrich Schiller an, in dessen Zeitschrift Die Horen Goethe mehrere Gedichte veröffentlicht. Die beiden Dichter verbindet fortan eine enge Freundschaft, auf der die Weimarer Klassik und ihr an der griechischen Antike orientiertes Welt- und Menschenbild aufbaut. 1796 erscheint der Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1808 das Drama Faust I und 1809 der Roman Die Wahlverwandtschaften. Ab 1811 arbeitet Goethe an seiner Autobiographie Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit. Kurz vor seinem Tod vollendet er Faust II. Am 22. März 1832 stirbt Goethe im Alter von 83 Jahren in Weimar.

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