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Die wiedergefundene Zeit

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Die wiedergefundene Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Der letzte Band von Prousts Jahrhundertwerk: Ein unebener Pflasterstein bringt das größte Romanprojekt des 20. Jahrhunderts ins Rollen.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Lesegenuss für ausdauernde Liebhaber

„Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang“, schrieb Anatole France 1913 bei der Veröffentlichung des ersten Bandes von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – und das, als gerade mal 600 von insgesamt 4200 Seiten gedruckt waren. So mancher Leser dürfte am Anfang ähnlicher Meinung sein. Wer aber Ausdauer hat und sich auch durch die zweifellos vorhandenen Längen durchbeißt, wird im siebten und letzten Band Die wiedergefundene Zeit tatsächlich belohnt: Scheinbar verirrte Erzählstränge werden verknüpft, lange im Dunkeln gebliebene Fragen erhellt, und der Ich-Erzähler findet endlich den Stein des Anstoßes, der ihn aus seiner Lethargie reißt. Aus dem wackligen Erzählgerüst wird ein stabiles Gebäude, worin dem Leser tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele geboten werden. Freilich bleibt die Grundstimmung bis zum Ende düster: Das erbarmungslose Voranschreiten der Zeit verändert die Menschen bis zur Unkenntlichkeit, und eine gemeinsame Sprache zu finden, gelingt ihnen nicht. Die Lektüre des Gesamtwerks ähnelt dem Genuss von schwarzem Kaffee: ungewohnt bitter am Anfang, aber mit zunehmend interessanten, feinen Geschmacksnuancen.

Take-aways

  • Die wiedergefundene Zeit ist der siebte und letzte Band des Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
  • Zwischen 1913 und 1927 erschienen, ist das Werk ein nostalgischer Abgesang auf die Belle Époque und ein modernes Erzählexperiment.
  • In Die wiedergefundene Zeit überwindet der Ich-Erzähler endlich seine Schreibblockade und beginnt den Roman zu verfassen, den der Leser gerade beendet.
  • Zuvor gerät Marcel jedoch in einen Zustand totaler Desillusionierung.
  • Im Kriegsjahr 1916 wird er Zeuge, wie sich der Baron von Charlus in einem Bordell blutig prügeln lässt.
  • Einige Jahre nach Kriegsende tritt er eines Tages im Hof des Fürsten von Guermantes zufällig auf einen unebenen Pflasterstein.
  • Dies löst bei ihm eine Reihe von Erinnerungen aus, die ihm die Augen für das Wesen der Kunst öffnen.
  • Auf einer Matinee erkennt er, wie sehr die Zeit Aussehen, Persönlichkeit und Überzeugungen seiner Bekannten verändert hat.
  • Durch die Niederschrift seiner Erinnerungen will er ihnen einen Platz in der Zeit geben.
  • Proust schrieb zuerst die Anfangs- und Schlussszenen des Romanzyklus.
  • Konservative Kritiker verurteilten vor allem die Bordellszene als degenerierte Literatur.
  • Heute gilt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als einer der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.

Zusammenfassung

Ganz unten

Der Ich-Erzähler Marcel verbringt lange Tage in Tansonville bei Combray, wo er seiner Jugendfreundin Gilberte Gesellschaft leistet. Diese ist unglücklich, da sie ahnt, dass ihr Mann Saint-Loup sie betrügt – allerdings scheint sie nicht zu wissen, dass er dies mit Männern tut. Saint-Loup überredet Marcel mehrmals zum Bleiben, um selbst unbeschwert zu seinem Geliebten Morel nach Paris fahren zu können. Ansonsten verhält er sich seinem Freund gegenüber eher spröde, als wolle er jeden Verdacht bezüglich seiner Neigung zerstreuen. Marcel liest in dieser Zeit einen für ihn enttäuschenden Text der Brüder Goncourt, der einen lange zurückliegenden Besuch im Salon der Verdurins schildert. Von der Anordnung der Teller bis hin zu den Zutaten der weißen Sauce ist die Szene detailliert und in blumigen Worten beschrieben. Nur: Zwischen den exakten Beobachtungen der Goncourts und Marcels eigener Wahrnehmung der gleichen Orte und Menschen liegen Welten. Wenn das Literatur sein soll, dann muss er selbst mit Taubheit und Blindheit geschlagen sein, meint er voller Selbstzweifel.

Paris im Krieg

Marcel verbringt mehrere Jahre in einem Sanatorium, bevor er Anfang 1916 nach Paris zurückkehrt. Der Krieg hat die Stadt und ihre Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändert: Die Frauen tragen aus Solidarität mit den kriegerischen Helden zylinderartige Turbane, ägyptische Gewänder und Modeschmuck aus Geschosssplittern. Madame Verdurin und Madame Bontemps, einst als bürgerliche Parvenüs von der feinen Gesellschaft geschmäht, gebärden sich jetzt als Königinnen von Paris. Alle weltanschaulichen Grenzen der Vorkriegszeit sind verschwunden, nur noch die lupenreine patriotische Gesinnung zählt. Im Salon der Verdurins wird täglich über den Krieg diskutiert. Letztlich sind diese Gesellschaften aber vor allem deshalb beliebt, weil die Verdurins in seltenem Luxus schwelgen. Die Aristokratie verarmt derweil durch den Krieg immer mehr.

„Eine Frau, die man liebt, genügt selten allen unseren Bedürfnissen, und man betrügt sie eben mit einer, die man nicht liebt.“ (S. 17)

Marcel erinnert sich an einen kurzen Besuch in Paris zu Beginn des Krieges, 1914: Saint-Loup kokettierte zunächst damit, sich nicht zur Armee gemeldet zu haben, und gestand später vorgeblich ein, dass blanke Furcht der einzige Grund dafür sei. In Wahrheit brannte er jedoch darauf, an die Front zu gehen, und wartete nur noch auf seinen Bescheid. Ganz anders Bloch: Solange dieser glaubte, wegen Kurzsichtigkeit für untauglich erklärt zu werden, gab er sich radikal militaristisch. Als er dann doch eingezogen wurde, schwenkte er auf die entgegengesetzte Seite um und verfluchte „litzengeschmückte“ Offiziere wie Saint-Loup, die angeblich nur schick „paradierten“. Allerdings hätte er bei Saint-Loup nicht weiter danebenliegen können, denn dieser überragt alle an Heldenmut. Er gehört zu der Sorte von Homosexuellen, die sich in ein übertriebenes Männlichkeitsideal flüchten, Verweichlichung verachten und dem Krieg eine romantische Seite abgewinnen.

Wiedersehen mit Charlus

Gilberte schreibt Marcel aus Tansonville, dass die geliebten Landschaften seiner Kindheit zerstört seien. Die Front zwischen Franzosen und Deutschen sei mitten durch Combray verlaufen, die Brücke über der Vivonne sei gesprengt worden, und auf den Feldern rieche es nach Verwesung. Als Marcel später in der abgedunkelten Stadt Paris spazieren geht, fühlt er sich wie in der Welt von Tausendundeiner Nacht: Söldner aus Indien und Afrika verströmen mit ihren bunten Uniformen den exotischen Zauber des Orients. Plötzlich sieht er, wie ein dicker Mann mit Filzhut zwei nordafrikanischen Söldnern nachstellt. Als der Mann Marcel erblickt und ihn etwas geniert grüßt, erkennt dieser Monsieur de Charlus. Parallel zum Aufstieg der Verdurins hat er einen beispiellosen gesellschaftlichen Abstieg erfahren, der nun durch seine latente Deutschenfreundlichkeit noch beschleunigt wird. Seine Gegenspielerin Madame Verdurin behauptet, er sei ein deutscher Spion, und Morel verhöhnt die Homosexualität und deutsche Abstammung seines ehemaligen Gönners in satirischen Artikeln.

„Sie ahnen nicht, was für ein Soldat der deutsche Soldat ist, Sie haben ihn eben nicht gesehen wie ich, wenn er im Paradeschritt, im Stechschritt unter den Linden vorbeidefiliert.“ (Charlus, S. 171)

Der Baron beweist jedoch in einigen Punkten ein gesundes Urteilsvermögen. Feinsinnig identifiziert er etwa die radikalen französischen Militaristen als Heuchler, wenn sie den Deutschen ausgerechnet deren Militarismus vorwerfen. Er äußert aufrichtiges Bedauern über den sinnlosen Tod so vieler junger Männer. Doch sein Pazifismus wirkt verlogen, zumal er im nächsten Satz in Begeisterung über die Tapferkeit und Härte der deutschen Soldaten ausbricht. Schlicht lächerlich macht sich der Baron in Marcels Augen, als er sämtliche Kriegsgründe und Bündnisstrategien auf sein Lieblingsthema zurückführt: die vermeintlich homosexuellen Beziehungen zwischen den europäischen Monarchen.

Das Männerbordell

In einer verlassenen Gegend weitab vom Stadtzentrum erregt ein offensichtlich sehr gut besuchtes Hotel Marcels Interesse. Verblüfft sieht er, wie Saint-Loup das Gebäude verlässt. Dann belauscht er vor dem Eingang zwei Soldaten bei einem merkwürdigen Gespräch darüber, wie sie jemanden in Ketten gelegt und verdroschen hätten. Was geht hier vor? Handelt es sich um ein Spionagenest? Marcel tritt ein, bittet um ein Zimmer und bestellt etwas zu trinken. Seine Neugierde treibt ihn in die obere Etage, wo er aus einem Raum Peitschengeräusche, Stöhnen und flehende Rufe um Gnade vernimmt. Über ein verstecktes Rundfenster späht er in das Zimmer und traut seinen Augen nicht: Monsieur de Charlus liegt dort blutüberströmt an ein Bett gefesselt. Sein „Folterknecht“ verlässt das Zimmer, als Jupien eintritt. Der Baron beschwert sich bei diesem, dass der Bursche viel zu harmlos sei und dass seine Gemeinheit einstudiert wirke. Doch Jupien, der das Bordell für Charlus verwaltet, widerspricht: Im Gegenteil, der Kerl sei ein echter Verbrecher.

„Was für nette Äugelchen er hat! Komm, ich gebe dir zwei dicke Küsse für deine Mühe, mein lieber Junge. Du sollst an mich denken, wenn du wieder im Schützengraben bist. Ist es da auch nicht zu schlimm?“ (Charlus zu einem Bordellangestellten, S. 197)

Marcel geht in die Lobby zurück und sieht dort eine bunte Männergesellschaft ein- und ausgehen: Hochdekorierte Offiziere aus aller Welt, Parlamentarier, berühmte Adlige und Vertreter der Geistlichkeit tragen ihre Spezialwünsche nach „Chorknaben“ und „Negerchauffeuren“ vor. Als Jupien Marcel erkennt, zieht er ihn rasch in ein Nebenzimmer, damit der Baron nichts von seiner Anwesenheit erfährt. Von seinem Versteck aus wird er Zeuge, wie Charlus unter den Angestellten des Hauses die Runde macht, um sich von ihrer Verdorbenheit zu überzeugen. Doch er wird enttäuscht: Die jungen Männer, meist einfache Soldaten auf Heimaturlaub, sind nur einfältige, gutmütige Burschen, die sich ein kleines Zubrot verdienen. Verärgert zieht der Baron ab. Auch Marcel beschließt, lieber bei sich zu Hause zu übernachten. Ein Fliegerangriff zwingt ihn aber, noch einige Stunden in der Gesellschaft der schmierigen Bordellkundschaft auszuharren. Kurz vor seiner Abreise aus Paris erreicht ihn die traurige Nachricht, dass Saint-Loup im Krieg gefallen sei, als er seine Truppe beim Rückzug gedeckt habe.

Ekstasen der Erinnerung

Marcel verbringt viele Jahre in einem Sanatorium, ohne dass sich sein Gesundheitszustand verbessert. Auf der Rückreise nach Paris betrachtet er vom Zugfenster aus eine sonnenüberflutete Baumreihe. Anders als in seiner Jugend lässt ihn der Anblick jetzt kalt. Er ist nun endgültig überzeugt, kein Talent zum Schreiben zu haben. Auf dem Weg zu einer Matinee beim Fürsten von Guermantes trifft er einen gebeugten Greis mit starrem Blick und schlohweißer Mähne: Es ist Monsieur de Charlus, der kurz zuvor einen Schlaganfall erlitten hat. Jupien, ebenfalls zugegen, berichtet Marcel, dass der Baron zwar körperlich angeschlagen, aber geistig fit sei – so sehr, dass er, Jupien, sich gleichzeitig als Krankenpfleger und Wachhund betätigen müsse. Sein Patient habe nämlich eine besondere Vorliebe für kleine Jungen entwickelt.

„Zu sehr hatte ich die Unmöglichkeit erlebt, in der Wirklichkeit zu erreichen, was auf dem Grund meines Inneren ruhte (...)“ (S. 273)

Im Hof der Guermantes tritt Marcel zufällig auf einen unebenen Pflasterstein und verspürt plötzlich ein Glücksgefühl, das nur mit dem Madeleine-Erlebnis vergleichbar ist: So wie der Geschmack des Küchleins seine Kindheitsträume in Combray wieder lebendig gemacht hat, so erinnert ihn der Stein an die ungleichen Bodenplatten des Baptisteriums von San Marco in Venedig. In der Bibliothek des Gastgebers folgen weitere rauschhafte Momente: Der Klang eines Löffelschlags gegen einen Teller erinnert ihn an den Anblick einer Baumreihe vom Zugfenster aus, weil just in dem Moment ein Bahnarbeiter mit dem Hammer ein Rad reparierte. Und die Steifheit einer gestärkten Serviette weckt den Gedanken an das Handtuch, das er am ersten Tag seines Aufenthalts in Balbec benutzte. Marcel erkennt, was all diese Erinnerungs-Glücksgefühle gemein haben: Die Vergangenheit verschmilzt mit der Gegenwart, er befindet sich für einen Augenblick außerhalb der Zeit und kann die Essenz der Dinge genießen. In diesem Zustand verschwindet seine Angst vor dem Tod. Anstatt die Wahrheit in der äußeren Welt zu suchen – eine Welt, die seine Erwartungen wiederholt enttäuscht hat –, will er sie nun in seinem Innern finden. Er begreift, dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, auf der Suche nach der Wahrheit die ihm selbst innewohnenden Symbole zu entziffern, Verbindungen zwischen Gegenständen aufzuzeigen und sie durch seinen besonderen Stil anderen verständlich zu machen. Marcel ist nun fest entschlossen, mit seinem Roman zu beginnen.

Die Macht der Zeit

Als er aus der Bibliothek in den Saal tritt, kommt er sich im ersten Moment vor wie auf einem grotesken Maskenball: Der Fürst von Guermantes trägt einen langen, weißen Bart und scheint sich seine Sohlen mit Blei beschwert zu haben. Viele Gäste zittern greisenhaft und starren stumpfsinnig vor sich hin. Plötzlich fühlt sich Marcel uralt. Er wird sich der zerstörerischen Kraft der Zeit bewusst, erkennt aber auch, dass das Alter einigen besser steht als die Jugend. Bei den anwesenden Frauen sieht Marcel vor allem die Mühen, der Vergänglichkeit zu trotzen und ihre Schönheit so gut es geht zu bewahren – meist ohne nennenswerten Erfolg. Unter dicker Schminke wirken ihre Gesichter wie Gipsmasken und ihre Züge verkrampft. Eine Ausnahme stellt Odette dar. Mit ihrer straffen Haut und dem glatten, blonden Haar erinnert sie an eine altmodische Puppe, sorgsam präpariert, aber leblos wie eine sterilisierte Rose. Stark verändert hat sich Bloch. Um seine jüdische Herkunft zu verbergen, nennt er sich nun Jacques du Rozier und hat sein gekräuseltes Haar mit Brillantine glatt gekämmt. Er hat sich Zugang zu den vornehmsten Salons verschafft, die ihm 20 Jahre zuvor noch verschlossen waren.

„Der Gefühlseindruck ist für den Schriftsteller, was das Experiment für den Naturwissenschaftler, mit dem Unterschied, dass bei dem Naturwissenschaftler die Arbeit des Verstandes vorausgeht, bei dem Schriftsteller aber folgt.“ (S. 278)

Die erstaunlichste Verwandlung aber hat Madame Verdurin durchgemacht: Nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie den durch den Krieg finanziell ruinierten Fürsten. Als neue Fürstin von Guermantes gebietet sie nun über die einst als Langeweiler geschmähten Vertreter des vornehmen Pariser Stadtteils Faubourg Saint-Germain. Marcel ist erstaunt, wie sehr sich nicht nur das Aussehen der Leute, sondern auch ihre Überzeugungen und Vorstellungen von anderen Menschen verändert haben.

Ein Platz in der Zeit

Eine der Attraktionen des Tages ist die Schauspielerin Rachel, Saint-Loups ehemalige Geliebte. Alt und abscheulich hässlich geworden, trägt sie auf übertrieben dramatische Weise bekannte Gedichte vor. Die meisten Zuschauer sind irritiert. Wer als Kenner gelten will, gibt sich aber begeistert, denn Rachel zählt mittlerweile zur schauspielerischen Avantgarde. Zu den Fans der Akteurin gehört auch die Herzogin von Guermantes. Sie scheint völlig vergessen zu haben, dass sie die junge Rachel früher als hysterische Schlampe verspottet hat. Heute umgibt sich die Herzogin nur noch mit Künstlern und gilt in der vornehmen Gesellschaft als deklassiert. Auch ihr Mann hat auf seine alten Tage an Ansehen verloren. Zum großen Kummer der Herzogin hat er sich ausgerechnet die ehemalige Kokotte Odette, die Witwe Swanns, zur Geliebten genommen, die noch immer großes Vergnügen daran findet, sich aushalten zu lassen.

„Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß.“ (S. 292)

Gegen Ende der Matinee stellt die dick gewordene Gilberte Marcel ihre Tochter vor. Er wird sich bewusst, wie in der zauberhaften 16-Jährigen die vielen Fäden seines Lebens sternförmig zusammentreffen: Swann, seine erste große Liebe Gilberte, Saint-Loup, die Gegenden von Méséglise und Guermantes, sogar Balbec und die Schar junger Mädchen – schließlich wäre er nie auf die Idee gekommen, dorthin zu fahren, wenn Swann nicht von dem Seebad geschwärmt hätte. Die fein gesponnenen Fäden zwischen den Personen und Ereignissen seines Lebens bilden das kostbare Netz seiner Erinnerungen. Wird er aber genug Zeit haben, sein Werk darüber zu vollenden? Mehr denn je wird er sich seiner kränkelnden Natur bewusst und fürchtet sich nun vor dem Tod. Deshalb kennt er nur noch ein einziges Ziel: die verbleibende Zeit zu nutzen, um den Menschen durch ein literarisches Werk ihren Platz in der Zeit zu verleihen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die wiedergefundene Zeit besteht aus drei Teilen. Der erste beginnt, wo der vorherige Band aufgehört hat: im Zimmer von Tansonville, dem Landsitz Gilbertes. Der Ich-Erzähler erreicht hier den Tiefpunkt seines Lebens. Ein im Buch ausführlich zitierter Text der Brüder Goncourt – in Wahrheit eine von Prousts vielen Parodien bekannter Autoren – nimmt ihm das letzte bisschen Glauben an den Sinn der Literatur. Indem er seinen Protagonisten in einem Sanatorium Aufenthalt nehmen lässt, überspringt Proust viele Jahre, um im zweiten Teil des Romans die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Pariser Gesellschaft zu beschreiben. Wie so oft verwendet Proust Techniken der Malerei, etwa wenn er die Spaziergänge im verdunkelten Paris wie impressionistische Mondscheingemälde schildert. Der dritte Teil spielt im Anschluss an einen weiteren Sanatoriumsaufenthalt viele Jahre nach dem Krieg. Das grausame Voranschreiten der Zeit setzt Proust durch kubistisch anmutende Porträts der durch das Alter entstellten Greise in Szene. Immer wieder fordert er seine Leser auf, zurückzublättern und sich mit ihm zu erinnern. Denn im letzten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kehren alle Themen und Personen wieder, Fragen werden beantwortet, Rätsel gelöst, und das vermeintlich Fragmentarische der übrigen Bände fügt sich zu einem harmonischen Ganzen.

Interpretationsansätze

  • Das Schaffen von Kunst durch die Erinnerung steht im Mittelpunkt von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Proust unterscheidet zwischen dem willentlichen und dem unwillkürlichen Erinnern. Während Ersteres oft scheitert, wird Letzteres spontan durch unvermittelte Sinneseindrücke hervorgerufen.
  • Der Erzähler wird Zeuge des grausamen Voranschreitens der Zeit: Als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht, erscheinen ihm viele seiner alten Bekannten auf der Matinee wie Zombies. Nichts lässt die Zeit unverändert, weder Aussehen noch Überzeugungen noch Persönlichkeiten.
  • Proust formuliert seine ästhetische Philosophie: Kunst bedeutet für ihn, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen, Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu entdecken und sie mithilfe der Metapher und des schönen Stils zu verbinden. Die Forderung nach einer realistischen oder gar politischen Kunst bezeichnet er als absurd.
  • Ein Beispiel für diesen Ansatz liefert er mit der eindrucksvollen Szene im Männerbordell: Während ein Bombenhagel auf Paris niedergeht, lässt der Baron von Charlus sich blutig schlagen. Mit der Metapher eines gewalttätigen, sadomasochistischen Männlichkeitsideals arbeitet Proust das Gemeinsame von Krieg und Sexualität heraus. Der Krieg als historisches Faktum interessiert ihn dabei nicht. Vielmehr dient er als Kulisse, vor der die seelischen Abgründe seiner Figuren zum Vorschein kommen.
  • Der Autor spielte virtuos mit der Spannung zwischen Autobiografie und Fiktion. Viele Personen, Orte und Erlebnisse tragen Züge aus seinem Leben. Charlus, Bloch, Swann und der Ich-Erzähler etwa ähneln sowohl Proust selbst als auch verschiedenen Personen aus seinem Umfeld. Sie bilden sein Leben aber nicht ab, sondern sind aus diesem geboren.
  • Der Niedergang der Aristokratie und der gleichzeitige Aufstieg des bürgerlichen Geldadels findet im letzten Band sein tragikomisches Ende: Die schwerreiche Madame Verdurin, einst Persona non grata der vornehmen Welt, herrscht als Fürstin von Guermantes über den Adel, der zur Karikatur seiner selbst geworden ist.

Historischer Hintergrund

Der moderne Krieg

Die wiedergefundene Zeit spielt überwiegend während und nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918), der alles zuvor Dagewesene an Grausamkeit und Zerstörungskraft übertraf. Ausgelöst wurde er durch die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, in Sarajevo. Das Ereignis war der sprichwörtliche Funke im Pulverfass: Die europäischen Großmächte, allen voran Deutschland, hatten jahrelang massiv aufgerüstet und suchten nach einer Gelegenheit, ihre Interessen auf dem Kontinent und in der Welt durchzusetzen. Das Deutsche Reich wollte seine Vormachtstellung in Europa und außerdem seinen „Platz an der Sonne“ in Übersee neben der Kolonialmacht England ausbauen. Frankreichs wichtigstes Kriegsziel war anfangs noch die Rückgewinnung der 1871 an Deutschland verlorenen Region Elsass-Lothringen. Schon bald strebte es aber nicht weniger als die Vernichtung des preußischen Militarismus an.

Erstmals in der Geschichte kamen schwere Kriegsgeräte wie Panzer, Flugzeuge und U-Boote zum Einsatz, außerdem Massenvernichtungswaffen wie Giftgas. Die Folgen der modernen Tötungsmaschinen trafen die Kriegsstrategen völlig unvorbereitet; traditionelle Angriffs- und Verteidigungstaktiken funktionierten nicht mehr. Im Stellungskrieg verloren Hunderttausende Soldaten ihr Leben, ohne dass eine der beiden Seiten nennenswerte Fortschritte machte. Zum Symbol für die Sinnlosigkeit des modernen Krieges wurde die Schlacht um das nordfranzösische Verdun, die von Februar bis Dezember 1916 dauerte. Die Bilanz nach vier Jahren Gemetzel: knapp neun Millionen Tote, ein bankrottes Europa und ein Frieden, der nach den Worten des französischen Marschalls Ferdinand Foch „maximal ein Waffenstillstand für 20 Jahre“ war.

Entstehung

Marcel Proust wusste von Anfang an, wie das Gesamtwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit enden sollte. Die philosophische und ästhetische Erkenntnis, zu der sein Alter Ego in Die wiedergefundene Zeit gelangt, entwickelte der Autor bereits während seiner Studienjahre an der Sorbonne. Er perfektionierte sie in künstlerischen Studien und Essays, u. a. in der Streitschrift Gegen Sainte-Beuve, in der er die Methoden des 1869 verstorbenen französischen Literaturkritikers widerlegen wollte. Zur gleichen Zeit reifte sein Entschluss, einen groß angelegten Roman zu verfassen. Am 16. August 1909 schrieb Proust an seine Freundin Madame Straus: „Sie werden mich lesen – und vielleicht mehr als Ihnen lieb ist – denn ich habe soeben ein langes Buch begonnen – und beendet.“ Zu diesem Zeitpunkt existierte bereits eine erste Version der Schlussszene, des Balls der Greise beim Fürsten von Guermantes. Allerdings veränderte Proust seine Entwürfe im Lauf der Jahre immer wieder, schnitt Passagen an einer Stelle heraus und fügte sie an anderer wieder ein; auch entwarf er ganze Romanteile neu. Selbst die zwischen 1917 und 1918 entstandene Reinschrift aller noch unveröffentlichten Abschnitte blieb keinesfalls endgültig, denn bis zu seinem Tod 1922 schrieb der Autor zur Verzweiflung seiner Verleger immer weiter. Die vielen Unstimmigkeiten, Wiederholungen, Brüche und unvollendeten Sätze zeugen von seinem manischen Schaffen.

Wirkungsgeschichte

Die wiedergefundene Zeit erschien 1927 in Paris. Wie schon der zwei Jahre zuvor veröffentlichte Band Die Flüchtige empörte der siebte und letzte Teil des Romanzyklus die Moralisten unter den Kritikern. Sie sahen die Szenen mit Monsieur de Charlus im Männerbordell als Inbegriff einer degenerierten Literatur, die zusammen mit den Werken Sigmund Freuds, Fjodor Dostojewskis oder André Gides auf den Index gehöre. Die Nazis setzten Proust 1933 tatsächlich auf ihre schwarze Liste verbotener Autoren, nachdem nur die ersten beiden Bände des Romans auf Deutsch erschienen waren. Erst in den 1950er Jahren wurde sein Gesamtwerk im deutschsprachigen Raum bekannt.

Heute gilt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vielen als das wichtigste literarische Werk des 20. Jahrhunderts. Spätestens 1972 fand es mit einem Sketch der britischen Komikergruppe Monty Python auch in die Popkultur Eingang: Darin sollen die Teilnehmer eines „Proust-Zusammenfassungs-Wettbewerbs“ den Inhalt der sieben Bände in 15 Sekunden wiedergeben – alle scheitern, und am Ende gewinnt „das Mädchen mit den größten Titten“. Volker Schlöndorff verfilmte 1984 den ersten Band unter dem Titel Eine Liebe von Swann. Zur Jahrtausendwende kam es dann zu einem echten Proust-Revival: Alain de Botton schrieb 1997 den augenzwinkernden Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann, und 1998 erschien in Frankreich zum Entsetzen orthodoxer Proust-Fans Stéphane Heuets Comic-Adaption des Romans. Raoul Ruiz verfilmte 1999 Die wiedergefundene Zeit, Chantal Akerman 2000 Die Gefangene, und das Londoner Royal National Theater brachte im selben Jahr das Proust Screenplay des britischen Dramatikers Harold Pinter auf die Bühne.

Über den Autor

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Auteuil bei Paris geboren. Sein Vater ist ein berühmter Arzt, die Mutter stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie. Ab 1878 verbringt er die Ferien in dem Dorf Illiers bei Chartre, das später als Vorbild für das fiktive Combray dienen wird. 1881 erleidet der kränkliche Proust seinen ersten Asthmaanfall. Ab dem Folgejahr besucht er das Lycée Condorcet, wo er zusammen mit Schulkameraden verschiedene literarische Zeitschriften herausbringt. Nach dem Abitur dient Proust trotz seiner schwachen Gesundheit für ein Jahr in der Armee in Orléans. Anschließend studiert er Politik und Jura, bricht ab und macht in Philosophie und Literatur einen Abschluss. Auf Druck seines Vaters nimmt er 1895 eine unbezahlte Stelle als Bibliothekar an, lässt sich aber bald darauf krankschreiben. Sein nach außen hin müßiges Leben, die exzellenten Verbindungen zum Adel sowie die Besuche in den schicksten Pariser Salons verschaffen ihm den Ruf eines Snobs und gesellschaftlichen Emporkömmlings. Der Autor kämpft zeitlebens mit seiner Homosexualität, die sein Vater ihm während seiner Jugend noch durch einen Bordellbesuch hat austreiben wollen. Proust hat zahlreiche Liebhaber, bekennt sich aber nie offen zu seiner sexuellen Orientierung. 1896 erscheint sein erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung Les plaisirs et les jours (Freuden und Tage). Mit einem Kritiker, der sich abschätzig darüber äußert, duelliert er sich. 1903 stirbt sein Vater und zwei Jahre darauf die über alles geliebte Mutter. Proust erbt ein Vermögen, das ihm ein arbeitsfreies Leben im Luxus ermöglicht. Doch seine Gesundheit verschlechtert sich zusehends. Er zieht sich mehr und mehr in das Schlafzimmer seiner Pariser Wohnung zurück und arbeitet an seinem Lebenswerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Den ersten der sieben Bände gibt er 1913 auf eigene Kosten heraus. Die letzten drei veröffentlicht sein Bruder posthum bis 1927. Marcel Proust stirbt am 18. November 1922 an einer Lungenentzündung.

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