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Ein fliehendes Pferd

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Ein fliehendes Pferd

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Saturierte Mittvierziger, die vor ihrem eigenen Leben fliehen: Walsers meisterliche Novelle entlarvt die Mentalitäten des Mittelstandes.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Die Flucht vor dem Leben und dem Tod

Zwei Ehepaare Ende vierzig begegnen sich während ihres Urlaubs am Bodensee. Die beiden Männer sind alte Jugend- und Studienfreunde. Sie könnten gegensätzlicher kaum sein: Während der behäbige Lehrer Helmut vom Leben nichts mehr erwartet und sich nur noch in Ruhe seiner geliebten Lektüre widmen will, hetzt Klaus Buch, der dynamische Journalist, mit seiner jungen Frau Helene von einer Aktivität zur nächsten. Auf der Flucht freilich befinden sie sich alle beide: Der eine flieht vor dem Leben, der andere vor dem Tod. Dann das Unglück: Während einer stürmischen Segelpartie stürzt Klaus ins Wasser. Der Totgeglaubte taucht wenig später zwar wieder auf, doch die Wege der beiden Paare trennen sich, ohne dass man noch miteinander reden würde. Ein fliehendes Pferd ist die Geschichte der Lebenskrisen westdeutscher Mittelschichtler in den 1970er Jahren. Ganz und gar desillusioniert, suchen sie ihr Heil im Weglaufen vor der Realität. Martin Walser zeichnet seine Figuren mit distanzierter, ironischer Sympathie. In knappen, konzisen Sätzen erzählt, ist seine diagnostische Novelle ein bleibendes Lesevergnügen.

Take-aways

  • Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd beschreibt das Zusammentreffen zweier Ehepaare Ende vierzig während eines Urlaubs am Bodensee.
  • Der Lehrer Helmut Halm, aus dessen Sicht erzählt wird, erwartet vom Leben nichts mehr. Derweil jagt sein Jugend- und Studienfreund Klaus Buch neuen Reizen nach.
  • Die Halms sind von der Vitalität der Buchs fasziniert. Sabine Halm fürchtet, sich in Klaus zu verlieben, und Helmut fühlt sich von der jungen Helene angezogen.
  • Gleichzeitig ist Helmut von Klaus’ Elan angewidert und lässt sich nur widerwillig zu gemeinsamen Unternehmungen überreden.
  • Auf einem Wanderausflug gelingt es Klaus, ein fliehendes Pferd einzufangen. Die Bewunderung aller ist ihm nun endgültig sicher.
  • Während einer Segelpartie auf dem Bodensee will Klaus Helmut davon überzeugen, mit ihm und Helene auf den Bahamas ein neues Leben anzufangen.
  • Dann kommt ein Sturm auf: Klaus fordert das Schicksal heraus und will die Segel nicht reffen, woraufhin ihm Helmut das Ruder aus der Hand schlägt. Klaus stürzt ins Wasser, Helmut kann sich ans Ufer retten.
  • Helene berichtet, wie verzweifelt ihr Eheleben gewesen sei. Klaus litt an seiner beruflichen Unwichtigkeit, und sie gab ihr Leben als Musikerin für ihn auf.
  • Da taucht Klaus wieder auf. Ohne mit den Halms zu reden, nimmt er seine Frau mit sich. Helmut und Sabine reisen für den Rest ihres Urlaubs spontan nach Montpellier.
  • Am Ende der Erzählung ist jede Figur demaskiert. Walser ergreift nicht Partei, lässt aber Sympathie für den Kleinbürger Helmut erkennen.
  • Ein fliehendes Pferd wurde von der Kritik als Geschichte einer Midlife-Crisis und als Bestandsaufnahme mittelständischer Mentalitäten gefeiert.
  • Die Befindlichkeiten der Protagonisten sind typisch für die krisengeschüttelten 70er Jahre: Statt hehrer Ideale stand das Streben nach privatem Glück im Vordergrund.

Zusammenfassung

Gestörte Urlaubsruhe

Seit elf Jahren verbringt das Ehepaar Helmut und Sabine Halm aus Stuttgart seinen Urlaub in einem Städtchen am Bodensee, immer in derselben Ferienwohnung. Am Nachmittag ihres dritten Urlaubstages setzen die beiden sich in ein Café an der Uferpromenade. Helmut fühlt sich nicht wohl, er hätte lieber einen Platz weiter entfernt von den Passanten. Mit hoffnungsloser Sehnsucht betrachtet er die leicht gekleideten und braun gebrannten Urlauber, die an ihm vorbeipromenieren. Seine eigene und Sabines Haut empfindet er nur als grotesk gerötet. Helmut sehnt sich hinter die Vergitterung der Ferienwohnung. Der Gymnasiallehrer freut sich auf seine Urlaubslektüre, die Tagebücher Kierkegaards. Tagebücher, in denen man nichts Privates über den Autor erfährt – kann es etwas Anziehenderes geben?

„Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmaß an Abenteuer an einem vorbei, dass das Zuschauen zu einem rasch anwachsenden Unglück wurde.“ (S. 10)

Helmut will nicht, dass jemand etwas über ihn weiß. Ihn stört, dass Kollegen und Schüler immer mehr über ihn in Erfahrung bringen. Wenn er sich durchschaut fühlt, will er fliehen. Der Urlaub ist seine einzige Rückzugsmöglichkeit vor den Menschen, die ihn – aufgrund ihres Wissens über ihn – beherrschen könnten. Im Urlaub kann er sich verstellen, Rollen ausprobieren. Wie er so darüber nachdenkt, steht plötzlich ein deutlich jünger wirkendes Ehepaar vor ihrem Tisch. Helmut hält den Mann zunächst für einen ehemaligen Schüler, aber nein: Es ist Klaus Buch, sein Schulkamerad, Jugend- und Studienfreund. Seine Frau Helene, genannt Hel, ist rund 20 Jahre jünger als Klaus.

„Jedes Mal, wenn ihm das Erkannt- und Durchschautsein in der Schule oder Nachbarschaft demonstriert wurde, die Vertrautheit mit Eigenschaften, die er nie zugegeben hatte, dann wollte er fliehen.“ (über Helmut, S. 12)

Beim gemeinsamen Abendessen schwärmt Klaus von Helmut, der in seiner Jugend, allen voraus, voll hektischer Begeisterung gewesen sei. Bei ihrer letzten Begegnung, vor 23 Jahren, habe Helmut zu Klaus’ Abschied aus Tübingen von ihm verlangt, nackt im Marktbrunnen zu baden. Helmut erinnert sich zunächst an nichts. Er will sich gar nicht an seine Vergangenheit erinnern, nein, er ekelt sich vor ihr, will sie eingesperrt wissen, denn unter Lufteinfluss, glaubt er, fängt sie an zu gären. Während Klaus mit dem Erzählen das alte Leben wieder zu neuem erwecken will, interessiert Helmut an der Vergangenheit nur, dass sie abgestorben ist. Auch die Gegenwart hätte er am liebsten schon hinter sich, denn er findet es grotesk, wie unbedeutend sie angesichts der Ewigkeit ist. Er trinkt zum Essen fünf Viertel Spätburgunder, Sabine zwei. Die Buchs – sie begnügen sich zu Steak und Salat mit Mineralwasser – machen den Halms Vorwürfe wegen ihrer Ernährungsgewohnheiten. Erschüttert beobachten die Buchs dann, wie die Halms auch noch rauchen. Beim Abschied verabreden sich die beiden Ehepaare für den folgenden Nachmittag. Auf dem Weg in ihre Ferienwohnung redet Sabine ununterbrochen von Klaus und Hel. Sie findet die beiden erfrischend. Als Helmut dann nicht schlafen kann, setzt er einen Brief an Klaus auf. Er schreibt, er wolle nichts über sich erzählen, sondern alles verheimlichen, sein größter Wunsch sei es, dem Missverständnis seiner eigenen Person ruhig zuzustimmen. Zwar schickt Helmut den Brief nicht ab. Aber er fühlt sich wohl in seiner Selbstgenügsamkeit, in seinem Nichts-mehr-Wollen.

Ein Nachmittag auf dem See

Am nächsten Tag, auf dem Weg zu den Buchs: Sabine ist der Ansicht, es tue Helmut ganz gut, aus seinem Trott herausgerissen zu werden. Die Ehepaare gehen gemeinsam segeln. Sabine und Helmut sitzen reglos auf dem Boden des Bootes, während Klaus und Hel routiniert Segel und Ruder bedienen. Sabine ist begeistert von der Schönheit der Hügel, Helmut bekommt trotz der Hitze kalte Füße. Er fragt Klaus nach dessen Beruf. Um dem Schicksal eines Kleinbürgers zu entgehen, sei er Journalist geworden, antwortet Klaus, er brauche die ständige Überforderung. Spezialist für Ernährung sei er, 75 000 Leser richteten sich nach seinen Tipps. Hel hat auf seine Anregung hin ein Buch über Kräuter geschrieben.

„Zum Glück denke Hel da wie er: bloß keine Kinder. Zu bumsen, bloß zur Erzeugung von Kindern, ist doch der Inbegriff des Spießigen, ist es nicht so? (...) Zum Glück sei man so weit, dass heute jeder nach seiner Façon bumsen könne.“ (Klaus, S. 48)

Als Helmut feststellt, wie gerne er Hel ansieht, schaut er bemüht unauffällig an ihr vorbei. Klaus hat sich von seiner ersten Frau scheiden lassen, zu seinen Kindern hat er keinen Kontakt mehr. Helmut, erzählt er, sei früher ein Klassenkämpfer gewesen. Er selbst habe als Kind reicher Eltern darunter zu leiden gehabt. Beim Gruppenonanieren hingegen habe er dank der ansehnlichen Größe seines Glieds Selbstvertrauen tanken können, während der arme Helmut damals Probleme mit einer Vorhautverengung gehabt habe. Alle lachen, aber Helmut will sich daran nicht erinnern und zieht Klaus’ Erzählungen in Zweifel. Als sie anlegen, schwärmt Sabine von den herrlichen Wirkungen einer solchen Segelpartie. Helmut pflichtet ihr bei und wünscht den Buchs noch angenehme Urlaubstage. Die anderen drei halten das für einen Scherz, und so verabreden sie sich zu den nächsten gemeinsamen Aktivitäten.

„Was tut also unser Helmut? (...) Lässt Wasser kommen. Hält feste zu. Der Hautballon füllt und füllt sich. Und als er zum Platzen voll ist, spritzt unser Ha-Ha los. Aber leider stimmte die Richtung nicht. (...) Klaus Buch lachte und lachte und wiederholte dramatische Satzteile. Sabine hatte nur aufgeschrien. Helene Buch lachte ihr hochspringendes, alles durchdringendes Lachen. Helmut befahl sich, am lautesten und am längsten zu lachen. Es gelang.“ (S. 51 f.)

Während Helmut wach liegt, denkt er über seine sexuelle Unlust der letzten Monate nach. Er gibt den Druckerzeugnissen die Schuld, die Normen über Art und Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs aufstellen. Bei ihm löst dieser Druck nur lusttötende Abscheu aus. Er weiß, dass er längst mit Sabine darüber hätte sprechen müssen. Während er in der Schule das Gebot der Luststeigerung lehrt, versucht er eben diesem Ideal in seinem Leben zu entfliehen. Er sieht sich als Produzent von Schein und Täuschung und darin als Prototyp seiner Zeit. Gestört wird Helmut in seiner Lieblingsstimmung, die er „blutige Trägheit“ nennt, von Sabine, die ihre Hand auf seine Schulter legt. Als Helmut keine Anstalten macht, mit ihr zu verkehren, sagt sie, dann würde sie eben Klaus fragen, ob er mit ihr schlafen wolle.

Das fliehende Pferd

Bei einem Ausflug auf den „Höchsten“, die höchste Erhebung der Gegend, gehen die vier das letzte Stück zu Fuß, zuerst durch den Wald. Als sie ihn verlassen, werden sie vom Regen überrascht. Helmut ärgert sich, weil er die Orientierung verloren und die Richtung der Regenwolken falsch eingeschätzt hat. Er hasst es, wenn die andern merken, was in ihm vorgeht. Nur wenn er den Unterschied zwischen seinem eigentlichen Empfinden und seinem Gesichtsausdruck spürt, kommt in ihm so etwas wie Lebensfreude auf. Hel und Klaus gehen voran, zu einem Ausflugslokal. Helmut und Sabine kommen schließlich auch an. Da erklingt plötzlich die Wanderer-Fantasie von Schubert. Klaus erstarrt und stürzt aus dem Wirtshaus, Hel, die Klavierspielerin, folgt ihm. Bei ihrer Rückkehr scheint die Stimmung ausgelassen, doch Helmut bemerkt deren Künstlichkeit.

„Wie sollten denn die Leute das Leben aushalten, ohne Schein! (...) Also rasch zurück in die Lustfront, Freizeitfront, Scheinproduktionsfront.“ (Helmut, S. 69)

Auf dem Rückweg galoppiert ein ausgebrochenes Pferd an den Wanderern vorbei. Klaus folgt ihm, und als das Tier stehen bleibt, nähert er sich ihm von der Seite. Es gelingt ihm, seine Mähne zu packen und sich auf den Rücken zu schwingen. Der Fuchs galoppiert davon; Hel, Sabine und Helmut verlieren Klaus aus dem Blick und machen sich Sorgen um ihn. Doch schon kurz darauf kommt er zurückgeritten – und erntet allgemeine Bewunderung. Klaus erklärt, einem fliehenden Pferd dürfe man sich nicht in den Weg stellen, man müsse ihm das Gefühl lassen, sein Weg sei frei. Helmut stimmt seinen Erläuterungen überschwänglich zu.

„Mich friert’s, wenn du so redest, sagte sie. Dann ist es gut, sagte er, mir wird warm, wenn’s dich friert, wenn ich rede.“ (Sabine und Klaus, S. 103)

Beim gemeinsamen Abendessen in dem Hotel, wo die Buchs logieren, behauptet Klaus, für ihn bedeute es ein Glück, sehr alt zu werden. Helmut hingegen sieht 70 Jahre als Obergrenze des Erträglichen. Am nächsten Tag will Hel die Dörfer der Umgebung besuchen, um für ein Buchprojekt alte Frauen zu interviewen. Klaus schlägt den Halms eine weitere Segelpartie vor. Sabine entzieht sich der Einladung unter dem Vorwand, einen Friseurtermin zu haben. Auf dem Heimweg gesteht sie Helmut ihre Angst, sich in Klaus zu verlieben. Helmut fordert sie auf, sich gegen die von Klaus und Hel ausgehende Verführung zu wehren. Auch wenn jene das Richtige täten, so müssten sie beide doch unbedingt beim Falschen bleiben.

Dramatische Segelpartie

Am nächsten Tag sind die beiden Männer allein auf dem Boot. Helmut bemüht sich, beim Setzen der Segel zu helfen. Kaum erreichen sie das offene Wasser, herrscht Flaute. Der See liegt glatt, die Umgebung wirkt farblos. Klaus schwärmt vom gleichmäßigen Passat auf den Bahamas. Er will Helmut dazu bewegen, mit ihm und Hel ans Ziel seiner Träume zu gelangen. Das Leben brauche den Reiz durch Neues, sonst erlösche es. Von Sabine könne Helmut sich ja trennen. Klaus fühlt sich durch die ständige Herausforderung durch Hel fit gehalten. Helmut muss gerettet werden, meint er zu spüren. Er wiederum sei ohne Helmut in Gefahr zu verblöden. Klaus traut Helmut zu, rechtzeitig vor der Resignation zu fliehen.

„Also, wenn ich mich in etwas hineindenken kann, dann ist es ein fliehendes Pferd. (...) Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden.“ (Klaus, S. 90)

Helmut schweigt und nickt zu all den Vorschlägen. Klaus’ atemlose Hymne auf das Leben und sich selbst wird von einer Bö jäh beendet. Klaus ist begeistert von den rotierenden Lichtern am Ufer, die vor dem bevorstehenden Sturm warnen. Er erklärt Helmut, wie er auf Segelkommandos reagieren soll. Auf Helmuts ängstlichen Wunsch, so rasch als möglich an Land zu gehen, erwidert Klaus, er solle endlich aufhören, dem Leben auszuweichen. Klaus ist in seinem Element. Über den aufgewühlten See rasen sie auf das Schweizer Ufer zu, lehnen sich weit aus dem Boot, um nicht zu kentern. Der Sturm nimmt an Heftigkeit zu, und Helmut lässt die Leine, mit der er ein Segel kontrolliert, los. Klaus gibt nach – während er die Segel einholt, soll Helmut mit dem Ruder das Boot auf Kurs halten. Weil dem das misslingt, entsteht die nächste gefährliche Situation. Über den Rand des Bootes gelehnt, brüllt Klaus Lucy in the Sky in den Himmel. Helmut sieht die Wellen ins Boot laufen und weiß: Das Boot wird gleich kentern. Deshalb schlägt er Klaus mit einem Fuß das Ruder aus der Hand. Das Boot schießt wieder in den Wind. Klaus stürzt rücklings in den See. Helmut brüllt nach Klaus, vergeblich. Dann beruhigt er sich mit dem Gedanken, ein so sportlicher Mann wie Klaus werde sich schon retten können. Er fühlt sich vernichtet und heult wie jeweils in den letzten Monaten, in denen er noch mit Sabine schlief. Er hatte diese Schreie gebraucht, Sabine fand sie unerträglich. Jetzt schreit er nach Herzenslust in dem Bewusstsein, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben. Er hört erst auf, als das Boot am Ufer aufsetzt. Helmut geht auf das nächste Licht zu. Die Bewohner des Hauses organisieren das Weitere, während er beschließt, apathisch zu bleiben – wie ein fliehendes Pferd, das nicht mit sich reden lässt.

Helenes Lebensbeichte

Am nächsten Tag rechnet niemand mehr damit, dass Klaus noch lebt. Helmut geht zum See und beginnt endlich mit seiner Urlaubslektüre, den Tagebüchern Kierkegaards. Bald gibt er auf und gesteht sich ein, dass er auf dem Boot in der Sekunde der Entscheidung einen Moment lang aus sich herausgegangen ist und den Schein aufgegeben hat. Helmut muss sich bewegen, ausbrechen. Mit Sabine zusammen kauft er Fahrräder und Sportkleidung. Als sie eben zu einer Radtour aufbrechen wollen, fährt Hel vor. Sie gehen mit ihr in die Wohnung. Nach Kaffee und Kuchen trinken die beiden Frauen ein Glas Calvados nach dem anderen und rauchen dabei. Helmut ist paralysiert – er trinkt und raucht nicht.

„Ich finde einfach, wir sollten, bevor wir fünfzig sind, noch einmal vom Stapel laufen.“ (Klaus zu Helmut, S. 110)

Helene lobt den Calvados. Als sie vor sechs Jahren in Montpellier studiert habe, habe sie öfter Calvados getrunken. Es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Dann hält sie eine Art Nachruf auf Klaus. Er habe nicht viel gehabt von seinem Leben, jeden Tag lange gearbeitet. Alles sei ihm schwergefallen, deshalb habe er immer den Eindruck erwecken wollen, es sei mühelos. Das Gefühl, alles, was er mache, sei Schwindel, habe ihn bedrückt. Die Perspektive, auf die Bahamas zu ziehen, war unrealistisch: Sie konnten sich kaum diesen Urlaub leisten. Die Großmüttersprüche habe sie nur ihm zuliebe gesammelt, damit werde sie aufhören. Herausforderungen der Natur habe Klaus problemlos bewältigt, aber mit Leuten sei er nicht klargekommen. Mit allen habe er sich verkracht. Er sei fix und fertig gewesen. Redakteure und Lektoren hätten ihn spüren lassen, dass sie ihn nicht brauchten. Dann habe er begonnen, Hel andauernd zu fragen, ob sie ihn noch möge. Sie habe ihm ständig beweisen müssen, wie toll er war. Sie selbst habe nicht leben dürfen. Klaus habe sie vor die Wahl gestellt: er oder die Musik. So habe sie ihr Musikstudium aufgeben, ihr Klavier verkaufen müssen. Über die Begegnung mit den Halms habe er sich so gefreut, weil er meinte, das Leben jetzt noch mal packen zu können. An Helmuts ruhiger Art hätte er gesunden können. In ihm sah Klaus all das, was ihm selbst fehlte: Vernunft, Ausgeglichenheit, innere Ruhe. Helene beginnt, die Wanderer-Fantasie von Schubert zu spielen, ohne Klavier, in der Luft, aber unter Einsatz ihres gesamten Körpers.

Der Ausbruch

Es klopft an der Tür. Klaus Buch tritt herein. Er will nur Helene abholen. Mit Sabine und Helmut spricht er nicht. Helmut denkt, dass Klaus ihn in dem Moment, als er ins Wasser stürzte, so durchschaut hat wie noch nie ein Mensch zuvor. Als die Buchs gegangen sind, setzt sich Helmut, zündet sich eine Zigarre an und trinkt Calvados. Sabine versteht Klaus’ Verhalten nicht. Sie will Helmut zu Radtour und Waldlauf bewegen, doch der will nur abreisen. Sabine meint, sie hätte auch noch eine Rede zu halten, doch Helmut vertröstet sie auf die Reise. Sie packen und fahren ab. Am Bahnhof will Helmut Fahrkarten nach Meran lösen, doch auf Sabines Vorschlag hin reisen sie nach Montpellier. Im Zug möchte Sabine wissen, was eigentlich am Tag zuvor passiert ist. Helmut erzählt seine Geschichte. Sie beginnt in dem Moment, als Sabine auf einen freien Tisch im Café an der Uferpromenade zusteuert.

Zum Text

Aufbau und Stil

Ein fliehendes Pferd ist in neun Kapitel unterteilt. Die Ereignisse werden aus der Perspektive des Antihelden Helmut Halm in „Er-Form“ erzählt. Dabei wird die chronologische Abfolge der Ereignisse durch innere Monologe Helmuts unterbrochen, die den Schlüssel zum Verständnis seiner Weltsicht bilden. Die Episode mit dem fliehenden Pferd funktioniert als die für Goethe für eine Novelle geforderte „unerhörte Begebenheit“. Sie steht im Zentrum des Werks, während die dramatische Segelpartie und ihre Folgen das letzte Drittel der Novelle einnehmen. Helenes langer Monolog gegen Ende des Buchs eröffnet schließlich eine völlig neue Sicht auf Klaus und ihr eigenes Leben. Man hört ihren Bekenntnissen den zunehmenden Einfluss des konsumierten Alkohols an. Ansonsten zeichnet sich Walsers Stil durch Knappheit, Prägnanz und lakonische Einfachheit aus. Spannung – und auch Witz – gewinnt die Erzählung aus dem Gegensatz zwischen komischen Momenten und der nüchternen Art, wie diese beschrieben werden. Ein sanft ironischer Ton bricht die unterschwellige Sympathie, die Walser seiner Hauptfigur Helmut zukommen lässt.

Interpretationsansätze

  • Helmut hat sich im Leben eingerichtet und erwartet nichts mehr davon. Er ist sich seines Kleinbürgertums bewusst und stolz darauf. Durch die Begegnung mit dem dynamisch-extrovertierten Klaus wird der behäbig-introvertierte Helmut schmerzlich mit seinem eigenen Mangel an Vitalität konfrontiert.
  • Im Symbol des fliehenden Pferdes finden die beiden Männer eine gemeinsame Eigenschaft. Beide sind auf der Flucht: Helmut vor dem Durchschautwerden, vor äußeren Zwängen, letztlich vor dem Leben; Klaus vor seinem konfliktreichen Arbeitsalltag, den er in herausfordernden Freizeitaktivitäten zu kompensieren sucht, letztlich vor dem Tod. Während Klaus anfangs zu triumphieren scheint, bleibt Helmut plötzlich ohne Gegner zurück. Schließlich kommen beide davon – oder keiner.
  • Die Frauenfiguren sind keineswegs emanzipiert. Helene widmet sich ihren Projekten nur auf Drängen ihres Mannes, und von Sabines Interessen oder Aktivitäten erfahren wir überhaupt nichts. Zugleich sind die Männer auf ihre Frauen angewiesen. Klaus muss sich ständig der Zuneigung Helenes versichern, und Helmut kann ohne seinen „einzigen Menschen“ Sabine nicht leben. Nur sie darf ihn durchschauen.
  • Der Gegensatz von Schein und Sein prägt die Charaktere. Helmut bereitet nichts größeres Vergnügen, als missverstanden zu werden. Er lebt nur im Schauspiel, fühlt sich nur im Erlebnis der Diskrepanz zwischen wahrer Innenwelt und erwecktem Schein lebendig. Klaus versucht mühelose Dynamik zu erwecken, während ihm in Wirklichkeit alles schwerfällt.
  • Der Novelle ist ein Zitat von Sören Kierkegaard vorangestellt, in dem dieser bedauert, viele Novellen würden Lebenseinstellungen einander gegenüberstellen und dann eine über die andere siegen lassen – etwas, was Walser offensichtlich vermeidet.
  • Helmut Halm ist ein typisch Walser’scher Antiheld. Er wird sich der Leere seines Lebens und seines Unvermögens bewusst, kann sich aber wohl nicht grundsätzlich ändern. Immerhin gelingt ihm mit seiner spontanen Abreise am Ende so etwas wie ein Ausbruch.

Historischer Hintergrund

Krise als Dauerzustand

In den 1970er Jahren erstarb in der Bundesrepublik Deutschland jene Aufbruchstimmung, die mit der Studentenbewegung 1967 Einzug gehalten hatte. Die Hoffnung auf mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit wurde weitgehend enttäuscht, gleichzeitig pervertierte der Linksterrorismus die Ideale der Studentenrevolten. Regiert wurde die Bundesrepublik aus einer Koalition zwischen SPD und FDP. Mit Willy Brandtkam zwar 1969 ein Politiker an die Macht, der „mehr Demokratie wagen“ wollte, doch 1974 stürzte Brandt über die Affäre um Günter Guillaume, einen DDR-Spion im Kanzleramt. Zur Zeit von Brandts Nachfolger im Kanzleramt, Helmut Schmidt, erreichte die Terrorwelle ihren Höhepunkt: 1977 wurden mehrere hohe Repräsentanten von Staat und Wirtschaft ermordet.

Der Glaube an ein immerwährendes Wirtschaftswunder, wie es die Nachkriegszeit bis Ende der 1960er Jahre beherrscht hatte, war ausgeträumt. Mehrere Erhöhungen des Rohölpreises lösten Wirtschaftskrisen mit bis dahin weitgehend unbekannten Erscheinungen aus: Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, steigende Sozialausgaben, verstärkte Inflation, steigende Staatsverschuldung, Rationalisierung, Streiks und Unternehmenspleiten. Als Reaktion auf die erste Ölkrise durften Ende 1973 in der Bundesrepublik an vier Sonntagen keine Autos fahren. Die Auswirkungen bedenkenloser Industrialisierung und wachsenden Wohlstands auf die Natur waren nicht mehr zu übersehen. Dreckige Luft und schäumende, nahezu tote Gewässer rückten den Umweltschutz ins Bewusstsein der Menschen. Als Ersatz für fossile Energiequellen und zur Verminderung der Abhängigkeit vom Öl wurde der Bau von Atomkraftwerken forciert. Die Krise wurde zur Normalität.

Die gebildete Mittelschicht reagierte darauf mit einem Rückzug ins Private: Statt der Realisierung hehrer Ideale stand nun das Streben nach privatem Glück im Vordergrund. Auslandurlaub, gutes Essen und sportliche Aktivitäten kennzeichneten den aufkommenden Hedonismus. Auch Sex wurde mehr und mehr zum Konsumgut. In den Medien wurde offen darüber diskutiert, die zunehmend emanzipierten Frauen forderten Selbstbestimmung.

Entstehung

Nach der Trilogie um die Figur Anselm Kristlein, die Walser 1960 mit Halbzeit begonnen, mit dem 1966 erschienenen Roman Das Einhorn fortgeführt und 1973 mit Der Sturz abgeschlossen hatte, erfand der Autor andere Protagonisten. Die Gallistl’sche Krankheit aus dem Jahre 1972 hat erstmals einen Intellektuellen zur Hauptfigur. In dem zwei Jahre vor Ein fliehendes Pferd veröffentlichten Roman Jenseits der Liebe blickt der gescheiterte Firmenrepräsentant Franz Horn auf die Scherben seiner beruflichen und privaten Existenz. Walser hielt sich in den 70er Jahren immer wieder längere Zeit im angelsächsischen Raum auf. So war er 1973 sechs Monate am Middlebury College in Vermont und an der University of Texas in Austin. 1975 verbrachte er zwei Monate an der englischen University of Warwick, 1976 vier Monate an der West Virginia University in Morgantown. Während der 1970er Jahre galt Walser als Anhänger der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), der er aber nie als Mitglied angehört hat. Vermutlich hat Walser Ein fliehendes Pferd überwiegend in Nussdorf am Bodensee geschrieben, wo er seit 1968 wohnt. Die Erwähnung einer sommerlichen Dürre weist darauf hin, dass die Novelle im heißen und trockenen Sommer 1976 zu verorten ist.

Wirkungsgeschichte

Die Kritik reagierte enthusiastisch auf Ein fliehendes Pferd. Die Rezensionen unmittelbar nach Erscheinen des Buches Anfang 1978 sahen darin die Mentalitäten bundesdeutscher Mittelstandsbürger genau beschrieben. Benjamin Henrichs schrieb in der Zeit: „Eine Novelle, die mit dem Wort ‚meisterhaft’ eher karg gelobt wäre. Ein Buch, auf dessen 151 Seiten man mehr über die so genannte Krise der Lebensmitte (und andere Krisen auch) lernen kann als in den fetten Aufklärungsbüchern mit all ihren Statistiken und aufdringlichen Bekenntnissen (...)“. Marcel Reich-Ranicki hielt die Novelle für Walsers reifstes Buch und bezeichnete es als „ein Glanzstück deutscher Prosa unserer Jahre“. Und die Stuttgarter Zeitung schrieb: „(...) diese Geschichte könnte zu dem gehören, was einmal übrig bleibt von einem Jahrhundert“. Zusammen mit Ulrich Khuon schrieb Walser eine Bühnenfassung, die 1985 in Meersburg uraufgeführt wurde. Gleichzeitig stellte er das Ehepaar Sabine und Helmut Halm auch ins Zentrum seines Romans Brandung. Die Hörspielfassung der Novelle, durch den Autor selbst bearbeitet, sendete der Bayerische Rundfunk am 17. März 1986 erstmals. Im selben Jahr entstand eine mit Vadim Glowna als Helmut und Rosel Zech in der Rolle der Sabine hervorragend besetzte Verfilmung für das Fernsehen unter der Regie von Peter Beauvais. Eine Neuverfilmung von 2007 unter der Regie von Rainer Kaufmann besetzte Helmut mit Ulrich Noethen, Klaus mit Ulrich Tukur, Sabine mit Katja Riemann und Helene mit Petra Schmidt-Schaller.

Über den Autor

Martin Walser wird am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Seine Eltern betreiben das örtliche Bahnhofsrestaurant und eine Kohlenhandlung. Seinen Vater verliert er mit zehn, seine Schulzeit wird vom Wehrdienst unterbrochen: Mit 16 wird Walser erst als Flakhelfer eingesetzt, dann im Reichsarbeitsdienst. 1946 macht er sein Abitur, dann studiert er Literatur, Geschichte und Philosophie und promoviert mit einer Arbeit über Franz Kafka. Von 1949 bis 1957 arbeitet der junge Walser als Reporter für den Süddeutschen Rundfunk, unternimmt zahlreiche Auslandsreisen und schreibt erste Hörspiele. Er nimmt an den Tagungen der „Gruppe 47“ teil. Für seinen 1957 erschienenen ersten Roman Ehen in Philippsburg erhält er den Hermann-Hesse-Preis. 1962 wird das Drama Eiche und Angora uraufgeführt. Mit Das Einhorn (1966) und Der Sturz (1973) schließt er die 1960 mit Halbzeit begonnene „Anselm-Kristlein-Trilogie“ ab. Walser verfasst auch zahlreiche Kurztexte über die Literatur und seine Heimatregion am Bodensee. Seit 1968 lebt er in Nussdorf bei Überlingen. Wie viele andere Intellektuelle setzt er sich in den 60er Jahren für die Wahl Willy Brandts zum Kanzler ein. Auf die Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) folgen 1980 der Roman Das Schwanenhaus sowie 1985 Brandung und Meßmers Gedanken. In der Novelle Dorle und Wolf (1987) beschäftigt sich Walser mit der deutschen Teilung, die er als schmerzlich empfindet und mit der er sich nicht abfinden will. 1998 erscheint sein autobiografisches Werk Ein springender Brunnen. Der Schriftsteller wird mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter 1981 mit dem Georg-Büchner-Preis, dem wichtigsten deutschen Literaturpreis. Seine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels führt 1998 zu einer heftigen öffentlichen Kontroverse: Walser plädiert dafür, Auschwitz nicht ständig als Moralkeule gegen die Deutschen zu verwenden. Ebenfalls für Aufruhr sorgt der Roman Tod eines Kritikers (2002): Die Titelfigur trägt unverkennbar die Züge des „Literaturpapstes“ Marcel Reich-Ranicki. Der erklärt den Autor darauf für „nicht mehr salonfähig“. Das bisher letzte Werk Walsers ist der Roman Angstblüte (2006).

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    A. S. vor 8 Jahren
    Süppppper.danke!

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