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Kein Ort. Nirgends

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Kein Ort. Nirgends

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Zu zweit einsam in schlechter Gesellschaft.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Postmoderne

Worum es geht

Seelenstriptease auf hohem Niveau

Was in der Realität nie stattgefunden hat, passiert in dieser Erzählung: Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode treffen im Rahmen einer Tischgesellschaft aufeinander. Beide erkennen einander im Lauf des Nachmittags als Seelenverwandte, ohne dass diese Erkenntnis zu einem Happy End führt. Mit der Wahl dieses historisch-fiktionalen Stoffs bearbeitet Christa Wolf, in Distanz zur eigenen Gegenwart, ein zeitloses Problem: Der Einzelne möchte am großen Ganzen teilnehmen und es mitgestalten, er scheitert aber an sich selbst und an den anderen. Besonders eindrucksvoll ist der Text dadurch, dass Wolf ein authentisches Bild der seelisch angespannten Lage Heinrich von Kleists und Karoline von Günderrodes entstehen lässt. Da beide Personen im echten Leben Selbstmord begingen – kurz nach dem Zeitpunkt ihres fiktiven Aufeinandertreffens 1804 –, gewinnt die kammerspielartige Handlung zusätzlich an Spannung. Die Erzählung zeichnet sich durch einen dichten, manchmal auch etwas gestelzten Schreibstil aus. Christa Wolf ist damit ein eindringliches Stück Literatur gelungen.

Take-aways

  • Kein Ort. Nirgends ist eine der bekanntesten Erzählungen von Christa Wolf.
  • Inhalt: Der Dichter Heinrich von Kleist und die Dichterin Karoline von Günderrode treffen im Rahmen einer Kaffeerunde zusammen. Inmitten einer illustren Schar versuchen beide vergeblich, den Konventionen des geistreichen Austauschs zu genügen. Bei einem Spaziergang der Gesellschaft führen die beiden Außenseiter ein intensives Gespräch, in dem sie ihre Gemeinsamkeiten entdecken.
  • Im Fokus der Erzählung steht der Künstler, dessen Wirkungskreis durch eine immer rationaler werdende Umwelt stetig eingeschränkt wird.
  • Das thematisierte Spannungsfeld zwischen Romantik und Klassik weist Parallelen zum Kunstverständnis in der DDR auf.
  • Der Text traf den Nerv zahlreicher DDR-Intellektueller, die in der geschilderten Distanz des Individuums zu seiner Umgebung die eigene Lebenssituation wiedererkannten.
  • Stilistisch zeichnet sich die Erzählung durch innere Monologe, durch Verschmelzungen von direkter und indirekter Rede und durch Ausdrücke aus der Romantik aus.
  • Der Titel ist eine Umschreibung des aus dem Griechischen stammenden Begriffs „Utopie“.
  • Die Erzählung erschien 1979 gleichzeitig im Osten und im Westen und wurde von Rezensenten als Kritik an den Verhältnissen in der DDR gewertet.
  • Christa Wolf unterstrich damit ihren Ruf als gesellschaftskritische Autorin.
  • Zitat: „Die Erleichterung, als er die Hoffnung auf eine irdische Existenz, die ihm entsprechen würde, aufgab. Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.“

Zusammenfassung

Treffen in Winkel am Rhein

Heinrich von Kleist wohnt auf einem größeren Anwesen einer Tischgesellschaft bei. Nach dem Eintreffen schlendert er umher und mustert die Gäste. Eine Erkrankung beschäftigt ihn, immer wieder ruft er sich die mahnenden Worte seines Arztes Doktor Wedekind in Erinnerung. Kleist fürchtet, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, ist es doch offensichtlich nicht gut um seinen nervlichen Zustand bestellt. Nervös geht er umher. Dabei denkt er unentwegt an den Ratschlag seines Arztes, seine Reisen quer durch Europa aus gesundheitlichen Gründen einzustellen. Ganz in Gedanken versunken bemerkt Kleist zufällig eine ihm noch nicht bekannte Dame, die am Fenster steht: Es ist Karoline von Günderrode. Auch sie ist im Geist ganz woanders, sie hegt nämlich Selbstmordgedanken. Kleist beobachtet die Günderrode eine Weile. In ihrer unnahbaren Art ist sie ihm nicht geheuer. Sie unterscheidet sich von den anderen Damen der Gesellschaft, etwa von Bettine Brentano, der Schwester des Dichters Clemens Brentano. Alle suchen sie das Gespräch – Karoline von Günderrode nicht. Und wenn sie in ein Gespräch verwickelt wird, dann bleibt sie oberflächlich.

Öde Gesellschaft und erste Annäherung

Wedekind tritt zu Kleist. Die beiden unterhalten sich über Kleists Dichtung. Kleist fühlt sich unwohl, er misstraut dem Mediziner, hält ihn für einen Spötter, der sich über ihn lustig macht. Bald steht er wieder allein, beobachtet die Szene. Erneut versinkt er in Gedanken. Die Inneneinrichtung interessiert Kleist mehr als die Besucher. Er sinniert über Frauen im Allgemeinen und seine Bekanntschaften im Besonderen. Doktor Wedekind spricht ihn abermals an. Kleist beteuert, es sei alles in Ordnung und er sei gern hier im Rheinland, wo er sich seit seiner Soldatenzeit zum ersten Mal aufhalte. Kleists Gedanken schweifen in seine eigene Vergangenheit, unter anderem zu seiner einstigen Braut Wilhelmine von Zenge, die er sitzen gelassen hat. Auch das vergangene halbe Jahr als Patient in Doktor Wedekinds Haus kommt wieder hoch. Der Doktor ist von Kleists Selbstversunkenheit alarmiert, er sieht einen Nervenzusammenbruch kommen und lenkt ihn ab. Auf die Frage, wie er die Gäste einschätze, äußert Kleist den Wunsch, wenn überhaupt jemanden, dann nur die abweisende Dame am Fenster anzusprechen.

Nachstellung

Inzwischen hat die Günderrode Kleist ihrerseits bemerkt. Sie kennt ihn als Dichter, erst kürzlich sah sie die Aufführung eines seiner Stücke und fand sie misslungen. Auch Kleists desolater Gesundheitszustand ist ihr bekannt. Sie mustert ihn eindringlich und wundert sich über seine zierliche und jungenhafte Erscheinung, die sie als starken Gegensatz zu den Stoffen seiner Dichtung empfindet. Gleichzeitig beginnt auch sie, sich in dieser Gesellschaft unwohl zu fühlen. Clemens Brentano belästigt sie durch allzu deutliche Nachstellungen. Besonders macht der Günderrode aber der Umstand zu schaffen, dass sie erst kürzlich ihr Pseudonym gelüftet hat und nun als Dichterin der Öffentlichkeit bekannt ist. Ausgerechnet Brentano spricht sie prompt darauf an. Sie gibt sich gelassen; innerlich ist sie jedoch von Selbstzweifeln geplagt. Vor allem die Kritik der Fachwelt an ihrer Kunst hat sie stark getroffen. Sie sucht Ablenkung, beglückwünscht Sophie Mereau, Brentanos Frau, zur Mutterschaft. In Gedanken zweifelt sie gleichzeitig an einer eigenen Mutterrolle. So etwas kann sie sich überhaupt nicht vorstellen. Die Welt um sie herum erscheint ihr fremd und abstoßend.

Die alte Wunde

Heinrich von Kleist beobachtet Karoline von Günderrode weiter. Brentanos Annäherungen registriert er, ebenso ihre abweisende Haltung. Er verliert sich in Träumereien, denkt erneut an Wilhelmine. Wehmütig ruft er sich den Moment ins Gedächtnis, als er seiner Geliebten von einem alten Traum erzählte, als erstem Menschen überhaupt. In diesem Traum jagte Kleist vergeblich einen Eber, bis ein Unbekannter erschien und ihm die Flinte reichte. Kleist erlegte das Tier. Daraufhin zeigte Wilhelmine sich erschüttert und beendete die Beziehung. Doktor Wedekind reißt Kleist aus seinen Erinnerungen. Kreidebleich setzt er sich, noch ganz mitgenommen. Wedekind ist eingeweiht, er kennt die regelmäßigen Anfälle und schirmt Kleist gegen allzu neugierige Blicke ab. Schon früher einmal hat er dem Dichter eine alte Methode empfohlen, um sich wieder zu beruhigen: Er solle sich tief in einen anderen Menschen hineindenken. Wedekind schlägt ihm nun Herrn Savigny vor, einen Mann, der sich seines Erfolgs im Beruf und bei den Frauen gewiss ist. Doch Kleists Verbitterung steigt. Dann wird zum Tee gebeten.

Bei Tisch

Karoline von Günderrode denkt über den Sinn ihrer Anwesenheit in dieser Gesellschaft nach. Erst wollte sie gar nicht kommen, aber irgendetwas ließ sie dann doch einwilligen. Sie erinnert sich an eine alte Romanze mit Herrn Savigny. Währenddessen wird sie weiterhin von Clemens Brentano bedrängt, der auch bei Tisch ihre Nähe sucht. Einmal mehr nimmt er ihre Gedichte als Aufhänger für seine Schmeicheleien. Die Günderrode reagiert kalt und weist ihn ab. Brentano versucht noch, sie an ihre alte, längst erkaltete Liebesbeziehung zu erinnern, doch sie geht nicht darauf ein. Die Günderrode beobachtet die Tischgesellschaft. Sie bemerkt Kleist, sieht, dass er isoliert am Tisch sitzt und sie immer wieder anstarrt.

„Die arge Spur, in der die Zeit von uns wegläuft.“ (S. 9)

Kleist macht sich Gedanken über die Günderrode, deren Nähe zu Brentano ihm auffällt. Wie sie tauscht auch er selbst sich nur mit einem bestimmten Menschen, nämlich mit Wedekind, aus. Kleist verfällt in Erinnerungen. Er sinniert über die Härten, die sein Nervenzusammenbruch mit sich brachte, und darüber, wie der Arzt ihn aufnahm und seitdem betreut. Kleist ist dankbar und argwöhnisch zugleich. Im Wahn schüttete er Doktor Wedekind sein Herz aus und teilte ihm seine innigsten Empfindungen mit – eine Pein, die Kleist noch heute schwer belastet. Wieder versinkt er ins Grübeln, hadert mit sich und seinem schwachen Nervenkostüm. Schließlich rutscht es ihm heraus: „Es ist um verrückt zu werden.“ Joseph Merten, der Gastgeber, erkundigt sich daraufhin bei Kleist, ob alles in Ordnung sei.

Der Dolch

Unter den Augen der Anwesenden fällt Karoline von Günderode ein Dolch aus der Handtasche. Alle kommen zusammen und begutachten die Waffe. Auf die Frage, warum sie einen Dolch bei sich trage, erklärt die Günderrode diesen Umstand zur normalsten Sache der Welt. Nach anfänglicher Irritation setzt allgemeine Entspannung ein. Der Doktor hat die Szene beobachtet und nimmt den Dolch nun an sich. Die Günderrode protestiert und erhält die Waffe prompt zurück. Kleist beobachtet die Szene aus sicherer Distanz. Dann wird Wein serviert.

„Ich fühle zu nichts Neigung, was die Welt behauptet. Ihre Forderungen, ihre Gesetze und Zwecke kommen mir allesamt so verkehrt vor.“ (Günderrode, S. 11)

Kleist beginnt ein Streitgespräch mit Savigny. Es geht um Frankreich und die Revolution. Kleist verachtet Napoleon, fühlt sich aber dennoch von dessen heroischem Charakter angezogen. In Gedanken lässt er seinen eigenen Frankreichaufenthalt Revue passieren. Einst reiste Kleist von Faszination getrieben nach Paris. Doch er verließ die Stadt angewidert wieder, sie erschien ihm verdorben und sittenwidrig. Savigny verteidigt den politischen Ansatz der Revolution, der für Gedankenfreiheit und staatliche Ordnung sorge. Zu dem Preis allerdings, so entgegnet Kleist, dass neuartige Gedanken und Ideale keine praktische Umsetzung im Leben mehr fänden. Für Ideale sei exklusiv die Kunst zuständig, sagt Savigny. Kleist widerspricht und betont die verändernde Kraft der Gedanken, die vor nichts haltmache. Einer näheren Ausführung verweigert er sich. In seinem Innern brodelt es.

„Es wird leicht sein und sicher, sie muss nur achten, dass sie die Waffe immer bei sich hat. Was man lange und oft genug denkt, verliert allen Schrecken.“ (über Günderrode, S. 14)

Kleist zieht sich schließlich entnervt ans Fenster zurück. Nach einer Weile tritt die Günderrode hinzu und erkundigt sich nach seinem Disput mit Savigny. Beide tauschen sich oberflächlich aus, die Günderrode lässt ihre Antipathie für Savigny durchblicken. Wenig später sind wiederum die Günderrode und Herr Savigny in ein Gespräch vertieft. Kleist beobachtet aus der Distanz. Die Unterredung endet, als sich die Günderrrode mit festem Gesichtsausdruck erhebt und zu einer Gruppe von Damen geht.

Ernste Zweifel

Gastgeber Merten fragt Kleist ohne Umschweife, ob er von seiner Dichtung leben könne. Kleist verneint und verhöhnt geradezu den Brotberuf des Dichters. Brentano stimmt Kleist ausdrücklich zu und beteuert, ein Dichter habe mit seinem Werk kaum noch Einfluss auf das Leben. Kleist bestätigt ihn und äußert seine pessimistische Weltsicht. Er wird sentimental und berichtet von einer Reise in die Schweiz. Weitab seiner brandenburgischen Heimat habe er sich frei gefühlt. Hier aber würden die Regeln des Zusammenlebens ihn erdrücken, er fühle sich als Künstler in der Heimat fehl am Platz und von niemandem verstanden oder gebraucht. Kleist verteidigt die Freiheit von Kunst und Wissenschaft gegen die Allmacht des Staates. Er wird daraufhin kritisch beäugt, mitunter belächelt. Resigniert zieht er sich zurück.

„Harmonie, Mäßigung, Milde. Kleist, so übermäßig er sich anstrengt, dringt in das innere Leben der Wörter nicht ein.“ (S. 17)

Clemens Brentano trägt ein Gedicht von Karoline von Günderrode vor. Er möchte sie damit provozieren, doch der Plan misslingt. Selbstbewusst stellt die Günderrode Brentano nach dem Vortrag zu Rede; der ist beschämt und entschuldigt sich umgehend. Kleist, der andächtig zugehört hat, ist ganz angetan von dieser Courage. Im Anschluss bricht die Gesellschaft zu einem Nachmittagsspaziergang auf.

Spaziergang unter Seelenverwandten

Kleist und die Günderrode gehen etwas abseits und unterhalten sich über die Unmöglichkeit, die eigene Kunst den Mitmenschen wirklich verständlich zu machen. Plötzlich bleibt Kleist stehen und zeichnet mit einem Stock etwas in den Sand. Die Günderrode erkennt Kleists Problem sofort und pflichtet ihm bei: Kein Trauerspiel seien seine Dramen, sondern ein Verhängnis. Kleist fühlt sich verstanden. Eine vertraute Atmosphäre entsteht. Er spricht davon, dass sie beide unter dem Einfluss der Zeit zu leiden hätten. Die Günderode pflichtet ihm bei. Kleist ist erstaunt über die Seelenverwandtschaft, gleichzeitig kommen ihm Zweifel, was die Aufrichtigkeit ihrer Anteilnahme betrifft. Plötzlich schließt Bettina zu den beiden auf, sie trägt eine Gitarre. Ihr Bruder Clemens kommt hinzu und singt Karoline von Günderrode ein Lied. Diese ist trotz der eben erst versuchten Bloßstellung wieder mit ihm versöhnt. Die Umherstehenden fordern eine Zugabe, doch die Günderrode zieht Kleist plötzlich fort. Beide gehen schweigend davon. Kleist ist es unwohl dabei, er wäre gern allein. Auch die Günderrode bereut ihren spontanen Entschluss umgehend.

Offenbarung

Die beiden finden wieder ins Gespräch. Kleist philosophiert über den Zufall, der alles Leben bestimme, und berichtet von einem Ereignis im Städtchen Butzbach – in dem zufällig die Günderrode einst lebte. Sie ist überrascht über diesen Umstand und findet Gefallen am Gespräch mit Kleist, auch an Kleist selbst. Sie spricht ihn auf seine Schwester an, die angeblich in Männerkleidern mit ihm nach Paris gereist sei. Kleist ist sogleich verärgert und ernüchtert, sie hat einen wunden Punkt getroffen. Karoline von Günderrode errötet. Eine Weile gehen sie stumm nebeneinander her. Kleists Gedanken kreisen um die Frauen und deren oberflächliche Eigenart, die er noch nie leiden konnte. Die Günderrode macht eine Bemerkung über die Landschaft, darüber, dass ihr diese manchmal im Traum bloß als eine Leinwand erscheine, die schließlich zerreiße. Kleist horcht auf. Die Günderrode rezitiert nun einen Vers aus ihrer eigenen, Kleist allerdings unbekannten Dichtung: „Was mich tötet, zu gebären.“ Kleist fährt zusammen, die Worte erschüttern ihn. Er versucht sich zu beruhigen, allein schon wegen seiner Gesundheit. Die Günderrode plädiert für ein Brechen von Tabus. Kleist ist wie betäubt, er verfällt in seine alten Tagträume.

Austausch und Abschied

Die beiden fassen sich wieder und setzen ihr Gespräch fort. Die Günderrode spricht von ihrer düsteren Stimmung und der Unmöglichkeit, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Kleist ist diese Situation vertraut. Halbherzig versucht er sie zu beruhigen. Doch die Günderrode lässt sich nicht beirren. Sie spricht Kleist auf dessen Dichtung an und auf die Möglichkeit, sich durch die Kunst einen Ausgleich zum sinnlosen Leben zu schaffen. Ihr selbst bleibe dieser Ausweg versperrt. Kleist fühlt sich immer stärker zur Günderrode hingezogen. Er erklärt sich ihre verzweifelte Position mit der Rolle der Frau, die von Natur aus leiden müsse. Die beiden blicken einander lange an, schließlich kehren sie um. Karoline von Günderrode erkundigt sich nach einem neuen Stück von Kleist. Ihr Interesse daran erstaunt ihn, denn kaum jemand hat sich bislang dafür interessiert. Sie verharren und beobachten den Sonnenuntergang, in Gedanken versunken. Plötzlich bricht die Günderrode in Gelächter aus, Kleist stimmt sogleich ein. Anschließend ruft man nach Kleist, die Kutsche steht abfahrbereit. Karoline von Günderrode und er verabschieden sich flüchtig. Es wird dunkel.

Zum Text

Aufbau und Stil

Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends ist ein in Form und Inhalt anspruchsvoller Text. Durch die Erzähltechnik des inneren Monologs erhält der Leser einen unmittelbaren Einblick in die Gedanken und Gefühle der Hauptfiguren. Überwiegend kurze Sätze ermöglichen es, die gedankliche Atemlosigkeit der Protagonisten nachzuvollziehen. Der Leser gewinnt den Eindruck, sich direkt in der Gedankenwelt der Figuren zu befinden. Direkte und indirekte Rede gehen oft ineinander über, außerdem verzichtet die Erzählerin bei den ohnehin spärlich vorhandenen Dialogen auf die akkurate Kennzeichnung durch Anführungsstriche. Der Text weist keinerlei Gliederung in Abschnitte oder Kapitel auf. Die Ansiedlung der Handlung in der romantischen Epoche geht mit entsprechenden, damals üblichen Ausdrucksformen einher. So fügt Christa Wolf an einigen Stellen direkte und indirekte Originalzitate damals wirkender Dichter ein. Da eine Kenntlichmachung derselben aber fehlt, steigert das die ohnehin vorhandene Dichte des Erzählstils noch einmal und sorgt zugleich für ein authentisches Abbild damaliger Gesprächskreise.

Interpretationsansätze

  • Die Handlung von Kein Ort. Nirgends spielt im Jahr 1804 und damit zu einer Zeit, als zwei Literaturschulen miteinander konkurrierten, Klassik und Romantik. Die Rollenverteilung im Text ist eindeutig: Kleist und Günderrode vertreten die Romantik, Tischnachbarn wie Savigny dagegen die klassische, auf Erziehung angelegte Auffassung von Kunst. Nach dem Kunstverständnis der DDR galt die Romantik mit ihrer Betonung des menschlichen Unvermögens, alle Teilbereiche des Lebens zu verstehen, als unerwünscht. Ziel des DDR-Künstlers musste die Mitwirkung am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft sein.
  • Der Titel Kein Ort. Nirgends ist eine Umschreibung des griechischen Begriffs „u topos“, also „Nicht-Ort“. Der davon abgeleitete Begriff der Utopie meint das Idealbild einer Form des gesellschaftlichen Miteinanders, gemeinhin einen Zustand, der nie erreicht werden kann – allein das Streben danach ist möglich. In der Erzählung sind es Kleist und Günderrode, die nach einem solchen Zustand streben.
  • Kleist gilt – mehr noch als Karoline von Günderrode – in der Literaturgeschichte als Paradebeispiel des an sich selbst und seiner Umwelt zweifelnden Dichters. Wie bei Karoline von Günderrode zeichnet sich allerdings auch Kleists Lebensweg nicht durch eine Kette von lähmenden Depressionen, sondern durch ein Verstehenwollen der Zeitumstände aus.
  • Die Frage nach der Rolle des Individuums in der Gesellschaft steht im Kern der Erzählung: Was darf der Einzelne wollen, ohne gegenüber den anderen anmaßend zu sein? Um diese Konfliktlage zu beschreiben, geht Wolf zurück in die Zeit des bürgerlichen Aufschwungs um 1800. Die Industrialisierung brachte beim entstehenden Bürgertum den Nützlichkeitsgedanken hervor, der gezielt nach einer verwertbaren Rolle des Menschen verlangte. Das Ich sollte in die immer komplexer werdenden Arbeitsabläufe eingegliedert werden, um so eine Gesellschaft zu optimieren, die in erster Linie auf den materiellen Gewinn und damit auf eine Wohlstandsvermehrung ausgerichtet war. Der Kunst sollte diesbezüglich eine Art Spielraum überlassen werden, strikt getrennt vom Bereich der Wirtschaft und der Politik. Eine gegenseitige Durchdringung, eine Einheit von Geist und Macht war in diesem Konzept nicht vorgesehen.

Historischer Hintergrund

Die DDR in den 1970er-Jahren

Zu Beginn der 1970er-Jahre erlangte Erich Honecker die Macht im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und läutete innenpolitische Reformen ein. Mit dem Abtreten der alten Riege um Walter Ulbricht verband ein Großteil der DDR-Bevölkerung Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Diese sollte laut Staatsführung mit der Erfüllung des Fünfjahresplans 1971 bis 1976 deutlich spürbar werden. Tatsächlich stiegen bis 1980 die Löhne und das Warenangebot erreichte eine bis dahin ungeahnte Vielfalt. Die Steigerung der Lebensqualität brachte die DDR-Wirtschaft aber an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.

Parallel zum Anstieg des Wohlstands achtete die DDR-Führung stärker auf eine dem „sozialistischen Realismus“ verpflichtete Literatur. Dieser Stilrichtung mit ihrer beschreibenden, stets konkreten Art bei gleichzeitigem Verzicht auf jede poetische Ausschmückung kam bei der gesellschaftlichen Entwicklung eine tragende Rolle zu. Kritik an dieser Linie wurde prinzipiell abgelehnt und entschieden bekämpft. Im Verlauf der 70er-Jahre verstärkte die politische Führung ihren Einfluss auf die Kunst stetig. Dementsprechend erlebten Christa Wolf und andere Schriftsteller die zweite Hälfte des Jahrzehnts als eine unangenehme Phase.

Entstehung

Ein für Christa Wolf in dieser Zeit einschneidendes Erlebnis war die Ausbürgerung des Dichterkollegen Wolf Biermann 1976. Zusammen mit anderen Künstlern appellierte sie an die Staatsführung, den Beschluss der Ausweisung zurückzunehmen. Die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen ließ sie schließlich an ihrem Platz in der sozialistischen Gesellschaft zweifeln.

Unter dem Eindruck dieser Ernüchterung begann Wolf 1977 mit der Arbeit an Kein Ort. Nirgends. Sie empfand sich innerhalb der DDR, deren weltanschauliche Perspektive sie grundsätzlich teilte, als ebenso isoliert und auf ihre Tätigkeit als Schriftstellerin zurückgeworfen wie die beiden Protagonisten Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode. Allerdings wollte sie mit Kein Ort. Nirgends keine grundsätzliche Entfremdung zwischen Individuum und sozialistischem Staat ausdrücken, sondern vielmehr auf die schwierige Lage des Künstlers im System aufmerksam machen – ein Zustand, der nach Christa Wolfs Ansicht prinzipiell veränderbar war und der im Medium der Kunst thematisiert werden konnte und sollte. Von den Verantwortlichen der DDR ins Abseits gedrängt und daher ohne Einfluss auf den gesellschaftlichen Prozess, fand Wolf in den Dichtern der Romantik eine geistige Verwandtschaft: Die Romantik galt klassisch, also erzieherisch orientierten Künstlern wie Goethe und Schiller, die in ihrer Zeit über den größten Einfluss im kulturellen Bereich verfügten und der Politik nahestanden, als gescheiterte, sogar als verdorbene Variante von Literatur, deren Einfluss schädlich sei.

Neben Christa Wolf suchten weitere namhafte Autoren der DDR unter Romantikern nach Vorbildern. Ein prominentes Beispiel war die Dichterin Anna Seghers, langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbands der DDR. Sie betonte die gefährliche Isolation, in die eine intolerante Gesellschaft große Dichter wie Hölderlin oder Büchner getrieben habe, und mahnte das Vorhandensein grundverschiedener Strömungen als unverzichtbar für ein fruchtbares kulturelles Leben an.

Wirkungsgeschichte

Die Wahl des Stoffs wurde von den Lesern als Alternative zum staatlich forcierten Literaturverständnis aufgenommen. Gerade die in einer lyrischen Sprache gehaltenen Beschreibungen menschlicher Schwächen und die daraus resultierenden existenziellen Konflikte deutete die Literaturkritik als starkes Signal gegen eine allzu rationale Fortschrittsgläubigkeit. Ebenso wurde Christa Wolfs persönliche Note in der Erzählung erkannt: Ihre begleitenden Essays, die sich gemäß Untertitel dem „Projektionsraum Romantik“ widmeten, ließen keinen Zweifel daran, dass auch selbst gemachte Erfahrungen der Entfremdung in ihre Erzählung eingeflossen waren. Damit traf sie wiederum den Nerv zahlreicher Intellektueller in der DDR, die Kein Ort. Nirgends mit Anteilnahme lasen. Die im Text vorhandene Distanz des Individuums zu seiner Umgebung wurde nicht selten mit der eigenen Lebenssituation assoziiert.

An der Möglichkeit, sich als Schriftstellerin aktiv an der Verwirklichung des Sozialismus beteiligen zu können, hat Christa Wolf nach eigenem Bekunden niemals gezweifelt. Der bereits mit früheren Werken zur Geltung gebrachte Anspruch, eine kritische Dichterin zu sein, verfestigte sich mit Kein Ort. Nirgends noch einmal. Da Christa Wolf auf Verlagshäuser in Ost und West zurückgreifen konnte und ihr Buch in beiden Staaten zeitgleich erschien, erlangte sie auch in der BRD einige Aufmerksamkeit.

Über den Autor

Christa Wolf wird am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach der Vertreibung 1945 lässt sich ihre Familie in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Wolf arbeitet zunächst als Schreibkraft und macht 1949 ihr Abitur. Im selben Jahr tritt sie der SED (Sozialistische Einheitspartei) bei. Während des Germanistikstudiums lernt sie ihren späteren Mann, den Schriftsteller Gerhard Wolf, kennen. Nach dem Studium arbeitet Christa Wolf zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Deutschen Schriftstellerverband, dann als Verlagslektorin und als Redakteurin einer Literaturzeitschrift. Ab 1962 ist sie freie Schriftstellerin. Ein Jahr darauf erscheint der Roman Der geteilte Himmel, eine Auseinandersetzung mit dem Mauerbau und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in beiden Teilen Deutschlands. Christa Wolf gilt als Vorzeigeintellektuelle der jungen DDR, doch schon bald gerät sie wegen ihres subjektiven Stils und der Behandlung kontroverser Themen in Konflikt mit dem Machtapparat. Ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T. (1968) erscheint zunächst nur in kleiner Auflage. 1976 unterstützt die Autorin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Bei aller Kritik bleibt sie der Idee des Sozialismus dennoch treu. Als sogenannte „loyale Dissidentin“ darf sie reisen, hält Vorträge im Ausland und wird zunehmend als gesamtdeutsche Schriftstellerin anerkannt. 1980 erhält sie den renommierten westdeutschen Georg-Büchner-Preis. 1983 erscheint ihre Erfolgserzählung Kassandra. Nach dem Fall der Mauer setzt Wolf sich für den „dritten Weg“ einer reformierten DDR und gegen die Wiedervereinigung ein. 1993 gibt sie zu, zwischen 1959 und 1962 als IM (inoffizielle Mitarbeiterin) für die Stasi gearbeitet zu haben, weist aber auch darauf hin, dass sie ab 1969 permanent von der Spitzelbehörde überwacht wurde. In den 90er-Jahren diffamieren westliche Kritiker die einst gefeierte Schriftstellerin als „Staatsdichterin der DDR“. Sie stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin.

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