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Klingsors letzter Sommer

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Klingsors letzter Sommer

Insel Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Summertime, and the living is uneasy – Hesses Hymne an die leidende Künstlerseele.


Literatur­klassiker

  • Metafiktion
  • Moderne

Worum es geht

Narzisst mit Goldrand

Hesses Erzählung Klingsors letzter Sommer spaltet die Gemüter. Die einen rühmen die Wiederbelebung der deutschen Romantik. Die anderen sehen in dem Text mehr oder weniger gehobenen Kitsch. Klar ist immerhin: Hesse macht es dem heutigen Leser nicht leicht, seinen Protagonisten zu mögen, diesen larmoyanten Hypochonder, eitlen Größenwahnsinnigen und chauvinistischen Prahlhans. Zumal Hesse den Narzissmus seines Helden nur unvollständig reflektiert. Er distanziert sich nicht, im Gegenteil: Er verlangt Empathie. Genau die mag sich heute jedoch kaum noch einstellen. Ein solcher Mittvierziger mit narzisstischer Störung, der den jungen, stets schlanken Damen nachsteigt und mit romantisch-genialischen Gedankenfragmenten um sich wirft, muss heute bestenfalls befremdlich, schlimmstenfalls abstoßend wirken. Betrachtet man jedoch Hesses Klingsor in seinem historischen Zusammenhang, zeigt sich das Bild eines desillusionierten Künstlers, der durch den Krieg all seine kulturellen Zusammenhänge verloren hat und ihnen hilflos nachtrauert. Das Alte ist tot, das Neue noch nicht geboren. Das einzig Gewisse ist der Tod. Und der wird gefeiert.

Take-aways

  • Die Erzählung Klingsors letzter Sommer ist der Auftakt zu Hesses Spätwerk.
  • Inhalt: Der Maler Klingsor zelebriert das Leben und die Kunst im Tessiner Sommer. Er zecht, feiert und malt, liebt, lamentiert und leidet. Er ahnt, dass der Tod nah ist, und beginnt die Arbeit an seinem letzten großen Werk: einem Selbstporträt. Als er den Kampf mit diesem Bild beendet hat, kehrt er noch einmal ins Leben zurück. Im Herbst stirbt er.
  • Hesse verfasste die Erzählung im Sommer 1919. Sie markiert einen neuen Lebensabschnitt des Autors nach der Trennung von Frau und Familie.
  • Der Text erschien zuerst 1919 in der Berliner Neuen Rundschau, ein Jahr später mit zwei weiteren Erzählungen als Buch.
  • Der Text ist über weite Strecken eine autobiografische Selbstinszenierung.
  • Die Hauptfigur trägt den Namen eines mythischen Zauberers aus der mittelhochdeutschen Literatur.
  • Zentrales Thema ist das Schwanken zwischen Sinnesrausch und Todessehnsucht der romantischen Künstler.
  • Der Untergang Klingsors steht beispielhaft für den Untergang des alten Europas im Ersten Weltkrieg.
  • Der hohe Ton der Erzählung fand Anklang, reizte aber auch zum Vorwurf des Kitsches.
  • Zitat: „Von nichts andrem leben wir als von unsern armen, schönen, herrlichen Gefühlen, und jedes, dem wir unrecht tun, ist ein Stern, den wir auslöschen.“

Zusammenfassung

Klingsor ist tot. Es lebe Klingsor.

Der berühmte Maler Klingsor verbrachte den letzten Sommer seines Lebens im Süden, in der Gegend von Pampambio. Dabei entstanden zahlreiche Bilder, die Kunstliebhaber höher schätzen als seine vorherigen Werke. Als im Herbst dieses Jahres die Nachricht von Klingsors Tod im Alter von nur 42 Jahren die Runde machte, hatten sich bereits Gerüchte über seinen zerrütteten Geisteszustand verbreitet. Richtig ist aber vielmehr, dass er mithilfe seines übermäßigen Alkoholkonsums versucht hat, seine Melancholie und seinen Weltschmerz zu betäuben. Sein Werk bleibt, sein letzter Sommer ist Legende.

„Es wird zu Ende gehen, schon ist viel Kraft vertan, viel Augenlicht verbrannt, viel Leben hingeblutet.“ (S. 10)

Klingsor steht nachts auf dem Balkon seines Arbeitszimmers und blickt in die üppige Vegetation unter sich. Er versagt sich den dringend benötigten Schlaf, weil er den Rausch des Sommers voll ausschöpfen und nichts verpassen will. Er ahnt, dass dies sein letzter Sommer sein könnte, er fühlt sich kraftlos. Doch andererseits hat er solche Phasen in seinem Leben schon häufig durchlaufen, war oft am Boden und ist doch wieder aufgestanden und hat die alte Begeisterung wiedergefunden. Er sinnt einem Abend mit der schönen Gina nach, liest ein Gedicht und gerät ins Schwärmen. Er holt sein Skizzenbuch hervor und prüft, was er an diesem Tag zu Papier gebracht hat. Zwei Skizzen lässt er gelten, der Rest war vertane Zeit. Das Phänomen Zeit an sich ist schon ein Problem: Das Nacheinander wäre besser ein Nebeneinander, wie in einer Symphonie.

„Warum gab es Zeit? Warum immer nur dies idiotische Nacheinander und kein brausendes, sättigendes Zugleich?“ (S. 15)

Als Junge beim Räuberspielen hat sich Klingsor – wie alle Jungen – vorgestellt, er verfüge über zehn Leben. Im Unterschied zu den anderen aber versuchte er immer, mit allen zehn Leben davonzukommen. Dieses Gefühl trägt der erwachsene Klingsor weiter in sich: Zehn Leben zugleich will er leben, mehr als alle anderen. Hier in seiner „noblen Ruine“, seinem Wohnsitz, ist ein solches Leben möglich. Die Fülle der Farben und Eindrücke ist jeden Tag überwältigend. Und sie will festgehalten werden. Es ist schon nach ein Uhr nachts, Klingsor fällt in einen Traum: Um ihn herum tummeln sich Frauen und Mädchen, die ihn alle lieben und sich bis aufs Blut um ihn streiten. Er erwacht und ist erschüttert. Nicht einander, sondern ihn, Klingsor sollten sie zerreißen.

Der Grausame und ein trunkener Tag

Klingsors Malerfreund Louis, genannt „der Grausame“, kommt zu Besuch. Die beiden unternehmen einen Ausflug in die nahe gelegene Stadt Laguno. Sie essen, trinken, rasten. Klingsor teilt Louis mit, dass er von all dessen Bildern eines besonders liebe: das mit einer einsamen Fahne auf dem Dach eines Karussells. Dieses Bild, Resignation und lachende Überwindung der Resignation zugleich, sei vergleichbar mit Werken des Dichters Li Tai Pe. Klingsor, der sich selbst gern den Namen Li Tai Pe leiht, lobt voller Begeisterung das Geistige und das Sinnliche, Louis reagiert mit leichtem Spott. Auch Klingsors Klagen und sein Weltschmerz überfordern Louis. Nach einem letzten gemeinsamen Abend, an dem Louis seine Sorge äußert, man werde Klingsor und ihn dereinst wie Goethe und Schiller als Denkmal aufstellen, steigt er aufs Fahrrad und verschwindet. Klingsor bleibt zurück.

„Man überschätzt das Sinnliche, wenn man das Geistige nur als einen Notersatz für fehlendes Sinnliches ansieht. Das Sinnliche ist um kein Haarmehrwert als der Geist, so wenig wie umgekehrt.“ (S. 22)

Mit seinem Dichterfreund Hermann – von Klingsor Thu Fu genannt –, einem Doktor, der schönen Ersilia und anderen Freunden unternimmt Klingsor einen Ausflug zu Fuß nach Kareno. Hermann zitiert Trinkgedichte von Li Tai Pe, man feiert die Schönheit des Sommertages, keine verlorenen Paradiese werden betrauert, sondern die gegenwärtigen gelobt. Klingsor schwelgt in den Farben, denkt an Gina und fragt sich, ob er sie liebt oder ob er schlicht ihren jugendlichen Reizen verfallen ist. Die Gruppe erreicht ein kleines Dorf, man erfrischt sich. Klingsor setzt sich ein Stückchen beiseite, gibt einem Kind Schokolade und flirtet mit der Mutter, er findet ein altes Fresko, lässt Farben und Licht des Tages auf sich wirken. Man geht weiter und erreicht schließlich das Ziel des Ausflugs: das Dorf Kareno. Hier findet Klingsor die Merkmale verschiedener Erdteile an einem Ort versammelt. Eine Frau im Fenster erregt die Aufmerksamkeit des Malers, und kurz darauf ist das Haus der Königin der Gebirge, die man in Kareno besuchen wollte, gefunden.

„(…) dieser Tag kommt niemals wieder, und wer ihn nicht ißt und trinkt und schmeckt und riecht, dem wird er in aller Ewigkeit kein zweites Mal angeboten.“ (S. 31)

Die Gesellschaft betritt das bunt schillernde Haus, die Königin erscheint und begeistert Klingsor sofort. Er weiß, er wird sie malen, doch er fühlt sich zu alt, um ihr Liebhaber zu werden. Die Freunde wandern durch die reich verzierten Räume des Hauses und essen, ruhen sich im Garten aus und genießen „ein Jahr im Paradies“. Auf dem Rückweg kehrt die Gesellschaft in ein Gasthaus ein und lässt den Tag mit einem Weingelage ausklingen. Im Rausch werden Goethe, Hafis und Mozart herbeifantasiert. Am Ende des Tages, auf den Stufen zu seiner Wohnung, ist Klingsor bester Laune – durchdrungen von Einverständnis mit der Welt, dem Leben und dem Tod.

Ein Brief und klingende Vorahnungen

Klingsor schreibt einen Brief an Edith, eine frühere Geliebte. Diese hat ihm in einem früheren Schreiben Vorwürfe gemacht. Klingsor räumt ihr gegenüber ein, dass alle Empfindungen zu ihrem Recht kommen sollten – auch die Eifersucht und der Hass. Gefühle seien das Einzige, was man gelten lassen könne. Trotz all seiner Empfindungen sei er sich nicht sicher, ob er überhaupt lieben könne. Die Klarheit, mit der Menschen über ihre Neigungen füreinander sprechen, gelte nur für gesicherte Existenzen, nicht aber für Menschen wie Edith und Klingsor. Klingsor schreibt von innerer Verwandtschaft zwischen ihm und Edith. Er liebe jedoch nicht sie allein, auch nicht Gina allein, er liebe viele und bereue keine Dummheit, die er jemals deswegen begangen habe. Edith soll den Brief ins Feuer werfen – und mit dem Brief auch seinen Verfasser.

„Man braucht so lang, bis man lernt, an einem einzigen Tag drei Erdteile zu besuchen. Hier sind sie. Willkommen, Indien! Willkommen, Afrika! Willkommen, Japan!“ (S. 38)

Am letzten Tag im Juli sitzt Klingsor am Stadtrand und malt ein Karussell auf dem Jahrmarkt. Wütend bringt er die Farben aufs Papier, sein Malen ist ein Gewaltakt. Und doch sind die Farben und Formen schwach und ausdruckslos. Die Nacht bricht an, der August steht bevor mit Vorahnungen des nahen Todes. Klingsor kämpft mit grellen Farben gegen das Vergehen an, muss aber die Vergeblichkeit seines Tuns erkennen.

„Wäre ich zehn Jahre jünger, zehn kurze Jahre, so könnte diese mich haben, mich fangen, um den Finger wickeln! Nein, du bist zu jung, du kleine rote Königin, du bist zu jung für den alten Zauberer Klingsor!“ (S. 41)

Hermann kommt mit einem armenischen Sterndeuter zu Klingsor, der sein Bild gerade vollendet hat. Der Maler lädt die Besucher ein, mit ihm auf dem Jahrmarkt Wein zu trinken und der „Musik des Untergangs“ zu lauschen. Klingsor will sich verschwenden im Angesicht des vermeintlich nahen Todes. Der Sterndeuter prophezeit ihm unruhige Zeiten, aber Schwermut hält er nicht für notwendig. Er stellt dem hadernden Maler eine einfache Kur in Aussicht: Nur eine einzige Stunde lang müsse sich Klingsor disziplinieren, dann sei die Schwermut endgültig überwunden. Klingsor glaubt nicht an die Möglichkeit seiner Rettung. Was der Sterndeuter offensichtlich an sich selbst erfahren habe, gelte nicht für ihn. Er glaube nur an den Untergang. Europa sei tot. Alles, was Wert besaß, sei in sein Gegenteil verkehrt worden: Maschinen, die den Tod bringen, Geld, das wertlos ist, Kunst als Selbstmord – das alte Europa vergehe, und Klingsor vergehe mit. Der Sterndeuter versucht Klingsor beizubringen, dass seine Wahrnehmung trügt: Anfang und Ende, Tod und Geburt, oben und unten – diese Dinge seien keine Gegensätze, sondern eins.

„Der Nachmittag ging hin wie ein Jahr im Paradies.“ (S. 44)

Die trinkende Gesellschaft geht hinüber zum Karussell. Man gibt den Kindern Geld, damit diese ein paar Runden drehen können. Besonders ein hübsches zwölfjähriges Mädchen erregt die Aufmerksamkeit der Männer. Klingsor versinkt im Lärm und in den Lichtern des Karussells und fühlt doch, dass alles nur Trug ist. Die Freunde setzen sich wieder ins Wirtshaus und trinken, feiern und singen. Klingsor fühlt Schwermut und Angst vor dem Untergang, während der Lärm der Karussellmusik zunimmt und weitere Musik sich ins Chaos mischt. Der Sterndeuter nennt Klingsor einen der größten Künstler seiner Zeit. Er redet ihm ins Gewissen, versucht seinen Lebenswillen zu schüren. Doch Klingsor glaubt, nicht gegen sein Schicksal anzukommen. Ein letztes Mal bietet ihm der Sterndeuter an, in nur einer Stunde die Schwermut zu besiegen, doch dann überlässt er Klingsor seinem Untergangswunsch. Er schenkt spöttisch Wein ein, bis Klingsor wütend die Becher wegwirft. Einen kurzen Moment sind die Freunde irritiert, dann wird weitergezecht und der Tod beschworen. Plötzlich ist Stille und ein Todeshauch zieht durch den Saal. Klingsor geht hinaus.

Letzte Liebesandeutungen

An einem Abend im August kommt Klingsor, nachdem er nachmittags gemalt hat, zu einem kleinen Wirtshaus, bestellt Wein und nimmt eine kleine Mahlzeit ein. Die alte Wirtin erzählt ihm aus ihrem Leben voll schlichter Freunden und großer Leiden. Im letzten Licht des Tages bricht er zu seiner Wohnung auf, bleibt aber unterwegs müde im Gras sitzen. Er versucht dort noch zu malen, ist aber zu erschöpft. Klingsor erinnert sich an ein wehmütiges Gedicht, das Hermann ihm jüngst geschickt hat. Er versucht sich darüber klar zu werden, wie viele von seinen zehn Leben er noch besitzt. Er ist sich sicher, dass es noch mehr als bloß eines ist, mehr als eine gewöhnliche bürgerliche Existenz. Klingsor will eine Weile schlafen, als er Schritte hört. Eine junge Frau, die er am Nachmittag bei seiner Arbeit getroffen hatte, kommt den Berg hinunter. Er flirtet mit ihr und verführt sie. Erst widerstrebend, dann aber willig gibt sie sich Klingsor hin. Als sie schließlich wieder fort ist, spürt Klingsor den Herbst nahen. Er schläft unter freiem Himmel, erwacht tief in der Nacht und geht nach Hause. Dort besieht er das Bild, das er an diesem Tag gemalt hat. Gut, aber vergeblich kommt es ihm vor.

Letzte Briefe und ein letztes Bild

Klingsor schreibt an Louis. Er klagt, wie schnell die Zeit vergehe und dass der Freund nicht bei ihm sei. Abends sitze er in den Weinstuben der Gegend und trinke den zwar schlechten, aber einschläfernden Wein. Liebeleien und Gespräche über Mode und Kunst seien ebenfalls Teil der abendlichen Vergnügungen. Klingsor beschreibt die Kunst, die er selbst und Louis betreiben, als zu sehr dem Gegenstand verhaftet. Er habe beschlossen, sobald der Sommer vorbei sei, nur noch Träume zu malen. Er habe das Gefühl, dass er jetzt erst richtig zu malen begonnen habe, das bestätige auch der Brief eines Käufers, der Klingsor eine „zweite Jugend“ in seinen Werken bescheinige. Klingsor selbst sieht sich jedoch keineswegs im Frühling. Die Entwicklung seiner Kunst sei vielmehr eine Explosion. Klingsor klagt über häufige Augenschmerzen, bemerkt aber zugleich, dass die Natur ihn zum Malen auffordere. Noch einmal wolle er die Farben des nahen Herbstes erleben, die Welt malen und sich dann nach innen wenden und nur noch Erinnertes darstellen.

„Von nichts andrem leben wir als von unsern armen, schönen, herrlichen Gefühlen, und jedes, dem wir unrecht tun, ist ein Stern, den wir auslöschen.“ (S. 53)

Klingsor schreibt Louis, dass er kaum noch esse und Probleme mit dem Magen habe. Ein Maler habe ihm einst in Paris drei Dinge geraten, wenn er ein guter Maler werden wolle: erstens gut zu essen, zweitens auf gute Verdauung zu achten, drittens immer eine Freundin zu haben. Doch jetzt sei all das nicht mehr gegeben. Nicht eine Freundin habe er, sondern stattdessen vier, fünf. Er sei erschöpft und von der rasenden Zeit verfolgt. Im Nachtrag vermacht Klingsor Louis ein Bild, das diesem am Herzen liegt.

Das Selbstporträt

Klingsor schickt Hermann ein Gedicht, in dem er sich selbst als lebensmüden Trinker inszeniert, und beginnt sein Selbstporträt. Das Bild ist für spätere Betrachter das am wenigsten gegenständliche Bild, das Klingsor je gemalt hat. Und doch erkennt man darauf die Züge des Malers. Kritiker sehen darin Zeichen von Narzissmus, Größenwahn und Selbstüberhöhung, andere wiederum sehen Bekenntnis und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst. Während Klingsor das Bild malt, ist das ausschweifende Leben unterbrochen. Er arbeitet wie besessen und verwahrlost. Er malt aus dem Gedächtnis, häuft verschiedene Gesichter übereinander, mischt Kind, Jüngling und Greis in seinen Zügen. Die Freunde Klingsors erkennen später in den verwitterten Zügen des Dargestellten den exemplarisch sterbenden Europäer, den letzten Vertreter der Gattung Mensch, der kurz vor seinem Ende noch einmal alle Stationen seiner Stammesgeschichte durchläuft. In seiner manischen Schaffensphase träumt Klingsor, dass er gefoltert wird. Auch diesen Traum bringt er zu Papier.

„Klingsor blickte nach den schwarzen Türen. Draußen stand der Tod. Er sah ihn stehen. Er roch ihn. Wie Regentropfen in Landstraßenstaub, so roch der Tod.“ (S. 69)

In einer Arbeitspause findet Klingsor ein Foto, auf dem er selbst im Alter von vier Jahren abgebildet ist, sowie Bilder von seinen Eltern. Er malt irrsinnig und klug zugleich, leidet Qualen und durchlebt Freuden. Ein französischer Maler besucht Klingsor und spricht seinen Respekt aus. Klingsor ist gefangen von seinem Werk, dankt einsilbig und geht zurück an die Arbeit. Er vollendet das Bild, schließt es weg und schläft einen ganzen Tag. Schließlich wäscht und rasiert er sich, kleidet sich neu und macht sich mit Obst und Zigaretten auf den Weg zu Gina.

Zum Text

Aufbau und Stil

Klingsors letzter Sommer ist in der dritten Person verfasst, aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers. Dieser hat kaum Distanz zu seinem Helden Klingsor, blickt in dessen Kopf, schildert dessen Gedanken, Gefühle und Eindrücke. Im Wesentlichen besteht die Erzählung aus einer Vorbemerkung und sechs szenisch aneinandergereihten Kapiteln. Außerdem sind zwei von Klingsor verfasste Briefe, einige Gedichte und Liedtexte eingebaut. Der Stil ist hymnisch und voller Pathos. Der hohe Ton äußert sich, abgesehen von einer Flut von Adjektiven, in zahlreichen Archaismen („Jünglingsschläfen“, „gesandt“, „irden“). Auch ergeht sich Hesse in antikisierenden rhetorischen Figuren wie Rhythmisierung („her mit dir, tiefblauer Berg der Ferne“), Alliteration („vertilgte das fordernde Weiß“) oder Anapher („Gab es Erlösung? Gab es Ruhe? Gab es Frieden?“), die dem Text eine biblische oder homerische Anmutung verleihen. Auch die Wortwahl ist dramatisch: Alles ist Zeugung, Sehnsucht, Wandlung, Blut, Verwesung, Untergang, Tod. Insgesamt wirkt der Text, besonders auf heutige Leser, sehr artifiziell und manieriert.

Interpretationsansätze

  • Hesse konstruiert eine Parallelität zwischen dem Existenziellen und dem Historischen. Das Ende Klingsors und das Ende des alten Europas nach dem Ersten Weltkrieg verschmelzen. Betont wird diese Parallelität durch die Figur des armenischen Sterndeuters. Dieser symbolisiert einen neuen Menschentypus, der das eurozentrische Weltbild überwunden hat, während Klingsor sein Schicksal als zum Tode verurteilter „alter“ Europäer annimmt.
  • Klingsor ist ein Musterbeispiel des Dekadenz-Künstlers: Die Einheit von Lebenslust und Lebensmüdigkeit spiegelt eine Grundhaltung der Schriftsteller der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle, wider. Damit ist der Text ein spätes Beispiel für den allgemeinen Überdruss, der sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Kultur Europas breitgemacht hatte.
  • Der Text knüpft an die deutsche Romantik an und kann somit als neoromantisch bezeichnet werden. Hesse verwendet romantische Motive und Stilmittel wie Todessehnsucht, Kunst als Ersatzreligion, Geniekult, schwelgende Sprache oder auch Versatzstücke aus Mythen und Märchen. Nicht zuletzt nennt er seinen Helden nach einem mythischen Zauberer der mittelhochdeutschen Literatur.
  • Die Figuren Klingsor und Hermann illustrieren Hesses Doppelnatur: den ekstatischen Sinnesmenschen und den stillen Melancholiker. Überhaupt wird die Erzählung wegen ihrer deutlichen autobiografischen Züge oft als eitle Selbstinszenierung des Autors verstanden.
  • Der Text hat neben der narrativen und der bildlichen noch eine metafiktionale Ebene: Mit der Interpretation von Klingsors Selbstbildnis kommentiert Hesse seinen eigenen Text und nimmt zugleich mögliche Reaktionen der Kritik vorweg.
  • Ein Schwerpunkt der Erzählung liegt auf dem Narzissmus der Hauptfigur. Der ist nur halb durchreflektiert und spiegelt zur anderen Hälfte die Selbstverliebtheit des Autors wider.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg war für ganz Europa das sichtbare und endgültige Ende des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Gewissheiten waren zerrüttet und Bündnisse zerfallen, etwa das zwischen Italien und Deutschland. Italien war zu Beginn des Krieges 1914 offiziell ein Teil des sogenannten Dreibundes, gemeinsam mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Doch trotz der formellen Zugehörigkeit zum Dreibund weigerte sich Italien, aufseiten der Verbündeten in den Krieg einzutreten. Stattdessen erklärte man sich für neutral und verhandelte hinter den Kulissen mit allen Beteiligten, um eigene Vorteile zu erreichen. Im Mai 1915 trat Italien schließlich gegen Deutschland und Österreich in den Krieg ein.

Die militärischen Aktivitäten der neutralen Schweiz beschränkten sich auf die Befestigung der Landesgrenzen. Eingeschlossen zwischen den verfeindeten Kriegsteilnehmern erforderten diese Befestigungen allerdings einen massiven finanziellen und personellen Einsatz der Bevölkerung. So mussten etwa große Teile der männlichen Bevölkerung unbezahlten Grenzdienst leisten. Zudem war die Schweiz von der Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen aus dem Ausland abgeschnitten. Die Folgen für die Bevölkerung waren Nahrungsmittelknappheit und zusätzliche Steuern für die Sicherung der Grenzen. Aufkeimende soziale Unruhen und Streiks wurden mithilfe des Militärs niedergeschlagen. Auf Basis der Haager Konventionen schloss die Schweiz bereits 1916 mit sämtlichen Kriegsparteien Verträge, die es diesen ermöglichten, ihre verwundeten Soldaten auf dem Territorium der Schweiz zu kurieren. Knapp 70 000 Mann wurden zwischen 1916 und 1918 in die Schweiz zur Erholung geschickt. Auf diese Weise erlebten auch die Schweizer die Folgen des Krieges hautnah. Auf der anderen Seite erlebte eine ganze Generation junger Männer überall aus Europa die Schweiz als einen Ort des Friedens und der Genesung.

Entstehung

Die Erzählung Klingsors letzter Sommer entstand im Juli und August 1919. Dieses Jahr war für Hesse eine Phase des Umbruchs. Seit Beginn des Ersten Weltkrieges war er – mit kurzer Unterbrechung aufgrund psychischer Probleme – in der Kriegsgefangenenfürsorge tätig gewesen. Er hatte die Versorgung deutscher Kriegsgefangener im Ausland mit deutschsprachigen Büchern betrieben und dabei einen Blick hinter die Kulissen des Krieges werfen können. 1919 wurde er aus diesem Dienst entlassen. Inzwischen war Hesses Ehe zerrüttet. Seine Frau hatte sich 1918 aufgrund psychischer Probleme nach Ascona zurückgezogen, während sich Freunde der Familie um die drei Kinder des Paares kümmerten.

Auch Hesse floh ins Tessin, nach Montagnola. Dort bezog er allein eine Wohnung in einer neobarrocken Villa und begann ein künstlerisch und privat ausschweifendes Leben. Er malte (damit hatte er bereits 1916 bei seinem Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt begonnen), schrieb und besuchte ausgiebig die Weinstuben der Gegend. Auch lernte er seine künftige Frau Ruth Wenger kennen, die ihn zu der Figur der „Königin der Gebirge“ inspirierte. Seine Eindrücke verarbeitete Hesse zu Literatur. So entstand in nur zwei Monaten die stark autobiografisch gefärbte Erzählung Klingsors letzter Sommer.

Eine literarische Inspiration des Textes ist Novalis’ romantische Erzählung Heinrich von Ofterdingen, in der die Figur Klingsor – seit Wolfram von Eschenbachs Epos Parzival bekannt – ebenfalls auftaucht. Weitere Einflüsse sind Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, Carl Gustav Jungs psychoanalytische Arbeiten, chinesische Dichtung von Li Bai aus dem achten Jahrhundert und die Bilder Vincent van Goghs. Klingsors letzter Sommer erschien erstmals im Dezember 1919 in der Berliner Neuen Rundschau. Als Buch wurde die Erzählung 1920 gemeinsam mit zwei weiteren Texten veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Klingsors letzter Sommer steht im Schatten anderer Werke Hesses. Der kurz vor dieser Erzählung erschienene Roman Demian und der anschließend entstandene Roman Siddharta sind in der Rezeption bis heute weitaus präsenter. Doch es gab prominente Fürsprecher für Klingsors letzter Sommer: Hesses Zeitgenosse Stefan Zweig bezeichnete den Text als „ein Werk, das ich mit bewusster Wertung zu den bedeutendsten der neuen Prosa zähle.“ Bertolt Brecht befand schlicht: „Diese Novelle ist sehr schön.“ Davon abgesehen hatte Hesse in der Folge aber auch laute Kritiker wie etwa Karlheinz Deschner, der Hesses Bücher 1957 in seiner Schrift Kitsch, Konvention und Kunst als „noch nicht einmal zweitrangig“ bezeichnete. Bei Hesses Wiederentdeckung über den Umweg der USA in den 1960er-Jahren standen wieder andere Titel im Zentrum. So wurde die erste amerikanische Ausgabe von Klingsors letzter Sommer erst 1970 veröffentlicht. Heute gilt die Erzählung zusammen mit Demian unter Germanisten als Auftakt zu Hesses Spätwerk.

Über den Autor

Hermann Hesse wird am 2. Juli 1877 im Schwarzwaldstädtchen Calw als Sohn des Missionars Johannes Hesse und der ebenfalls missionarisch tätigen Marie Gundert geboren. 1881 zieht die Familie nach Basel, wo der Vater die Schweizer Staatsangehörigkeit annimmt. Nach der Rückkehr nach Calw im Jahr 1883 besucht Hesse die Lateinschule in Göppingen. 1891 tritt er in das evangelische Klosterseminar in Maulbronn ein. Ein Jahr später flüchtet er jedoch von dort, um Dichter zu werden. Nach einem Selbstmordversuch besteht er 1893 das Einjährig-Freiwilligen-Examen (mittlere Reife) am Gymnasium in Cannstatt. Im gleichen Jahr beginnt er eine Buchhändlerlehre, die er jedoch nach nur drei Tagen hinwirft. Nach einer Ausbildung zum Mechaniker fühlt er sich wieder bereit für Geistiges und beendet die zweite begonnene Buchhändlerlehre erfolgreich. Nach den Gedichtsammlungen Das deutsche Dichterheim und Romantische Lieder bringt der Roman Peter Camenzind (1904) Hesse den Durchbruch als Autor. In diesem Werk und im zwei Jahre später fertiggestellten Unterm Rad (1906) verarbeitet er seine schlechten Erfahrungen aus der Schulzeit. 1911 unternimmt er die einzige große Reise seines Lebens, die ihn nach Ceylon und Sumatra führt. Die dort empfangenen Eindrücke werden für sein weiteres Werk sehr wichtig. 1916 erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Der Grund ist der Tod seines Vaters und die voranschreitende Schizophrenie seiner Frau Maria Bernoulli. Hesse begibt sich in die psychotherapeutische Behandlung eines Schülers von C. G. Jung. Die Beschäftigung mit der Jung’schen Archetypenlehre findet ihren literarischen Niederschlag in der 1919 veröffentlichten Erzählung Demian und im Roman Narziß und Goldmund (1929/30). Hesses Bücher bekommen einen fernöstlich beeinflussten, meditativen Charakter, besonders Siddhartha (1922). 1927, zwischen seiner zweiten und seiner dritten Heirat, erscheint der Roman Der Steppenwolf. Während der NS-Herrschaft werden viele Bücher Hermann Hesses in Deutschland verboten. In dieser Zeit schreibt er sehr lange (1930 bis 1943) an seinem großen Spätwerk Das Glasperlenspiel. 1946 erhält Hesse den Nobelpreis für Literatur, 1955 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Am 9. August 1962 stirbt Hermann Hesse in Montagnola in seiner Wahlheimat, der Schweiz.

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