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Soziale Systeme

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Soziale Systeme

Grundriss einer allgemeinen Theorie

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Hochabstrakt und hochprovokant – Niklas Luhmanns Systemtheorie stellte in den 80er-Jahren die Wissenschaft auf den Kopf.


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Die Welt aus einem neuen Blickwinkel

Sinn ist überall in der Welt. Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation. Deren Ziel ist die Fortsetzung der Kommunikation, nicht der Konsens. Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme ist nicht nur abstrakt, sondern wirkt auf den ersten Blick auch recht exotisch. Seine Thesen waren eine Provokation für die traditionelle Soziologie – und Anstoß zu weiteren Forschungen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Soziale Systeme, die Grundlage von Luhmanns Systemtheorie, ist eine Herausforderung für mutige Leser, die sich von hochtheoretischen Texten nicht abschrecken lassen. Wer das Buch nicht nach den ersten Abschnitten gleich wieder zur Seite legen möchte, muss einiges auf sich nehmen: Luhmann verwendet alltägliche Begriffe ganz selbstverständlich in neuer Bedeutung und gibt sich wenig Mühe, seine Theorie sprachlich klar und übersichtlich darzustellen. Dafür aber bietet er dem Leser eine völlig neue und ungewohnte Perspektive auf scheinbar Bekanntes. Dieses Buch ist kein Lesevergnügen, aber ein aufregender Blick über den Tellerrand altgewohnter Denkmuster.

Take-aways

  • Niklas Luhmann gilt als einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts.
  • Soziale Systeme ist eines seiner Hauptwerke und die theoretische Grundlage für seine folgenden Veröffentlichungen.
  • Luhmann befasst sich hier auf abstrakter Ebene mit den Eigenschaften sozialer Systeme.
  • Als soziale Systeme gelten alle zwischenmenschlichen Kontakte, einschließlich der Gesellschaft als Ganzes.
  • Diese Systeme steuern und erhalten sich selbst, was man Autopoiesis nennt.
  • Soziale Systeme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation.
  • Kommunikation kommt dann zustande, wenn der Empfänger die Aktivität des Senders auch als Kommunikation versteht.
  • Kommunikation ist nicht dann geglückt, wenn sie zu einer Übereinstimmung führt, sondern wenn sie fortgesetzt wird.
  • Widersprüche und Konflikte sind nichts Schlechtes, was beseitigt werden müsste. Sie haben eine Funktion im System.
  • Soziologie soll nicht gesellschaftskritisch sein, sondern hat nur die Aufgabe, die Gesellschaft zu beschreiben.
  • Damit steht Luhmanns Theorie im deutlichen Gegensatz zu den gesellschaftskritischen Tendenzen der Nachkriegszeit, weshalb sie vielfach abgelehnt wurde.
  • Luhmann hat mit seiner Systemtheorie nicht nur die Soziologie, sondern auch viele andere Wissenschaften entscheidend beeinflusst.

Zusammenfassung

Die Eigenschaften sozialer Systeme

Es gibt unterschiedliche Arten von Systemen: Maschinen, Organismen, soziale Systeme und psychische Systeme. Die folgende Theorie konzentriert sich vor allem auf die Eigenschaften sozialer Systeme. Sie hat den Anspruch, universell zu sein. Das bedeutet, dass sie alle sozialen Kontakte – auch die Gesellschaft als Ganzes – einschließt. Soziale Systeme haben folgende Eigenschaften:

  • Bestimmend für das System ist die Differenz zwischen System und Umwelt, d. h. die Unterscheidung dessen, was zum System gehört und was nicht.
  • Systeme können sich ausdifferenzieren. Dann bilden sich innerhalb eines Systems weitere Systeme. Das Gesamtsystem wird für die Teilsysteme zur Umwelt.
  • Systeme produzieren und müssen dazu auf Selektion zurückgreifen: Aus allen Möglichkeiten werden einige ausgewählt, um die erwünschten Wirkungen zu erzielen.
  • Neben der Differenz zwischen System und Umwelt gibt es im System die Differenz zwischen Element und Relation. Auch sie ist für das Bestehen eines Systems unerlässlich. Die Elemente eines Systems sind notwendigerweise durch Relationen miteinander verknüpft, und eine Relation kann nur zwischen Elementen bestehen. Was als Element gilt, bestimmt das System selbst. Für das System ist ein Element die kleinste Einheit. Allerdings können die Elemente an sich durchaus noch weiter teilbar sein – nur wäre das für ihre Funktion im System belanglos.
  • Die Beziehungen zwischen Elementen sind der Konditionierung unterworfen – Bedingungen, die festlegen, wann welche Beziehungen realisiert werden.
  • Ab einer bestimmten Anzahl können nicht mehr alle Elemente eines Systems jederzeit miteinander verknüpft sein. Dieses gilt dann als komplex. Die Folge dieser
„Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel.“ (S. 30)

Komplexität: Es muss eine Wahl darüber getroffen werden, welche Relationen bestehen sollen und welche nicht. Die Möglichkeit der Auswahl bezeichnet man als Kontingenz. Sie impliziert, dass man auch eine andere Wahl hätte treffen können.

  • Das System ist durch eine Grenze von seiner Umwelt getrennt. Die Grenze ist durchlässig, Beziehungen zwischen dem System und seiner Umwelt sind möglich.
  • Komplexe Systeme müssen sich ihrer Umwelt anpassen und zugleich interne Probleme regeln können. Dazu ist Selektion notwendig. Die Selektion wird nicht von einem handelnden Subjekt gesteuert, sondern von der Differenz zwischen System und Umwelt. Sie ist also eine Anpassungsleistung des Systems.
  • Systeme sind selbstreferenziell, d. h. sie haben die Fähigkeit, sich auf sich selbst zu beziehen. Sie erschaffen die Elemente, aus denen sie bestehen, immer wieder selbst. Dieser Vorgang wird auch als Autopoiesis (griech. Selbsterschaffung) bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Anschlussfähigkeit wichtig: Systeme müssen in der Lage sein, ihre Elemente immer wieder herzustellen, ihre Operationen also zu wiederholen, sonst hören sie auf zu existieren. So sind Systeme zugleich geschlossen und offen: geschlossen, weil sie sich selbst reproduzieren, und offen, weil sie immer den Kontakt zu ihrer Umwelt halten müssen.
  • Selbstreferenz ist möglich durch die multiple Konstitution der Systeme: Ein Element wird von mehreren Komplexen mit unterschiedlichen Perspektiven gebildet. In der Kommunikation sind das z. B. die Kommunikationspartner. Diese Komplexe gehören selbst nicht dem System an, sondern seiner Umwelt.
  • Die Elemente eines Systems müssen einander ähnlich sein. Aus chemischen Elementen und Menschen z. B. lässt sich kein System bilden.
  • Selbstreferenzielle Systeme können Informationen verarbeiten und Erfahrungen speichern. Sie können besser reagieren und sind weniger abhängig von ihrer Umwelt.

Die Differenz zwischen System und Umwelt

Das System definiert sich aus der Differenz zwischen System und Umwelt. Was als Umwelt gilt, d. h. was nicht zum System gehört, bestimmt das System selbst. In seiner Umwelt sind andere Systeme enthalten, mit denen es Beziehungen aufnehmen kann. Alles in der Welt gehört zu mindestens einem System und damit auch zur Umwelt anderer Systeme. Wenn sich in einem System etwas ändert, dann verändert sich zugleich etwas in der Umwelt anderer Systeme. Mithilfe der Differenz zwischen System und Umwelt steuert das System seine Operationen, d. h. seine Aktivität.

Interpenetration psychischer und sozialer Systeme

In den vergangenen Jahrhunderten hat man den Menschen ganz selbstverständlich als Teil der Gesellschaft angesehen. Sinnvoller ist es jedoch, ihn der Umwelt der Gesellschaft zuzurechnen. Das Verhältnis zwischen sozialen und psychischen Systemen – d. h. dem Bewusstsein der Menschen – lässt sich am besten mit dem Begriff der Interpenetration beschreiben. Mit Penetration ist gemeint, dass die Komplexität eines autopoietischen Systems zum Aufbau eines anderen Systems beiträgt. Interpenetration liegt dann vor, wenn Systeme einander auf diese Weise brauchen, um zu bestehen. Das ist bei psychischen und sozialen Systemen der Fall: Die Systeme sind zwar eindeutig voneinander getrennt, aber sie durchdringen sich auch gegenseitig. Grob gesagt: Menschen können nicht ohne soziale Systeme bestehen und soziale Systeme nicht ohne Menschen. Psychische Systeme – und damit Menschen – sind also Teil der Umwelt sozialer Systeme. Soziale Systeme operieren bzw. reproduzieren sich durch Kommunikation, psychische durch Bewusstsein.

Soziale Systeme und Kommunikation

Kommunikation ist das grundlegende Element sozialer Systeme. Alle sozialen Systeme einschließlich der Gesellschaft als Ganzes bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation, die sich immer weiter selbst reproduziert. Kommunikationstheorien verwenden üblicherweise das Bild einer Übertragung: Der Sender gibt eine Information an den Empfänger weiter. Diese Vorstellung ist aber nicht zutreffend. Erstens findet keine Übertragung in dem Sinn statt, dass dem Sender die Information, die er weitergibt, anschließend fehlen würde. Zweitens kann man nicht davon ausgehen, dass die Information genau so beim Empfänger ankommt, wie sie vom Sender gemeint war. Ein dreistufiger Kommunikationsvorgang kommt der Realität näher: Kommunikation ist eine dreifache Selektion der beiden Kommunikationspartner, die hier nicht Sender und Empfänger genannt werden, sondern Alter („der andere“) und Ego („ich“): Zunächst wählt Alter aus, was ihm als Information erscheint. Als Zweites muss er entscheiden, was er Ego davon mitteilt und auf welche Weise er es tut. Die dritte Selektion liegt dann bei Ego: Er muss Alters Handlung als Kommunikation interpretieren. Nur wenn dies der Fall ist, findet tatsächlich Kommunikation statt. Dabei ist sich Ego bewusst, dass Alter seine Mitteilung unter möglichen anderen ausgewählt hat, dass er also auch etwas anderes hätte kommunizieren können. Ego schließt dann noch eine vierte Selektion an, die nicht mehr zum eigentlichen Kommunikationsvorgang gehört: Er kann die Aussage von Alter akzeptieren oder ablehnen.

Doppelte Kontingenz und die Entstehung sozialer Systeme

Etwas ist kontingent, wenn es nicht notwendig, zugleich aber auch nicht unmöglich ist, d. h. wenn es als eine Möglichkeit unter anderen ausgewählt werden kann. Kontingent sind z. B. Handlungen von Subjekten – man kann so oder ganz anders handeln. Treffen nun Ego und Alter aufeinander, so entsteht doppelte Kontingenz: Jeder möchte sein Verhalten nach dem des anderen ausrichten, aber keiner kann genau sagen, wie der andere handeln wird. Ego und Alter können einander nie vollständig durchschauen. Sie wissen aber beide, dass der andere in seinem Verhalten Wahlmöglichkeiten hat. Das erzeugt Unsicherheit. Gleichzeitig möchten beide ihr Gegenüber jeweils in ihrem Sinn beeinflussen. Also orientieren Ego und Alter sich daran, was der andere tut, und versuchen dadurch, dessen Verhalten zu steuern. So entsteht ein soziales System, für das doppelte Kontingenz Voraussetzung ist. Als Handlungspartner in sozialen Systemen können psychische oder soziale Systeme auftreten.

Sinn in Systemen

Sinn ist für psychische und soziale Systeme die Basis ihres Handelns. Er besteht in der Differenz zwischen Aktualität und Möglichkeit, d. h., dass es neben dem, was ist, noch andere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns gibt. Da dies immer der Fall ist, ist auch Sinn immer und überall in der Welt vorhanden. Aber nicht alles, was möglich ist, kann auch verwirklicht werden. Deshalb zwingt Sinn immer zur Selektion. Sinn ist auch nichts Stabiles – weil permanent Möglichkeiten realisiert werden, muss er sich andauernd ändern. Er steuert die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen im System. Diese sind Ereignisse, die auf das System einwirken und dadurch seinen Zustand verändern. Wie alle Ereignisse sind sie einmalig: Eine Information, die bereits bekannt ist, besitzt als solche keinen Wert mehr und löst im System keine Änderungen mehr aus. Was als Information gilt, bestimmt das System, auch wenn es aus dessen Sicht so wirkt, als komme die Information aus der Umwelt. Sinn besitzt drei Dimensionen: Die Sachdimension entscheidet, um welche Themen es geht. Die Zeitdimension bezieht sich auf das Verhältnis von vorher und nachher, die Sozialdimension unterscheidet zwischen eigener und fremder Perspektive.

Möglichkeiten von Strukturänderungen

Soziale Systeme kennen nur zwei Möglichkeiten der Entwicklung: Sie laufen immer weiter, oder sie hören auf zu existieren. Die Selbsterhaltung muss allerdings nicht immer derselben Struktur folgen; sie kann auch vom bisherigen Muster abweichen, also eine Strukturänderung auslösen. Letztlich ist es also nur das System selbst, das eine Strukturänderung initiiert. Die Umwelt kann mit einwirken, die endgültige Entscheidung aber liegt beim System. So ist eine Ursache für Strukturänderung die Anpassung an Veränderungen in der Umwelt. Eine andere ist die Selbstanpassung, mit der das System auf Veränderungen in seinem Innern reagiert. Dazu kommt noch die so genannte Morphogenese: Eine Veränderung wird dadurch ausgelöst, dass Möglichkeiten, die normalerweise nicht vorhanden sind, kurzfristig zur Verfügung stehen.

„Wir werden vor allem den nichtpsychischen Charakter sozialer Systeme zu betonen haben.“ (S. 32)

Die Struktur eines Systems legt fest, welche Relationen zwischen den Elementen erlaubt sind. Sie begrenzt also die Anzahl der möglichen Relationen. Nur dadurch wird Autopoiesis überhaupt möglich. Auch Erwartungen sind für Autopoiesis notwendig – nur solange noch etwas erwartet wird, läuft das System weiter. Erwartungen wirken also in sozialen Systemen strukturbildend. Dies ist aber nur möglich, wenn sie reflexiv sind. Das heißt konkret: Man muss eine Vorstellung davon haben, was der andere von einem erwartet. Nur so kann man sein Verhalten entsprechend ausrichten, und nur so entsteht in sozialen Systemen Struktur. Doch je komplexer ein soziales System ist, umso unsicherer werden Erwartungen, weil es umso mehr Möglichkeiten gibt. Die Gefahr, in seinen Erwartungen enttäuscht zu werden, will man möglichst klein halten. Dafür lässt sich z. B. der Aberglaube instrumentalisieren. Auch das Rechtssystem hat die Funktion, vor enttäuschten Erwartungen zu schützen.

Widersprüche und Konflikte

Widerspruch in der Kommunikation kann eine Ablehnung davon sein, was der Kommunikationspartner vorgebracht hat, oder er kann in der eigenen Kommunikation liegen, z. B. in der Ironie, bei der der Inhalt des Gesagten durch seine Form widerrufen wird. Auch in der Kommunikation von Absichten entsteht immer Widerspruch: Da Kommunikation auf Selektion beruht, d. h. auf einer Vorauswahl von Alter, und da Ego dies weiß, hat Ego immer Grund zum Zweifel. Deshalb kann etwa Aufrichtigkeit nicht kommuniziert werden – je mehr jemand beteuert, dass er etwas ganz ernst meint, umso unglaubwürdiger wird er. Widersprüche greifen die Stabilität eines Systems an. Das ist jedoch kein Nachteil; in jedem System müssen Widersprüche vorhanden sein, damit es dauernd flexibel reagieren kann. Auch diese Instabilitäten werden immer neu geschaffen. Durch Widersprüche bildet sich in einem sozialen System, wie im Körper, ein Immunsystem aus, das auf Abweichungen reagiert und entscheidet, inwieweit sie akzeptabel sind. In der Gesellschaft übernimmt das Rechtssystem diese Funktion. Aus der Kommunikation von Widerspruch entsteht ein Konflikt. Ihn als Folge misslungener Kommunikation anzusehen, ist nicht zutreffend. Ganz im Gegenteil – gerade in Konfliktsituationen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Kommunikation noch eine Weile weiterläuft, also gelingt. Ein Konflikt stützt sich auf Kommunikation und doppelte Kontingenz, ist also nichts weiter als ein soziales System, nur eben eines, das meist rasch entsteht und ebenso rasch wieder zerfällt. Konflikte sind ein Anzeichen für Probleme. Sie sorgen dafür, dass das Immunsystem der Gesellschaft erhalten bleibt. Demnach liegt es im Interesse der Gesellschaft, Konflikte nicht zu vermeiden, sondern sie auf geregelte Weise zu ermöglichen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Wer sich an die Lektüre von Soziale Systeme wagt, wird rasch feststellen: Die Theorie allgemein verständlich darzustellen, ist nicht Luhmanns erklärtes Ziel – und wenn doch, so hat er es verfehlt. Das zeigt sich schon an der Struktur des Buches. Die Theorie ist nicht linear aufgebaut, und um ein Kapitel verstehen zu können, müsste man eigentlich die anderen bereits kennen. Dass die insgesamt zwölf Kapitel nur mit Schlagworten, die Unterkapitel sogar lediglich mit römischen Ziffern überschrieben sind, erleichtert die Orientierung auch nicht. Dazu kommt die Terminologie: Luhmann belegt Alltagsbegriffe – wie Sinn oder Kommunikation – mit neuen Bedeutungen; wer seine Thesen nachvollziehen möchte, muss sich erst einmal darauf einlassen, Vokabeln zu pauken („Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte.“). Die Theorie selbst wird auf einer sehr abstrakten Ebene dargestellt, konkrete Beispiele, die das Verständnis erleichtern würden, sind rar. Luhmanns Sprache ist recht weitschweifig und mit Fremdwörtern durchsetzt; zudem verwendet er zahlreiche Zitate in diversen Fremdsprachen. Die komplexe Struktur des Werks zeigt sich auch in den rund 1000 Fußnoten, in denen der Autor nicht nur Quellen nennt und Nebengedanken ausführt, sondern auch immer wieder auf andere Kapitel des Buches vor- und zurückverweist.

Interpretationsansätze

  • Niklas Luhmann hält seine Systemtheorie bewusst sehr allgemein. Sie ist deshalb äußerst abstrakt. Es geht ihm nicht um die Beschreibung konkreter Systeme, sondern darum, wie Systeme generell aufgebaut sind und wie sie ihre Aktivitäten steuern.
  • Indem Luhmann für seine Terminologie Alltagsbegriffe mit neuen Bedeutungen belegt, kann er scheinbar Selbstverständliches aus einer ganz neuen Perspektive zeigen.
  • Dabei blendet er den Menschen weitgehend aus. Der Begriff „Mensch“ kommt in seiner Terminologie nicht vor, und selbst dem Bewusstsein, dem „psychischen System“, weist er in sozialen Systemen nur eine untergeordnete Rolle zu.
  • Die Theorie hat nicht den Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, geschweige denn sie zu verbessern; sie konzentriert sich auf die Beschreibung von Phänomenen, statt zu bewerten.
  • Daher werden Erscheinungen wie Konflikte oder Missverständnisse, die man üblicherweise negativ bewertet, bei Luhmann wertneutral gesehen und akzeptiert: Auch sie haben ihre Funktion im System.
  • Neben anderen Wissenschaften hat sich auch die Betriebswirtschaft eifrig der Systemtheorie bedient. Unternehmen werden seither als komplexe Systeme gesehen, die mit verschiedenen Umwelten (Absatzmarkt, Beschaffungsmarkt etc.) im Austausch stehen. Ein Beispiel dafür ist das St. Galler Managementmodell. Wie viel Erkenntnisgewinn durch die Systemsicht der Dinge erzielt werden kann, ist allerdings fraglich.
  • Luhmanns Theorie ist schlüssig, wenn man sich auf seine Perspektive einlässt und die Terminologie akzeptiert. Ob man aber etwas als sinnvoll bewertet oder ob Kommunikation gelingt, hängt allerdings davon ab, wie man Sinn oder gelingende Kommunikation definiert – und hier ist Luhmanns Theorie von der Alltagswirklichkeit oft recht weit entfernt und bietet keine Orientierung.

Historischer Hintergrund

Auseinandersetzung der Ideologien

Die 70er und die beginnenden 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts waren für die Bundesrepublik Deutschland eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Schon die Studentenunruhen von 1968 hatten die Gesellschaft infrage gestellt; in ihrem Fahrwasser kamen innere und äußere Bedrohungen hinzu: Ölkrise, wirtschaftliche Stagnation, steigende Arbeitslosigkeit, Terrorismus, weltweite Aufrüstung, fortschreitende Umweltzerstörung. Die Folge war eine zunehmende Unzufriedenheit mit den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen. Viele Menschen engagierten sich politisch, gründeten Bürgerinitiativen und organisierten Demonstrationen, um gegen atomare Aufrüstung oder den Bau von Atomkraftwerken zu protestieren. Dahinter stand der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, und die Überzeugung, durch den Dialog eine bessere Welt schaffen zu können. Dabei spielte auch die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine wichtige Rolle. Gerade Akademiker und Wissenschaftler waren in den 70er Jahren oft eher marxistisch geprägt. Ihre Gesellschaftskritik war – und ist bis heute – häufig auch eine Kritik an der Marktwirtschaft, die als zu materialistisch und menschenfeindlich empfunden wurde. Besonders die Soziologie war lange Zeit mit marxistisch angehauchter Gesellschaftskritik durchtränkt. Die Frankfurter Schule mit ihrem Anspruch auf Menschen- und Weltverbesserung dominierte. Auch die Frage der Abrüstung und des politischen Umgangs mit den kommunistischen Staaten wurde von dieser gesellschaftskritischen Grundhaltung geprägt. Mit seiner betont wertfreien Gesellschaftstheorie, die nicht den Anspruch erhob, die Gesellschaft verbessern zu wollen, galt Niklas Luhmann im diesem politisch aufgeheizten Klima als konservativ bis reaktionär.

Entstehung

Die Grundlage aller Werke Luhmanns ist sein Zettelkasten, den er bereits im Alter von 25 Jahren anzulegen begann. Über Jahrzehnte hinweg sammelte er eigene Ideen und Anregungen aus Büchern auf Zetteln. Ein kompliziertes Nummerierungssystem half ihm, die Gedanken beliebig miteinander zu verknüpfen. Ein Arbeitsprinzip, das man seiner Theorie übrigens deutlich anmerkt – auch darin sind die Gedankengänge nicht linear aufgebaut, sondern vielfach aufeinander bezogen.

Vorläufer von Luhmanns Theorie waren die systemtheoretischen Arbeiten von Ludwig von Bertalanffy und Talcott Parsons, bei dem Luhmann in Harvard studierte. Von diesen Forschungen ausgehend, entwickelte er eine neue und eigenständige Theorie. Darin griff er auch Erkenntnisse anderer Wissenschaften auf, wie der Evolutionstheorie, der Biologie oder der Kybernetik. Der Begriff der Autopoiesis stammt ursprünglich aus der Systembiologie. Eine Theorie der Gesellschaft auszuarbeiten, war das Lebenswerk Niklas Luhmanns. Erste Ansätze dieser Theorie finden sich bereits in Veröffentlichungen der späten 60er Jahre. Aber erst in Soziale Systeme, das 1984 erschien, legte Luhmann seine Theorie vollständig dar. Sie wurde die Basis für alle seine Arbeiten der folgenden Jahrzehnte.

Wirkungsgeschichte

Kein Soziologe vor Luhmann hatte es gewagt, eine so umfassende Theorie auszuarbeiten, die den Anspruch hat, alle Bereiche der Gesellschaft abzudecken. Entsprechend hoch ist der Stellenwert seiner Arbeit. Der Einfluss von Luhmanns Systemtheorie auf die Wissenschaft ist kaum zu überschätzen. Seine Theorie war so neu und anders, dass sie Forschungen in den verschiedensten Disziplinen anregte. Sie ist nicht nur für die Soziologie von Belang, sondern ebenso für die Kommunikations-, Wirtschafts-, Rechts- und Literaturwissenschaft, für Politologie, Psychologie, Theologie und Geschichte.

Luhmanns Theorie löste zahlreiche Diskussionen aus und war nach ihrer Veröffentlichung zunächst Zielscheibe heftiger Kritik. Weil der Mensch in der Systemtheorie, im Unterschied zu anderen Gesellschaftstheorien, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, wurde Luhmanns Werk häufig als unmenschlich kritisiert. Vor allem die Soziologen der neomarxistisch ausgerichteten Frankfurter Schule lehnten die Systemtheorie ab. Ihrer Ansicht nach war es die Aufgabe der Soziologie, gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen und auf Verbesserungen hinzuwirken. Von diesem Standpunkt aus war es auch selbstverständlich, dass das Ziel der Kommunikation nur Verständigung sein kann und Kommunikation also nur dann gelingt, wenn sie zur Verständigung und Übereinstimmung beiträgt. Der führende Vertreter der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, war bis zu Luhmanns Tod dessen schärfster Kritiker. Habermas warf Luhmann vor, seine Systemtheorie behandle gesellschaftliche Fragen lediglich „affirmativ“, sprich: bestätigend und unkritisch. Luhmann antwortete seinem Kontrahenten, die Diskurstheorie Habermas’scher Prägung lege die Verwirklichbarkeit von Utopien nahe und habe nicht mehr zu bieten, als auf die Einkehr der Vernunft zu warten. Heute gilt die Systemtheorie als eine der populärsten und erfolgreichsten „Supertheorien“; besonders die Psychotherapie und die Managementlehre haben sich (aus akutem Mangel an eigenen brauchbaren Theorien) großzügig aus ihrem Fundus bedient.

Über den Autor

Niklas Luhmann ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Geboren wird er am 8. Dezember 1927 in Lüneburg. Mit 17 Jahren nimmt er als Luftwaffenhelfer am Zweiten Weltkrieg teil und gerät anschließend kurz in amerikanische Gefangenschaft. 1946 beginnt er ein Jurastudium in Freiburg und ist nach dem Referendariat zunächst von 1954 bis 1962 als Verwaltungsjurist tätig. Hier lernt er eine Arbeitsmethode kennen, die sein ganzes Werk prägen wird: der Ablage von Informationen in Zettelkästen. So legt sich Luhmann mit 25 Jahren auch privat einen Zettelkasten an, um eigene Gedanken und wichtige Ideen anderer Autoren zu sammeln. 1960–1961 erhält er ein Stipendium für ein Studium der Soziologie in Harvard, kommt also erst mit über 30 Jahren mit der Wissenschaft in Berührung, die er später wesentlich beeinflussen wird. Ab 1962 ist er Referent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, drei Jahre später wechselt er zur Sozialforschungsstelle Dortmund. Erst 1966 promoviert er in Soziologie an der Universität Münster, die Habilitation folgt nur wenige Monate später. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1993 ist Luhmann Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er veröffentlicht zahlreiche Werke, in denen er seine Systemtheorie entwickelt. Als Soziale Systeme erscheint, das erste Hauptwerk und die Grundlage seiner Theorie, ist Luhmann bereits 57 Jahre alt. Die in den folgenden Jahren verfassten Bücher – unter ihnen Titel wie Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993) oder Die Realität der Massenmedien (1996) – beziehen diese Theorie auf einzelne Gesellschaftsbereiche. Mit Die Gesellschaft der Gesellschaft erscheint 1997 ein weiteres Hauptwerk Luhmanns. Als 70-Jähriger plant er noch 20 weitere Bücher. Dazu kommt es aber nicht mehr – am 6. November 1998 stirbt Niklas Luhmann in Oerlinghausen bei Bielefeld.

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