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Theätet

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Theätet

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Woher wusste eigentlich Sokrates, dass er wusste, dass er nichts wusste?


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Griechische Antike

Worum es geht

Skepsis als Grundhaltung

Was ist Wissen? Wie gelangen wir zu verlässlicher Erkenntnis? Diese Fragen stehen im Zentrum von Platons fiktivem Dialog Theätet zwischen Sokrates, dem Mathematiker Theodoros und dessen Schüler Theaitetos. Das dichte und hochabstrakte Gespräch endet in der Aporie, also ohne Resultat, doch das ist zweitrangig. Platon – oder vielmehr sein Sokrates – präsentiert uns keine fertigen Antworten. Ihm geht es vielmehr darum, zu zeigen, durch welche Argumentationsstrategien und Fragetechniken man sich dem komplexen Thema Wahrheit am besten nähert. Sokrates vergleicht seine Aufgabe mit der einer Hebamme: Durch gezielte Fragen unterstützt er seine Gesprächspartner dabei, eigene Thesen hervorzubringen, und prüft diese anschließend auf ihre Konsistenz. Ausführlich setzt er sich etwa mit der relativistischen Position auseinander, wonach für jeden das wahr ist, was ihm wahr erscheint, und widerlegt sie schließlich. Über Wissen und Wahrheit nachzudenken lohnt sich – gerade in Zeiten, in denen manche Politiker unbekümmert um die Fakten allein die Meinungen und Vorurteile der Menschen bewirtschaften.

Take-aways

  • Platons Theätet zählt zu den wichtigsten Texten der Erkenntnistheorie.
  • Inhalt: Sokrates, der Mathematiker Theodoros und dessen Schüler Theaitetos unterhalten sich über die Frage, was Wissen sei. Insgesamt stehen drei Definitionen zur Debatte: Wissen ist Wahrnehmung, wahre Meinung oder wahre Meinung samt einer Erklärung. Am Ende erkennen die Diskutanten jedoch, dass keine dieser Antworten überzeugend ist.
  • Sokrates agiert als philosophische Hebamme: Er hilft den Gesprächspartnern durch Fragen, ihre Thesen zu formulieren, und prüft diese anschließend auf ihre Haltbarkeit.
  • Vermutlich schrieb Platon den fiktiven Dialog mit realen historischen Figuren nach 369 v. Chr., also 30 Jahre nach Sokrates’ Tod.
  • Die für Platon sonst so wichtige Ideenlehre findet im Theätet keine Erwähnung. Einige Forscher interpretierten das als Abkehr des späten Platon von seiner Ideentheorie.
  • Platon vertritt im Dialog nicht seine eigene Auffassung von Wissen, sondern zeigt nur auf, wie man sich der Frage nähern sollte.
  • Die letzte Definition von Wissen als wahre begründete Meinung kommt dem modernen Wissensbegriff recht nahe.
  • Theätet ist ein abstrakter, hochkomplexer Text, enthält aber viele Vergleiche und Beispiele aus dem Alltag.
  • Im 20. Jahrhundert beeinflusste das Werk Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein.
  • Zitat: „Und es scheint dir dennoch nicht unverschämt, dass wir, die wir nicht wissen, was Wissen ist, dennoch zeigen wollen, wie das Wissen beschaffen ist?“

Zusammenfassung

Sokrates, der Geburtshelfer

Sokrates lernt Theaitetos über seinen Freund Theodoros kennen, der in den höchsten Tönen von seinem begabten Schüler schwärmt. Sokrates beginnt mit dem Jungen ein Gespräch über die Frage, was Wissen sei. Wissen ist, was man lernen kann, meint Theaitetos, beispielsweise ein Handwerk wie die Schuhmacherei oder die Tischlerei. Sokrates überzeugt das nicht: Zunächst müsse ja geklärt werden, was Wissen im Allgemeinen ist, sonst helfe der Verweis auf spezielle Arten von Wissen nicht weiter. Auf die Frage, was Lehm sei, würde man ja auch nicht verschiedene Arten von Lehm nach ihrem jeweiligen Verwendungszweck aufzählen, sondern sagen, Lehm sei mit Feuchtigkeit gemischte Erde. Aufgefordert, die verschiedenen Arten des Wissens durch eine einzige Erklärung zu definieren, gesteht Theaitetos, darüber denke er schon länger nach, bislang allerdings ohne Ergebnis. Sokrates, dessen Mutter Hebamme war, erinnert das an philosophische Geburtswehen. Sich selbst sieht er dabei als eine Art Geburtshelfer: Er bringt zwar keine eigenen Erkenntnisse hervor, entbindet aber durch seine Fragen andere von Erkenntnissen. Darüber hinaus vermag er den Wahrheitsgehalt dieser Hervorbringungen zu beurteilen.

Wissen als Wahrnehmung

In einem neuen Anlauf definiert Theaitetos Wissen als Wahrnehmung. Schon besser, befindet Sokrates, etwas Ähnliches habe schon Protagoras gesagt, als er den Menschen zum Maß aller Dinge erklärte. Wenn der eine im Wind friert, der andere aber nicht, so erscheint der Wind dem einen kalt und dem anderen nicht. Wie einer etwas wahrnimmt, so ist es für ihn. Allerdings hat Protagoras auch gesagt, nichts sei dauerhaft irgendwie beschaffen, sondern was uns groß erscheine, könne uns auch als klein erscheinen, und was uns schwer erscheine, könne uns auch als klein erscheinen. Alles sei in Bewegung, im Werden begriffen, alles verändere sich ständig. Nichts sei von sich aus einfach etwas oder irgendwie beschaffen, sondern nur, wenn jemand es so wahrnehme.

„Bemühe dich aber auf jede Weise, wie von anderen Dingen, so vom Wissen die Erklärung zu finden, was es eigentlich ist.“ (Sokrates zu Theaitetos, S. 31)

Damit ein Gegenstand „weiß“ genannt werden kann, bedarf es eines Menschen, dem er weiß erscheint. Einem anderen aber mag er nicht weiß erscheinen, ja derselbe Mensch kann den Gegenstand, der ihm weiß erschien, plötzlich nicht mehr als weiß wahrnehmen, da er selbst sich verändert hat. Erst durch das Zusammentreffen des Auges mit der von der weißen Farbe eines Gegenstandes ausgehenden Bewegung entsteht die Farbe Weiß. Die Farbe wohnt dem Gegenstand also nicht inne, sondern sie wird erst im Akt des Sehens in einem Raum zwischen dem sehenden Auge und dem Gegenstand erzeugt. Das gilt für alle Dinge und Eigenschaften. Alles ist ständig in Veränderung begriffen, selbst Begriffe wie „Mensch“ oder „Stein“ sind nicht starr und müssen daher immer wieder überprüft werden.

„Das Größte aber an unserer Kunst ist dieses, dass sie imstande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings ein Trugbild und Falsches zu gebären im Begriff ist oder etwas Lebenskräftiges und Wahres.“ (Sokrates, S. 37)

Theaitetos ist irritiert. Meint Sokrates das ernst oder will er ihn herausfordern? Der aber möchte dem Jungen nur die richtigen Fragen stellen, um ihm dabei zu helfen, eine eigene Auffassung zu entwickeln. Wie ist das etwa mit den Wahnsinnigen oder den Träumenden, denen ja ebenfalls wahr vorkommt, was sie wahrnehmen? Widerlegt das nicht die These, wonach wahr ist, was jemand wahrnimmt? Diejenigen, die das behaupten, sagen: Ein Mensch ist, je nachdem ob er schläft oder wacht, krank oder gesund ist, jeweils ein anderer – und das beeinflusst, was er wahrnimmt. Für einen Gesunden schmeckt der Wein süß, für einen Kranken bitter. Der Wein ist oder wird im Augenblick der Wahrnehmung mal süß, mal bitter. Jedem ist seine Wahrnehmung wahr, ob er nun krank oder gesund ist, wacht oder schläft.

Angriff und Verteidigung

Mit Sokrates’ Hilfe hat Theaitetos seine These, Wahrnehmung sei Wissen, zur Welt gebracht. Nach der „Geburt“ geht es für Sokrates nun darum, die These auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Wenn das, was jemandem scheint, für diesen wahr ist, ist dann die Weisheit des Theaitetos gleich viel wert wie die jedes anderen Menschen oder gar die Weisheit der Götter? Natürlich nicht, erwidert Theaitetos, doch Sokrates will nicht eine Antwort aus dem Bauch heraus, sondern verlangt Beweise. Aus der Gleichsetzung von Wahrnehmung und Wissen ergebe sich Folgendes: Wenn jemand Menschen in einer ihm fremden Sprache reden höre, müsste er entweder sagen, er höre sie nicht; oder, er höre sie und verstehe sie. Aber, so Theaitetos, er hört und erkennt ja den Klang der Sprache, auch wenn er nichts versteht.

„Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe beim Warmen und alle derartigem. Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.“ (Sokrates, S. 43)

Wenn aber jemand etwas gesehen hat und durch diese Wahrnehmung Wissen erlangt hat und sich nun mit geschlossenen Augen daran erinnert, ist das etwa kein Wissen? Denn wenn Sehen Wissen ist, so ist Nichtsehen Nichtwissen. Dann aber müsste es auch so etwas wie scharfes oder verschwommenes Wissen, Wissen aus der Nähe oder aus der Ferne geben. Und wenn man sich ein Auge zuhielte und mit dem anderen etwas sähe, dann würde man wissen und zugleich nicht wissen. Das alles sei absurd, meint Theaitetos, und als Sokrates daraus schließt, Wissen und Wahrnehmung seien eben doch nicht das Gleiche, stimmt er sofort zu. Doch so leicht solle man es sich nicht machen, meint Sokrates und bittet Theodoros, als Anhänger des Protagoras die Verteidigung der These zu übernehmen. Doch der winkt ab: Er habe das reine Denken aufgegeben und sich auf die Geometrie verlegt.

„Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen (…)“ (Sokrates, S. 53)

Also macht sich Sokrates gemeinschaftlich mit Theodoros und Theaitetos an die Rehabilitation dieser These, indem er in die Rolle des Protagoras schlüpft und auf all diese Einwände antwortet. Gewiss behaupte Protagoras, dass der Mensch das Maß all dessen sei, was ist. Das bedeute aber nicht, dass alles gleich gut sei. Im Gegenteil: Was der eine wahrnimmt, ist besser, wenn auch keineswegs wahrer, als was ein anderer wahrnimmt. So ist der Gesunde zwar nicht sachkundiger als der Kranke, indem dieser sagt, etwas sei bitter, und jener, es sei das Gegenteil; und seine Vorstellungen sind auch keineswegs wahrer – aber sein Zustand ist besser. Des einen Wahrheit ist somit ebenso wahr wie die des anderen, jedoch ist die des Gesunden die bessere, heilsamere Wahrheit. Und ebenso wie ein Arzt den Körper von einem schlechteren in einen besseren Zustand bringen kann, vermag der Weise die Seelen anderer Menschen besser zu machen, sodass ihnen etwas Besseres als wahr erscheint.

„Ebenso ist nun alles übrige, das Harte und Warme und alles andere, auf dieselbe Art zu verstehen, dass es nämlich an und für sich nichts ist (…)“ (Sokrates, S. 57)

Und noch ein Argument liefert Sokrates gegen Protagoras’ Satz: Im Alltag unterscheiden die meisten Leute sehr wohl zwischen wahr und falsch. Nicht umsonst vertrauen sie sich im Krieg oder bei Krankheit Experten an. Die Mehrheit bestreitet die These, dass für jeden das wahr ist, was ihm wahr erscheint. Protagoras würde darauf antworten, dass die Überzeugung der anderen, die seine These für falsch halten, für sie wahr und damit seine eigene Meinung falsch ist – womit er sich selbst widerlegt hätte. Und wie sieht es mit zukünftigen Dingen aus? Gilt da auch, dass für jeden wahr wird, was er glaubt? Wenn jemand meint, er werde Fieber bekommen, der Arzt aber anderer Meinung ist, was stimmt dann? Bekommt derjenige für sich Fieber, für den Arzt aber nicht? Das ist offensichtlich absurd. Natürlich gibt es Leute, die auf ihrem Gebiet weiser sind als andere. Ein Landwirt etwa kann den Geschmack des Weines besser vorhersagen als ein Tonkünstler. Protagoras’ These, keine Meinung sei wahrer als die andere, kann als widerlegt gelten.

Weitere Argumente gegen Theaitetos’ These

Wie gut es doch tut, in aller Ruhe solche Fragen diskutieren zu können, findet Sokrates. Ganz anders gehe es ja bei Gericht zu. Die an den Gerichtshöfen geschulten, arglistigen Redner sind von Jugend an seelisch deformiert, während eine philosophische Ausbildung freie Menschen hervorbringt. Gewiss werden Philosophen als realitätsfern und lebensuntüchtig verspottet, wie Thales, der nachts die Sterne betrachten wollte und dabei, den Blick zum Himmel gerichtet, in einen Brunnen fiel. Weder gelingt es ihnen, andere öffentlich herabzuwürdigen, noch sind sie zu Lobpreisungen irgendwelcher Herrscher fähig. Alles, was der Masse wichtig ist – Rechtsstreitigkeiten, Besitz, Herkunft –, interessiert sie nicht, denn ihr Blick richtet sich immer auf das große Ganze: Was ist Gerechtigkeit, was ist Glück, was ein gutes Leben? So werden sie Gott ähnlich, also einsichtig, fromm und gerecht.

„Denn süß, aber für niemanden süß zu sein, ist unmöglich.“ (Sokrates, S. 67)

Aber zurück zu dem alten Streit, ob man überhaupt sagen kann, dass etwas ist, wenn doch tatsächlich – wie Heraklit meint – alles ständig in Bewegung ist. Mit Bewegung ist sowohl ein Ortswechsel als auch jede Art von Veränderung gemeint – wenn etwas zum Beispiel älter wird oder seine Farbe wechselt. Wenn man nun davon ausgeht, dass etwas erst im Akt der Wahrnehmung durch einen Wahrnehmenden zu etwas Weißem wird, dann setzt das eine gewisse Beharrlichkeit – einerseits der Wahrnehmung, andererseits des Wahrgenommenen – voraus. Mit der These, alles sei im Fluss, lässt sich das kaum vereinbaren: Das Weiße würde sich danach ständig verändern, und auch einen fixen Moment des Sehens gäbe es nicht. Wenn alles sich bewegt, kann nicht mehr die Rede davon sein, etwas sei „so“ oder werde „so“. Wenn es aber nichts wahrzunehmen gibt, ist die These, Wissen sei Wahrnehmung, hinfällig.

„Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins.“ (Sokrates, S. 69)

Noch etwas hat Sokrates gegen Theaitetos’ These einzuwenden: Unsere Sinnesorgane nehmen nicht selbst wahr, sondern sind lediglich hoch spezialisierte körperliche Werkzeuge. Die verschiedenen Sinneseindrücke werden dann durch die Seele zusammengeführt. Das Auge ist für das Sehen, das Ohr für das Hören verantwortlich; aber über Sein oder Nichtsein, über die Identität der wahrgenommenen Dinge, ihre Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zu anderen Dingen denkt die Seele nach. Sie ist es auch, die beurteilt, ob etwas schön oder schlecht, gut oder böse ist, indem sie vergleicht. Dazu aber bedarf sie langjähriger Erfahrung und Unterweisung. Die sinnlichen Eindrücke allein vermitteln also kein Wissen, sondern erst die Schlüsse, die daraus gezogen werden. Sokrates und Theaitetos kommen zu dem Schluss, dass Wissen etwas anderes sein muss als Wahrnehmung.

Wissen als wahre Meinung plus Erklärung

Was aber ist Wissen dann? Theaitetos bringt eine neue Definition ins Spiel: Wissen ist Meinen, oder genauer: wahre Meinung. Sokrates fordert ihn auf, zunächst einmal zu bestimmen, was eine falsche Meinung ist. Ist eine Meinung über etwas, das nicht ist, falsch? Nein, denn so etwas ist nicht möglich. Ist eine Meinung, die durch Verwechslung zweier Dinge zustande gekommen ist, falsch? Was ist überhaupt „meinen“? Für Sokrates bedeutet es, dass die Seele sich mit sich selbst unterhält, fragt und antwortet, bejaht und verneint und so zu einer Meinung kommt. Niemand aber würde sich selbst zu überzeugen versuchen, dass etwas Schönes hässlich oder das ein Ochse ein Pferd sei, weshalb eine falsche Meinung nicht gleichbedeutend mit einer Verwechslung sein kann.

„Schön bist du, Theaitetos, und gar nicht, wie Theodoros sagt, hässlich; denn wer so schön spricht, der ist schön und gut.“ (Sokrates, S. 143)

Unsere Seele gleicht nach Sokrates einem Wachsblock, in den sich Eindrücke wie Siegelabdrücke einprägen – je nach Qualität des Wachses und Tiefe des Abdrucks tun sie das mehr oder weniger deutlich. Bei denen, die über schlechtere Voraussetzungen verfügen, kommt es häufig zu fehlerhaften Zuordnungen und Irrtümern. Man kann zwei Dinge, die man kennt, also höchstens in der Weise verwechseln, dass man das eine aufgrund einer Fehlwahrnehmung für das andere hält, weil man den Anblick dem falschen Abdruck auf der Wachsplatte zuordnet. Was man aber nicht kennt, darüber kann man sich auch nicht irren. Allerdings, wendet Sokrates gegen seine eigene Argumentation ein, kann man sich ja auch – ohne wahrzunehmen – nur in Gedanken irren, etwa wenn man sich verrechnet.

„Denn es ist besser, ein weniges gut, als vieles ungenügend zu vollbringen.“ (Sokrates, S. 151)

Doch Sokrates unternimmt einen neuen Versuch, Wissen zu definieren: Wissen ist das Haben, nicht nur das Besitzen von Wissen. Die Seele gleicht einem Taubenschlag, in dem jemand ganz verschiedene Vögel eingesperrt hat. Er besitzt die Vögel. Will er aber einen von ihnen nutzen, so muss er ihn erneut einfangen. Ebenso greift der Mensch nach Wissen, das er erlangt hat, lässt es wieder los oder vertieft es. Wenn er sich nun bei der Suche nach einem passenden Wissensstück vergreift, entsteht eine falsche Meinung: Der Mensch ist im Besitz des Wissens – und weiß es doch nicht. Aber wie ist es mit dem Nichtwissen, das er ja auch besitzt? Weiß er, dass er nicht weiß? Die Frage ist ein unendlicher Kreislauf und lässt sich nicht schlüssig beantworten.

„Und es scheint dir dennoch nicht unverschämt, dass wir, die wir nicht wissen, was Wissen ist, dennoch zeigen wollen, wie das Wissen beschaffen ist?“ (Sokrates zu Theaitetos, S. 179)

Schließlich schlägt Sokrates vor, Wissen als wahre Meinung plus Erklärung zu bestimmen. Da Dinge stets zusammengesetzt sind – etwa Namen aus Silben aus Buchstaben –, kann man versuchen, sie anhand ihrer einfachsten Elemente erklären – doch diese sind unerklärbar und können das Ganze also nicht erklären. Ist das Ding aber mehr als die Summe seiner Einzelteile, bleibt es so auch unerklärbar. Auch wenn man Erklären als das Herausarbeiten dessen, was ein Ding von allen anderen unterscheidet, versteht, kommt man nicht weiter. Der Erklärende muss wissen, welches Merkmal das Ding von anderen unterscheidet, und somit setzt Erklären bereits Wissen voraus, statt es zu definieren. Am Ende sind alle Fragen offen, und Theaitetos muss zugeben, dass die These, die er mit Sokrates’ Hilfe hervorgebracht hat, nicht tragfähig ist. Immerhin: Beim nächsten Mal wird er besonnener vorgehen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Platons Theätet beginnt mit einem kurzen Rahmengespräch, in dem Eukleides seinem Freund Terpsion erzählt, er habe am Hafen Theaitetos gesehen, der schwer krank aus einer Schlacht wiedergekehrt sei. Das bringt ihn auf sein eigenes Buch, in dem er ein Gespräch zwischen Sokrates und dem jungen Theaitetos aus dem Gedächtnis rekonstruiert hat. Wie in vielen anderen Werken Platons sind die Gesprächspartner im Theätet historisch reale Personen, das Gespräch allerdings ist fiktiv. Der eigentliche Dialog zwischen Sokrates einerseits und wechselweise Theodoros und Theaitetos anderseits folgt einem für Platon typischen Muster: Als Gesprächsführer fragt Sokrates die anderen nach ihren Meinungen oder schlägt ihnen Aussagen vor, um diese anschließend durch gezielte Fragen auf Herz und Nieren zu prüfen – und anschließend meistens zu verwerfen. Das Ergebnis ist ein offenes, dabei intensives und reichhaltiges Gespräch mit vielen Abschweifungen. Platon führt oft Vergleiche oder Beispiele aus dem Alltag an, die das Verständnis seiner abstrakten Überlegungen erleichtern.

Interpretationsansätze

  • Die Abwesenheit von Platons Ideenlehre im Theätet ist auffällig. Während Platon in seinen etwa zur gleichen Zeit entstandenen Werken Der Staat und Parmenides jene Lehre ausarbeitet, wonach Ideen, etwa die Idee des Guten oder die Idee des Schönen, als reale, den sinnlich wahrnehmbaren Objekten übergeordnete Gegenstände existieren, verliert er im Theätet kein Wort darüber. In der Forschung wurde das unterschiedlich bewertet. Während die einen darin den Grund dafür sehen, dass die Definition von Wissen am Ende scheitert, meinen die anderen, Platon habe nach der Abfassung von Der Staat an seiner Ideenlehre gezweifelt und versucht, sich dem Thema Wissen auf andere Weise zu nähern.
  • Ob Platon im Theätet seine eigene Auffassung des Wissensbegriffs wiedergibt, ist umstritten, aber letztlich auch zweitrangig. Das Gespräch handelt zwar von der Frage, was Wissen sei, vor allem aber zeigt es Wege auf, wie man sich dieser Frage nähern kann. Der Leser bekommt keine fertigen Lösungen präsentiert, sondern soll sein Augenmerk auf die Argumentationsstrategie des Sokrates richten. Wenn der Dialog auch ergebnislos endet, so lernen die Gesprächspartner doch, ihr Wissen über Wissen infrage zu stellen.
  • Die dem Protagoras in den Mund gelegte Selbstwiderlegung seiner eigenen relativistischen These (für jeden sei wahr, was ihm wahr erscheine) durch das Argument, viele Menschen hielten sie für unwahr, ist logisch nicht korrekt – wie der Text überhaupt einige Unstimmigkeiten und Widersprüche aufweist. Möglicherweise baute Platon bewusst solche Argumentationsfehler in seinen Dialog ein, damit der Leser Stellung bezieht und selbst nach Lösungen sucht.
  • Die letzte der drei von Sokrates vorgeschlagenen Definitionen, Wissen sei wahre Wahrnehmung plus Erklärung, gilt noch heute in der modernen Debatte über Erkenntnistheorie. Sinnliche Wahrnehmung allein reicht nicht aus, sondern ist nur Voraussetzung für eine Meinung. Da aber nicht jede Meinung auch Wissen ist, muss eine weitere Bedingung erfüllt sein: Die wahre Meinung muss begründet sein.
  • Wo Platon Philosophen als weltabgewandte Bewohner des Elfenbeinturms darstellt, zeichnet er vermutlich nicht sein Ideal des Philosophen, wie lange Zeit angenommen wurde. Eher handelt es sich um eine populistische Karikatur des Denkers. Platon selbst hatte sehr wohl Ahnung von den Gesetzen und den familiären Verhältnissen in Athen.

Historischer Hintergrund

Die Anfänge der Erkenntnistheorie in der Antike

Die Philosophie entstand um den Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr. als eigenständige Disziplin, die die Welt mit Mitteln der Vernunft statt durch mythisch-religiöse Narrative zu erklären suchte. Frühe Philosophen wie Thales von Milet oder Pythagoras zeigten besonderes Interesse an naturwissenschaftlichen und mathematischen Phänomenen und suchten nach einem grundlegenden Prinzip, auf die sich die dem Menschen erscheinende Wirklichkeit zurückführen lasse. Zu den ersten Denkern, die sich gezielt mit Fragen der Erkenntnis beschäftigten, zählte Heraklit, der bereits in der Antike wegen seiner oft rätselhaften, mehrdeutigen Textfragmente den Beinamen „der Dunkle“ trug.

Die Mehrheit der Menschen war nach Heraklit blind gegenüber dem, was er selbst für die Wahrheit hielt: dass nämlich die Welt trotz oder gerade wegen der in ihr erscheinenden Gegensätze Ausdruck einer umfassenden Einheit sei. Die meisten Menschen aber hinterfragten ihre Wahrnehmung der Realität nicht und hinderten sich damit selbst an der Erkenntnis tieferer Wahrheit. Zugleich wies Heraklit auf die Relativität von Urteilen hin, wenn er etwa in einem Epigramm betonte, das Meer enthielte zugleich das sauberste und das schmutzigste Wasser: Für Fische sei es trinkbar und lebenserhaltend, für Menschen dagegen ungenießbar und tödlich. Ein ontologischer Relativist, der behauptete, alles sei im Fluss und es gebe nichts Feststehendes auf der Welt, war Heraklit jedoch wohl nur bei Platon.

Eine besondere Bedeutung spielte die Frage nach Erkenntnis auch für die Sophisten, die im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts als professionelle Wanderlehrer auftraten und einen skeptisch-relativistischen Grundton in die Philosophie brachten.

Zu den Gründerfiguren der sophistischen Bewegung zählte Protagoras. Sein berühmter Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, der Nicht-Seienden, dass sie nicht sind“ weist ihn – zumindest aus Sicht Platons – als radikalen Relativisten aus, der dem Menschen die Konstruktion von Eigenschaften der Dinge – wenn nicht sogar der Dinge selbst – zusprach. Andere Interpretationen gehen davon aus, dass Protagoras nicht jeden einzelnen Menschen meinte, sondern den Menschen an sich.

Ein weiterer Philosoph des fünften Jahrhunderts war Sokrates, der wie die Sophisten öffentlich – allerdings ohne Honorar – auftrat und mit meist jungen Leuten über Themen wie Gerechtigkeit oder das gute Leben diskutierte. Er war im Athen seiner Zeit berühmt dafür, durch seine unbequemen, insistierenden Fragen die Überzeugungen seiner Gesprächspartner herauszufordern und zu widerlegen. Sokrates, der nichts Schriftliches hinterließ, vertrat keine eigenen Positionen, sondern war darauf spezialisiert, die Schwächen anderer Auffassungen zu erkennen.

Entstehung

Am Ende des Theätet vertagt Sokrates das Gespräch, da er vor Gericht muss, um seine Anklage entgegenzunehmen. Platon lässt den fiktiven Dialog also unmittelbar vor Sokrates’ Verurteilung stattfinden, verfasste ihn aber erst rund 30 Jahre später. Das lässt sich aus einem Hinweis Eukleides’ im Rahmendialog schließen, wonach Theaitetos soeben schwer krank aus einer Schlacht zurückgekehrt sei. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um eine Schlacht, die 369 v. Chr. stattfand. Das Werk wird somit der mittleren Schaffensperiode Platons zugerechnet, in die auch Teile von Der Staat und von Parmenides fallen.

Wirkungsgeschichte

Über die Rezeption von Theätet in der Antike gibt es nur wenige gesicherte Erkenntnisse, doch spricht einiges dafür, dass der Dialog unter den Nachfolgern Platons in der von ihm gegründeten Akademie als Vorbild einer skeptischen Grundhaltung und Gesprächsführung in hohem Ansehen stand. Die erste lateinische Übersetzung des Werks lieferte 1484 der Florentiner Humanist Marsilio Ficino im Zuge seiner Platon-Gesamtausgabe. Wie Ficino waren Platon-Forscher von der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert hinein überzeugt, das Werk des Philosophen stelle eine einheitliche Doktrin dar, von der aus sich die einzelnen Texte schlüssig interpretieren ließen. Noch Friedrich Schleiermacher, der 1818 die erste, bis heute im Wesentlichen noch gültige deutsche Übersetzung des Textes vornahm, begriff den Theätet als Ausdruck einer platonischen Gesamtlehre.

Im 20. Jahrhundert verabschiedete sich die Forschung allmählich von dem Gedanken, Platons Werk bilde eine dogmatische Einheit, und wandte sich verstärkt den einzelnen Texten zu. Paul Natorp knüpfte mit seiner neukantianischen Philosophie an die platonischen Dialoge, insbesondere den Theätet, an. In den 1930er-Jahren setzten sich Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein intensiv mit dem Werk auseinander.

Über den Autor

Platon gilt als einer der größten philosophischen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Morgenhimmel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aristokratischen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgezeichnet. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oligarchische Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Hauptdarsteller seiner philosophischen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophische Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechischen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wissensgebiete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Politikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.

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