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Theorie des kommunikativen Handelns

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Theorie des kommunikativen Handelns

Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Jürgen Habermas ist einer der wenigen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Dies ist sein wichtigstes Werk.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Mensch, Kommunikation und Gesellschaft

Kommunikation findet immer zwischen Menschen statt, und diese Menschen sind vorgeprägt durch die Gesellschaft, in der sie leben. Für Jürgen Habermas ist die Gesellschaft deshalb auch bestimmend für die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns spannt er den Bogen von archaischen Gesellschaften mit fest vorgegebenen Weltbildern über rationalisierte Gesellschaften der Neuzeit bis hin zur Gegenwart, in der Wirtschaft und Staat zunehmend an Bedeutung gewinnen und auf diese Weise auch die private Lebenswelt der Menschen beeinflussen. Habermas’ Werk ist deutlich von den Ideen des Marxismus und der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos geprägt, setzt sich aber auch – sehr ausführlich – mit anderen Denkrichtungen und Autoren auseinander, darunter Weber, Mead, Durkheim, Parsons und Luhmann. Manche von Habermas’ Prämissen (etwa die Annahme, dass Kommunikation vor allem dem Zweck dient, einen Konsens zu erreichen, und dass dieser Konsens durch Argumentation erzielt werden kann) erscheinen etwas realitätsfern oder zumindest idealistisch. Darüber hinaus ist das Werk nicht gerade leicht zu lesen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird in dem Buch viele interessante Denkansätze finden, die helfen, unsere moderne Gesellschaft besser zu verstehen.

Take-aways

  • Die Theorie des kommunikativen Handelns ist das Hauptwerk des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas.
  • Er verbindet darin seine Kommunikationstheorie mit Kritik an modernen kapitalistischen Gesellschaften.
  • Nach seiner Theorie gilt eine Aussage dann als rational, wenn sie überprüft und kritisiert werden kann.
  • Diese Überprüfung findet in der Kommunikation, im Austausch mit anderen statt.
  • Mit jeder Aussage erhebt ein Sprecher Geltungsansprüche: Er setzt voraus, dass seine Aussage wahr ist, dass sie der Situation angemessen ist und dass sie aufrichtig gemeint ist.
  • Der Hörer muss jeweils entscheiden, ob er diese drei Geltungsansprüche akzeptieren möchte oder nicht.
  • Wenn er nur einen von ihnen zurückweist, lehnt er damit zugleich die Aussage als Ganzes ab.
  • Der Sinn von kommunikativem Handeln ist Konsens, der durch Argumentation erreicht werden muss.
  • In modernen Gesellschaften mit kapitalistischem Wirtschaftssystem wird die direkte Kommunikation teilweise durch die Medien Geld und Macht ersetzt.
  • Sie bestimmen zunehmend auch die private Lebenswelt der Menschen und beeinflussen sie negativ.
  • In der Theorie des kommunikativen Handelns verarbeitet Habermas die Werke zahlreicher anderer Soziologen wie Weber, Lukács, Adorno, Mead, Durkheim und Parsons.
  • Das umfangreiche und nicht leicht zu lesende Buch wurde zu einem der meistdiskutierten Werke der Sozialwissenschaften.

Zusammenfassung

Lebenswelt und Kommunikation

Menschen, die in irgendeiner Form eine Gemeinschaft bilden, teilen auch bestimmte gemeinsame Überzeugungen. Diese bilden ihre Lebenswelt. Die Lebenswelt bestimmt das Handeln der Menschen und stellt den Hintergrund dar, vor dem alle Kommunikation stattfindet.

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass normenregulierte Handlungen, expressive Selbstdarstellungen und evaluative Äußerungen konstative Sprechhandlungen zu einer kommunikativen Praxis ergänzen, die vor dem Hintergrund einer Lebenswelt auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist, und zwar eines Konsenses, der auf der intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht.“ (Bd. I, S. 37)

Archaische Gesellschaften besitzen ein festes Weltbild, das von Mythen und Glaubensvorstellungen geprägt ist. Ein solches Weltbild entsteht, wenn sich Menschen den Kräften der Natur, die sie täglich erfahren, hilflos ausgesetzt fühlen. Sie verstehen diese Vorgänge nicht, können sie nicht erklären und noch weniger beherrschen. Als Reaktion darauf sehen die Menschen in den Erscheinungen Götter und Geister. Diese werden in Mythen zu Wesen umgedeutet, die den Menschen ähnlich sind, aber mehr Macht besitzen als sie. Dadurch werden sie in gewissem Rahmen fassbar, kontrollierbar und verlieren ihren Schrecken. Menschen in archaischen Gesellschaften trennen nicht zwischen subjektiven Vorstellungen und der objektiv wahrnehmbaren Welt, in ihrem Weltbild vermischt sich beides. In Gesellschaften, die von einem mythischen Weltbild bestimmt werden, gibt es üblicherweise feste Verhaltensnormen, die für alle Mitglieder gelten. Diese Normen regeln auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Sie gewährleisten, dass die Verständigung funktioniert und ein Konsens erreicht werden kann.

„Nur vor dem Hintergrund einer objektiven Welt, und gemessen an kritisierbaren Wahrheits- und Erfolgsansprüchen, können Meinungen als systematisch falsch, Handlungen als systematisch aussichtslos, können Gedanken als Fantasien, als bloße Einbildungen erscheinen (...)“ (Bd. I, S. 83)

In dem Maße, wie sich eine Gesellschaft weiterentwickelt, wird ihre Lebenswelt rationalisierter. Die Menschen sind zunehmend in der Lage, zwischen der objektiv wahrnehmbaren Welt und subjektiven Glaubensvorstellungen zu unterscheiden. Das gemeinsame, mythische Weltbild verliert an Bedeutung und so auch die damit verbundenen Normen und Verhaltensvorschriften. Statt sich an Vorgaben zu orientieren, treffen Menschen zunehmend eigene, rationale Entscheidungen. In einer rationalisierten Lebenswelt hat der Einzelne die Möglichkeit, auch selbst rational zu handeln und sein ganzes Leben rational zu führen. Je unklarer aber das Weltbild einer Gesellschaft definiert ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Kommunikation zu Auseinandersetzungen kommt, ehe ein Konsens gefunden werden kann.

Rationales Sprechen und Handeln

Eine Handlung gilt dann als rational, wenn sie zweckgerichtet ist und Aussicht auf Erfolg hat. Am Beispiel einer rationalen Aussage heißt das: Sie kann begründet, kritisiert und überprüft werden. Diese Überprüfung findet in der Regel im Austausch mit anderen Kommunikationsteilnehmern statt, also in Form einer Argumentation. Dabei erhebt der Sprecher mit seiner Aussage einen Geltungsanspruch, der vom Kommunikationspartner auf seine Richtigkeit überprüft wird: Der Partner kann den Geltungsanspruch annehmen oder ablehnen. Das Ziel der Argumentation und der Kommunikation im Allgemeinen ist es, einen Konsens zwischen den Gesprächspartnern zu finden.

„Der Begriff der Verständigung verweist auf ein unter Beteiligten erzieltes rational motiviertes Einverständnis, das sich an kritisierbaren Geltungsansprüchen bemisst.“ (Bd. I, S. 114)

Menschliches Handeln kann man in verschiedene Kategorien einteilen; für jede dieser Kategorien sind ein bestimmter Sprachgebrauch und bestimmte Weltbezüge typisch:

  • Teleologisches oder strategisches Handeln ist zielgerichtet; der Handelnde möchte einen Zweck erreichen. Sprache dient hier als ein Medium, mit dem der Sprecher versucht, andere in Bezug auf sein Ziel zu beeinflussen. Das strategische Handeln stützt sich auf Dinge in der objektiven Welt. Entsprechend gehören zu diesem Handeln Aussagen über die objektive Welt; sie werden als konstative Aussagen bezeichnet.
  • Normenreguliertes Handeln orientiert sich an den Werten, die in einer Gesellschaft vorgegeben sind. Hier ist die Sprache ein Mittel zur Überlieferung dieser Werte. Es bezieht sich nicht nur auf die objektive, sondern auch auf die soziale Welt, d. h. auf den zwischenmenschlichen Umgang und die Regeln, die dafür gelten. Aussagen in diesem Kontext sind normative Aussagen, z. B. Handlungsaufforderungen.
  • Dramaturgisches Handeln dient der Selbstdarstellung des Handelnden. Hier kommt eine weitere Dimension ins Spiel, nämlich die subjektive Welt eines Menschen, der sich vor anderen in Szene setzt und etwas von sich preisgibt. Auf der sprachlichen Ebene geschieht das in Form von expressiven Aussagen, d. h. Aussagen über eigene Gefühle, Wünsche oder Stimmungen.
„Tatsächlich ist aber die sprachliche Verständigung nur der Mechanismus der Handlungskoordinierung, der die Handlungspläne und die Zwecktätigkeiten der Beteiligten zur Interaktion zusammenfügt.“ (Bd. I, S. 143)

Wie bereits erwähnt, erhebt jede Aussage einen Geltungsanspruch. Bei konstativen Aussagen ist dieser Geltungsanspruch die Wahrheit: Sie müssen sich an den Gegebenheiten der objektiven Welt messen lassen. Der Geltungsanspruch normativer Aussagen wiederum ist die Gültigkeit: Hier stellt sich die Frage, ob die zugrunde liegende Norm auch von anderen als legitim angesehen wird. Expressive Aussagen schließlich erheben den Anspruch der Wahrhaftigkeit; hier geht es um die Frage, inwieweit die Aussagen des Handelnden im Gesamtzusammenhang seines Verhaltens glaubwürdig erscheinen. Weil jede Aussage, deren Geltungsanspruch überprüft und kritisiert werden kann, rational zu nennen ist, verdienen nicht nur konstative Äußerungen mit ihrem Bezug auf die objektive Welt dieses Attribut, sondern ebenso die anderen Arten von Aussagen. Auch sie müssen sich an ihrem jeweiligen Geltungsanspruch messen lassen.

Das kommunikative Handeln

Neben diesen drei Formen des Handelns gibt es noch eine vierte, das kommunikative Handeln. Hier versuchen die Beteiligten, durch Kommunikation einen Konsens zu finden, um ihre Handlungen aufeinander abzustimmen. Ihr Medium zur Verständigung ist die Sprache. Dabei beziehen sich die Sprecher zugleich auf eine objektive, eine soziale und eine subjektive Welt. Dies ist der Normalfall in der menschlichen Kommunikation – üblicherweise erheben alle Aussagen zugleich einen Anspruch auf Wahrheit, Gültigkeit und Wahrhaftigkeit und werden von den übrigen Beteiligten daran gemessen.

„Grundsätzlich sind die Beziehungen des strategischen, des normenregulierten und des dramaturgisch Handelnden zur objektiven, zur sozialen oder zur subjektiven Welt einer objektiven Beurteilung zugänglich – für den Aktor und für einen Beobachter gleichermaßen.“ (Bd. I, S. 157)

Im Kommunikationsvorgang erarbeiten die Beteiligten gemeinsame Definitionen der Handlungssituation. Das System der drei Welten – objektive, soziale und subjektive Welt – gilt als Interpretationsrahmen. Dabei besteht immer die Möglichkeit, dass Aussagen von anderen Kommunikationsteilnehmern bestritten werden. Ein Konsens ist erst dann erreicht, wenn ein Hörer allen drei Geltungsansprüchen einer Aussage zustimmt. Wenn er nur einem nicht zustimmen kann, muss er die Äußerung im Ganzen ablehnen.

Verstehen und Einverständnis bei kommunikativem Handeln

Kommunikatives Handeln hat den Zweck, die Handlungen der Kommunikationspartner zu koordinieren. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Menschen mithilfe von Kommunikation ihre Handlungen aufeinander abstimmen können? Die Reaktionen des Hörers auf die Sprechhandlung erfolgen auf drei Ebenen: Zunächst muss er die Bedeutung der Aussage verstehen, dann muss er dazu Stellung nehmen, d. h. sie akzeptieren oder ablehnen. Wenn er die Aussage akzeptiert, dann orientiert er als Nächstes sein Handeln an den Vorgaben, die durch Konventionen als Reaktion auf die Aussage festgelegt sind. Auf diese Weise stimmt er seine Handlungen mit denen des Kommunikationspartners ab. Lehnt er die Aussage ab, dann müssen die Beteiligten versuchen, durch Argumentation einen Konsens zu finden.

„Entsprechend kann eine Lebenswelt in dem Maße als rationalisiert angesehen werden, wie sie Interaktionen gestattet, die nicht über ein normativ zugeschriebenes Einverständnis, sondern – direkt oder indirekt – über eine kommunikativ erzielte Verständigung gesteuert werden.“ (Bd. I, S. 455)

Eine Handlungsaufforderung wird dann verstanden, wenn der Hörer weiß, wie die Aufforderung zu erfüllen ist und was er selbst dazu tun kann. Zu der Frage, wann eine Handlungsaufforderung für einen Hörer akzeptabel ist, gehört jedoch noch mehr: Der Hörer muss wissen, aus welchen Gründen der Sprecher sich das Recht nimmt, ihn zu einer Handlung aufzufordern. Die Aussage des Sprechers enthält einen Machtanspruch, der mit Sanktionsdrohungen verbunden ist, die auch der Hörer kennen muss. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann der Hörer entscheiden, inwieweit er die Handlungsaufforderung akzeptiert. Ein Sonderfall sind Aufforderungen, bei denen sich der Sprecher auf eindeutig festgelegte Normen wie z. B. Vorschriften bezieht. Hier hat der Hörer vergleichsweise wenig Spielraum, eine eigene Entscheidung zu treffen.

„So gilt im kommunikativen Handeln die Regel, dass ein Hörer, der einem jeweils thematisierten Geltungsanspruch zustimmt, auch die beiden anderen, implizit erhobenen Geltungsansprüche anerkennt; andernfalls muss er seinen Dissens erklären.“ (Bd. II, S. 184)

Ob und wie es in der Kommunikation zur Verständigung kommt, wird also durch verschiedene Faktoren bestimmt: einmal durch die Bezugnahme der Beteiligten auf die objektive, soziale und subjektive Welt; dann durch die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Gültigkeit und Wahrhaftigkeit, die aus diesen Weltbezügen entstehen; und schließlich durch das Einverständnis, das zwischen den Kommunikationsteilnehmern entsteht, wenn sie die Geltungsansprüche des anderen annehmen.

Rationalisierung und Kommunikationsmedien

In archaischen Gesellschaften ist die Lebenswelt relativ homogen, also für alle Teilnehmer sehr ähnlich. Die Zuordnung zu Rollen und sozialen Schichten wird über Verwandtschaftsbeziehungen definiert, und die gemeinsame Religion genießt einen sehr hohen Stellenwert. Mit zunehmender Ausdifferenzierung und Rationalisierung der Gesellschaft verliert die Abstammung an Bedeutung. Je mehr sich eine staatliche Organisation ausbildet, umso entscheidender ist für den Rang eines Menschen das Amt, das er innehat – und nicht mehr seine Herkunft. Es entstehen verschiedene soziale Klassen mit unterschiedlichen Lebenswelten. Während gesellschaftliche Werte also zunächst eng an Verwandtschaftsbeziehungen gebunden sind, werden sie mit fortschreitender Entwicklung von diesen Beziehungen getrennt und dadurch abstrakter.

„In der kommunikativen Alltagspraxis gibt es keine schlechthin unbekannten Situationen. Auch neue Situationen tauchen aus einer Lebenswelt auf, die aus einem immer schon vertrauten kulturellen Wissensvorrat aufgebaut ist.“ (Bd. II, S. 191)

In dem Maß, wie die Religion an Einfluss verliert, übernimmt die Kommunikation mehr und mehr die Aufgabe, Konsens zwischen den Menschen zu schaffen. Das Rationalitätspotenzial der Kommunikation – das grundsätzlich immer vorhanden ist – wird zunehmend freigelegt. Da Kommunikation Konsens schaffen muss, wird sie immer wichtiger. Dies fördert die Ausbildung von Kommunikationsmedien, die den sprachlichen Austausch erleichtern und teilweise ersetzen. Bei steigendem Kommunikationsbedarf erhöht sich das Risiko von Dissens; aber auch dies wird durch die Kommunikationsmedien z. T. abgefangen.

„Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraustreten.“ (Bd. II, S. 192)

Solche Medien sind Schrift, Druckerpresse oder elektronische Medien. Sie übernehmen einen Teil der Kommunikation und erleichtern sie dadurch. Daneben gibt es aber auch Medien, die die direkte Kommunikation ersetzen. Diese Ersatzmedien, die in modernen Gesellschaften eine große Rolle spielen, sind Geld und Macht. Sie sind deshalb ein Ersatz für direkte Kommunikation, weil man mit ihnen auf einfache Weise Einfluss nehmen und Forderungen durchsetzen kann, ohne erst einen Konsens zwischen allen Beteiligten erzielen zu müssen.

Kolonialisierung der Lebenswelt

Die Bereiche Wirtschaft und Verwaltung sind am stärksten rationalisiert. Durch die Entwicklung der Ersatzmedien Geld und Macht differenzieren sich das kapitalistische Wirtschaftssystem und das moderne Staatswesen mit seinem Verwaltungsapparat immer stärker aus, denn diese beiden Systeme werden durch Geld und Macht gesteuert. Sie trennen sich mehr und mehr von der Lebenswelt der Menschen – und durchdringen sie zugleich, um sie zu beeinflussen und zu steuern. Das tun die beiden Systeme so rücksichtslos wie Kolonialherren, weshalb man auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelt sprechen kann. Dabei bestehen durchaus Austauschbeziehungen zwischen den Systemen und der Lebenswelt, z. B. wenn Geld gegen Arbeitskraft oder staatliche Organisation gegen Steuern getauscht wird.

„Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten.“ (Bd. II, S. 208)

Durch diese Entwicklungen werden traditionelle Lebensformen vernichtet, wie es sich z. B. während der Industrialisierung an der Entstehung eines Proletariats gezeigt hat. Geld und Macht haben negative Auswirkungen auf das Leben der Menschen; irgendwann wird auch das Privatleben von Konsum und Leistungsdenken geprägt. Ebenso beeinflusst und hemmt die fortschreitende Bürokratisierung das öffentliche Leben, z. B. die spontane politische Willensbildung. Diese Entwicklung von Wirtschafts- und Verwaltungssystem ist eine Folge der Rationalisierung, aber einer einseitigen. Daher tragen diese Systeme und damit die moderne Gesellschaft und Lebenswelt krankhafte Züge, die korrigiert werden sollten. Demokratie und Sozialstaat versuchen, die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung abzumildern – was jedoch nur begrenzt möglich ist.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Theorie des kommunikativen Handelns ist ein umfangreiches Werk, das zwei Bände mit insgesamt rund 1200 Seiten umfasst. Der Text ist in zahlreiche Kapitel und Unterkapitel gegliedert, aber dennoch recht unübersichtlich und mühsam zu lesen: So beziehen sich nummerierte Abschnitte innerhalb der Kapitel auf Thesen, die nur einmal am Kapitelanfang erwähnt werden, und der Leser ist gezwungen zurückzublättern, wenn er den Zusammenhang behalten will. Auch mit seiner Sprache macht Habermas es einem nicht leicht. Seine Ausdrucksweise ist ausgesprochen kompliziert, der Wortschatz durchsetzt mit zahllosen Fremdwörtern. Dazu kommen lange englischsprachige Zitate, die beim Leser gute Fremdsprachenkenntnisse voraussetzen. Besonders erschwert wird die Lektüre noch dadurch, dass sich der größte Teil des Werks mit den Theorien zahlreicher anderer Soziologen und Philosophen beschäftigt – von Weber über Lukács und Adorno bis zu Mead, Durkheim und Parsons. Sehr ausführlich legt Habermas deren Arbeiten dar; seine eigene Theorie, die darauf aufbaut, findet sich dagegen eher versteckt in der Einleitung, in zwei Zwischenbetrachtungen und im Schlusswort des Buches.

Interpretationsansätze

  • Jürgen Habermas betrachtet den Vorgang der menschlichen Kommunikation aus der Sicht eines Soziologen: Kommunikation ist für ihn immer mit Handeln verknüpft bzw. ein Ersatz für Handeln.
  • Das Werk ist von der marxistischen Grundhaltung des Autors geprägt; so nimmt die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft viel Raum ein. Allerdings sieht Habermas auch im Sozialismus, wie er seinerzeit in den kommunistischen Staaten praktiziert wurde, keine Alternative; er erkennt die Probleme dieser Regierungsform deutlich.
  • Das Buch ist eine Antwort Habermas’ an seine Lehrer Adorno und Horkheimer, die angesichts der Katastrophe des 20. Jahrhunderts in die pessimistische Anschauung verfielen, Rationalität sei ein „stumpfes Schwert“. Habermas dagegen gibt seinen Glauben an die Vernunft nicht auf; sie ist für ihn in der Kommunikation angelegt und kann zur Geltung kommen, wenn die Kommunikationsprozesse vernunftorientiert angelegt sind, als „herrschaftsfreier Diskurs“.
  • Kommunikation bedeutet für Habermas, dass sich Menschen austauschen, um einen Konsens zu erreichen und sich dabei durch rationale Argumente überzeugen lassen. Damit beschränkt er sich auf einen Teilaspekt der Kommunikation; zahlreiche weitere Aspekte, die in der Alltagskommunikation ebenfalls eine große Rolle spielen, erwähnt er nur am Rande oder gar nicht. Seine Grundannahme, dass Kommunikationsteilnehmer rational handeln, erscheint recht idealistisch.
  • Stark kritisiert wird Habermas von den Philosophen des postmodernen Neostrukturalismus. Ihnen zufolge beschreibt er einen Glücksfall: In den nach-modernen Gesellschaften gelingt es nur noch selten, einen Konsens zu finden; meistens sind die Ansprüche fundamental unvereinbar. Die Diskurse der verschiedenen Akteure sind „inkommensurabel“, d. h. nicht in Übereinstimmung zu bringen. Da hilft alle Argumentation nichts.
  • Nicht ganz überzeugend ist auch Habermas’ Wertung von Macht und Geld als Steuerungsmedien einer einseitig rationalisierten, modernen Gesellschaft: Beide Dinge existieren schon viel länger als letztere und haben ebenso lange großen Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt.

Historischer Hintergrund

Gesellschaftliche Umbrüche nach dem Zweiten Weltkrieg

In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand die Bundesrepublik Deutschland im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs. Nach einer langen Zeit der Entbehrungen lechzten die Bürger nach Konsum. Politisches Engagement spielte dagegen nur eine geringe Rolle, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde zunächst einmal in den Hintergrund gedrängt. Doch Anfang der 60er Jahre begann sich die Situation zu verändern. Es waren junge Menschen, überwiegend Studenten, welche die Verdrängung der Vergangenheit kritisierten und eine Aufarbeitung forderten. Nach der Bildung der Großen Koalition 1966 empfanden viele das politische Klima als verkrustet, die Regierung als unflexibel; auch bemängelte man das Fehlen einer Opposition. Politisch links orientierte Studentengruppen gründeten in der Folge die so genannte Außerparlamentarische Opposition. Vor allem in den Jahren 1967 und 1968 kam es zu Unruhen, in denen ihre Kritik an Politik und Gesellschaft zum Ausdruck kam.

Die Studentenbewegung zersplitterte sich 1968 in verschiedene Gruppen und verlor bald an Bedeutung. Für viele Menschen, unter ihnen zahlreiche Intellektuelle und Wissenschaftler, blieb jedoch der Marxismus und Kommunismus eine Alternative zu der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik bzw. der westlich orientierten Staaten allgemein. Sie empfanden deren Strukturen als zu undemokratisch und kritisierten die einseitige Ausrichtung der Gesellschaft auf Konsum und Leistung. Daneben organisierten sich in den 70er und 80er Jahren zahlreiche Protestbewegungen, die für gesellschaftliche Veränderungen und gegen die Diskriminierung von Randgruppen kämpften, wie etwa die Friedensbewegung oder die Anti-Atomkraft-Bewegung. Auch der Umweltschutz wurde in diesen Jahren zum ersten Mal ein wichtiges politisches Thema.

Entstehung

Jürgen Habermas schrieb die Theorie des kommunikativen Handelns in den 70er Jahren, während seiner Zeit als Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Ursprünglich war das Werk nur als eine Überarbeitung der Vorlesungen gedacht, die Habermas 1971 an der Princeton University gehalten hatte, wurde dann aber wesentlich umfangreicher ausgearbeitet. Zentrale Gedanken der Theorie des kommunikativen Handelns finden sich bereits in früheren Arbeiten von Habermas. Schon seine erste größere Veröffentlichung, der Artikel Die Dialektik der Rationalisierung von 1954, beschäftigte sich mit dieser Thematik. Die Frage nach den Geltungsansprüchen menschlicher Kommunikation griff Habermas auch bereits in den Aufsätzen Wahrheitstheorien (1973) und Was heißt Universalpragmatik? (1976) auf.

Die weltanschauliche Grundlage für Habermas, den wichtigsten Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule bzw. der Kritischen Theorie, ist ein westlich geprägter Marxismus. Werke von Karl Marx werden auch in der Theorie des kommunikativen Handelns ausführlich aufgegriffen und zitiert. Habermas bezieht sich aber ebenso auf die Forschungen anderer Soziologen. Den Arbeiten von Talcott Parsons, George Herbert Mead, Émile Durkheim und Max Weber sind in der Theorie des kommunikativen Handelns ganze Kapitel gewidmet, in denen Habermas sich ausführlich mit den Ansätzen dieser Autoren beschäftigt, sie kommentiert und davon ausgehend seine eigene Theorie entwickelt.

Wirkungsgeschichte

Als die Theorie des kommunikativen Handelns im Jahr 1981 erschien, löste das Werk heftige und kontroverse Debatten aus. Heute ist seine Bedeutung unbestritten, das Buch gilt als das Hauptwerk des Soziologen und Philosophen Habermas. Es ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und hat internationale Beachtung gefunden. Seine Auswirkungen auf die Wissenschaft sind weitreichend: Habermas’ Theorie hat nicht nur die Soziologie und Philosophie maßgeblich beeinflusst, sondern auch andere Wissenschaftszweige, wie die Politikwissenschaften oder die Wissenschaftstheorie.

Die Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns trug entscheidend dazu bei, dass Jürgen Habermas heute als einer der wichtigsten und bekanntesten Philosophen Deutschlands gilt und als Wissenschaftler auch international anerkannt ist. Für seine Arbeiten erhielt er im In- und Ausland zahlreiche Ehrendoktorwürden und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u. a. 2001 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Über den Autor

Jürgen Habermas wird am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren und wächst in Gummersbach in einem konservativ-bürgerlichen Umfeld auf. Als Jugendlicher erlebt er den Zweiten Weltkrieg und das Ende des Nationalsozialismus mit. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelt er früh ein Interesse am Marxismus, beschäftigt sich aber auch mit jüdischer und christlicher Mystik. Von 1949 bis 1954 studiert Habermas Philosophie, Geschichte, Psychologie, Literatur und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn. Nach der Promotion arbeitet er zunächst freiberuflich als Journalist und schreibt u. a. für die FAZ, ehe er 1956 an der Universität Frankfurt Assistent von Theodor W. Adorno wird. Als es jedoch mit Institutsleiter Max Horkheimer zu Differenzen kommt, habilitiert sich Habermas nicht in Frankfurt, sondern 1961 an der Universität Marburg mit der Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zeitgleich tritt er eine Professur in Heidelberg an. Ab 1965 lehrt er in Frankfurt – als Nachfolger von Horkheimer. 1968 erscheint sein einflussreiches Werk Erkenntnis und Interesse. Die Studentenbewegung findet zunächst Habermas’ Unterstützung. Mit der Zeit jedoch wandelt sich seine Einstellung, er kritisiert die Studentenführer als zu dogmatisch und realitätsfern. 1971 verlässt Habermas Frankfurt und wird Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Immer wieder meldet sich Habermas öffentlich zu Wort. So auch 1977, als die RAF Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer tötet und die Philosophie der Frankfurter Schule als geistiger Wegbereiter des Terrorismus kritisiert wird. 1981 wird Habermas’ Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns veröffentlicht. 1983 kehrt er an die Universität Frankfurt zurück und lehrt dort bis zu seiner Emeritierung 1994.

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