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Über die Wahrsagung

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Über die Wahrsagung

Artemis & Winkler,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Können Menschen in die Zukunft sehen? Cicero redet seinem Bruder Quintus den Aberglauben aus.


Literatur­klassiker

  • Religion
  • Römische Antike

Worum es geht

Kampfschrift gegen den Aberglauben

Im alten Rom war die Mantik oder Wahrsagekunst, von Auguren fachkundig ausgeübt, fest in das religiöse und politische Leben integriert. Ciceros Schrift Über die Wahrsagung barg darum einigen Sprengstoff, stellt er doch die meisten damaligen Methoden – von der Deutung des Vogelflugs und des Traums bis zur Beschau von Tierlebern – als unbrauchbar dar. Auch wenn er den Ritus der Wahrsagung für das Funktionieren des öffentlichen Lebens nicht in Abrede stellt, zeugt seine Schrift von Skepsis: Die Mantik erscheint ihm als bloßes Gesellschaftsspiel ohne Erkenntnisnutzen. In der griechischen und römischen Antike wurden mehrere Texte verfasst, die sich mit den Techniken der Wahrsagekunst beschäftigten, aber nur Ciceros Werk hat die Jahrhunderte überdauert. Über die Wahrsagung gibt nicht nur religionshistorisch wertvolle Einblicke in die römischen Riten, sondern erhellt auch die besondere Stellung, die die Auguren in der Republik innehatten. Überdies demonstriert Cicero eindrücklich, wie eine spannend und schlüssig aufgezogene Argumentation auszusehen hat. Kein Wunder, dass die Aufklärer des 18. Jahrhunderts das Werk als Streitschrift gegen den Aberglauben schätzten. Und es ist immer noch aktuell, auch wenn sich die Methoden geändert haben – das heutige Astro-TV würde bei Cicero kaum besser wegkommen.

Take-aways

  • Ciceros Über die Wahrsagung ist ein wichtiges religionsgeschichtliches Dokument.
  • Inhalt: Ciceros Bruder Quintus ist überzeugt, dass sich die Zukunft vorhersagen lässt. Er zählt mehrere natürliche und künstliche Wahrsageformen auf, darunter etwa die Weissagung mithilfe des Vogelflugs. Cicero zeigt in einer systematischen Analyse diverser Wahrsagemethoden, dass sie allesamt ungenügend sind.
  • Der Autor behandelt das Thema in Form eines kontroversen, bisweilen ironischen Dialogs.
  • Während Quintus recht unsystematisch argumentiert, ist der Cicero-Teil von großer Stringenz, garniert mit Witz und Sarkasmus.
  • Obwohl Cicero nicht an die Wahrsagung glaubt, lässt er sie als traditionellen Ritus gelten. Damit nimmt er Rücksicht darauf, dass sie fester Bestandteil der römischen Religion war.
  • Das Buch bildet den mittleren Teil einer Trilogie theologischer Schriften: Dazu gehören auch Über die Natur der Götter und Über das Schicksal.
  • Cicero lebte in unruhigen Zeiten und fiel schließlich einem politisch motivierten Mord zum Opfer.
  • Er verfasste den Dialog vermutlich kurz vor Cäsars Tod in der Hoffnung, wieder auf die politische Bühne zurückzukehren.
  • Im 18. Jahrhundert wurde das Buch als aufklärerische Schrift gegen den Aberglauben interpretiert.
  • Zitat: „Wenn alles durch Schicksalsfügung geschieht, was nützt mir das Wahrsagevermögen?“

Zusammenfassung

Eine lange Tradition

Viele Völker kennen Methoden der Wahrsagung. Schon die alten Ägypter beobachteten zu diesem Zweck die Bewegungen der Sterne am Himmel. Die Chaldäer versuchten anhand der Sterne das Schicksal jedes einzelnen Menschen vorherzusagen. Andere Völker der römischen Provinzen, wie die Kilikier, die Pisider und die Pamphylier, schlossen aus dem Vogelflug auf das Eintreten bestimmter Ereignisse. Die Griechen schließlich verwenden Orakel, um die Zukunft vorauszusagen. Das römische Volk hat sich alle diese Methoden der Wahrsagung zu eigen gemacht. Bereits Romulus, der Gründer Roms, wählte die Lage der Stadt aufgrund von Vogelzeichen, denn er war angeblich ein hervorragender Augur (Vogelschauer, Wahrsager). Fortan befragte man vor jeder politischen Entscheidung und vor jedem Kriegszug einen Augur nach den Auspizien, den Aussichten für die Zukunft. Zudem übernahmen die Römer eine etruskische Methode, die Eingeweideschau, um keinen Weg der Prophetie zu vernachlässigen. Das alles setzt natürlich voraus, dass man an ein gewisses Wahrsagevermögen glaubt. Immerhin behaupteten viele angesehene griechische Philosophen, dass der Mensch die Zukunft unter günstigen Bedingungen voraussehen könne.

Natürliche und künstliche Wahrsagung

Um die Wahrsagung dreht sich auch ein Gespräch zwischen Cicero und seinem Bruder Quintus auf ihrem Landgut bei Tusculum. Quintus unterscheidet zwei Arten von Wahrsagung: die natürliche und die künstliche. Zur natürlichen Form zählt er die Offenbarung der Zukunft durch Träume. Im Schlaf ist die von göttlichen Kräften durchdrungene Seele ungebunden. Sie schwebt aus dem schlaff daliegenden Körper heraus und kann Vergangenes, Gegenwärtiges und selbst Zukünftiges schauen. Manchmal ist der Traum leicht verständlich, manchmal aber bedarf er einer Interpretation durch einen Deuter. So hat Sokrates angeblich seinem Freund Kriton im Gefängnis gesagt, er werde in drei Tagen sterben. In einem Traum habe ihm nämlich eine sehr schöne Dame einen Vers Homers rezitiert: „Der dritte Tag wird dich, glückbringend, nach Phthia versetzen.“

„Wenn die Formen der Wahrsagung, von denen wir Kunde haben und die wir pflegen, in der Wirklichkeit begründet sind, dann gibt es auch Götter; und umgekehrt: Wenn es Götter gibt, gibt es Menschen, die über die Fähigkeit verfügen wahrzusagen.“ (Quintus, S. 15)

Ein anderes Beispiel: Simonides sah einmal einen Toten daliegen; aus Mitleid begrub er ihn. Am folgenden Tag hätte er eine Schiffsreise antreten wollen, doch erschien ihm der Tote im Traum und riet ihm dringend davon ab, an Bord zu gehen. Simonides hörte auf den Rat, und tatsächlich: Das Schiff erlitt Schiffbruch und alle kamen um. Quintus selbst träumte einmal, sein Bruder Cicero sei mit einem Pferd in einen Fluss gestürzt und unter Wasser geraten. Er glaubte ihn schon verloren, als er unverletzt auf dem Pferd das Ufer erklomm. Kurz darauf trat dieses Ereignis tatsächlich ein. Als eine andere natürliche Art der Weissagung nennt Quintus die Besessenheit oder Raserei. Wie bei einem Träumenden wird die Seele eines Menschen von göttlicher Kraft ergriffen, die sich seines Körpers bedient, um etwas kundzutun. So etwa bei den Orakeln, die sich durch göttliche Eingebung äußern, wie die Sibylle von Erythrai.

„Vieles nehmen die Ärzte, vieles die Steuerleute, und auch die Bauern nehmen vieles im Voraus wahr; aber solches Wissen nenne ich in keinem Fall Wahrsagevermögen (...)“ (Quintus, S. 111)

Bei der künstlichen Wahrsagung geht es darum, Zeichen richtig zu deuten. Hier kommen die Auguren, Beschauer und Deuter ins Spiel; sie weissagen durch die Interpretation von Wunderzeichen. Diese zeigen sich im Vogelflug, in Orakeln, in Blitz und Donner, in Losen oder in den Eingeweiden von Opfertieren. Manches davon beruht auf Lehren, die in den Ritualbüchern der Etrusker und in den Auguralbüchern überliefert sind. Die Weissagungen der Orakel deuten die Kundigen mithilfe der sibyllinischen Bücher. Doch viele Wunderzeichen erschließen sich durch eine spontane Deutung. Auf diese Weise ging Kalchas vor: Aus der Anzahl der vorüberfliegenden Spatzen leitete er die Anzahl der Jahre ab, die der Trojanische Krieg dauern würde. Der berühmte Phryger Midas erwachte davon, dass Ameisen ihm seinen Mund mit Weizenkörnern gefüllt hatten. Dies bedeute Reichtum, sagten die Auguren, und tatsächlich häufte Midas ein Vermögen an. Platon schlief einmal als kleines Kind in seiner Wiege, als sich Bienen auf seinem Mund niederließen. Dies wurde als Süßigkeit der Rede gedeutet und so wurde Platons spätere Eloquenz schon früh erkannt.

„Nun ist aber das Wahrsagevermögen, wie unser Nachrechnen gezeigt hat, nicht für alles zuständig (...). Also ist zumindest denkbar, dass es gar kein Wahrsagevermögen gibt!“ (Cicero, S. 145)

Die Natur spielt bei der Wahrsagekunst eine wichtige Rolle, denn in ihr liegen gewisse Regelmäßigkeiten begründet, die den Menschen helfen, zukünftige Ereignisse vorauszuberechnen. Hinter allem aber stehen die Götter, deren Macht die ganze Welt durchdringt.

Zweifel an der Wahrsagekunst

Quintus und Cicero lassen sich in der Bibliothek nieder. Nun ergreift Cicero das Wort. Er bezweifelt, dass es überhaupt ein Wahrsagevermögen gibt. Insbesondere wenn Wahrsagung definiert wird als das Voraussehen von Dingen, die sich zufällig ereignen werden. Gibt es den Zufall, so kann es kein Schicksal geben. Wenn aber Ereignisse vollkommen zufällig auftreten, wie kann man sie dann vorhersagen? Und wenn die Ereignisse im menschlichen Leben vom Schicksal abhängen, nützt die ganze Wahrsagung nichts: Ist jemandem der Tod an einem gewissen Tag bestimmt, so hat er keine Möglichkeit, ihm zu entkommen. Die Vorhersage von unabwendbaren Schicksalsschlägen wäre ebenso sinnlos wie betrüblich.

„Wie sollte es also möglich sein, das vorauszuahnen und vorauszusagen, was planlos geschieht, infolge eines blinden Waltens und der Unbeständigkeit des Zufalls?“ (Cicero, S. 147)

Die Künste der Beschauer haben laut Cicero nichts mit Wahrsagevermögen zu tun. Dennoch soll die Eingeweideschau ruhig weiter betrieben werden – aus Respekt vor dem Staat und der allgemeinen Religiosität. Ihre Wirkung allerdings ist sehr fragwürdig. Woher weiß der Beschauer bei der Untersuchung der Eingeweide von Opfertieren, welche Einschnitte günstige und welche ungünstige Vorzeichen sind? Und günstig oder ungünstig für wen? Für Freund oder Feind? Soll ein Opfertier wirklich anzeigen, ob jemanden Reichtum oder Armut erwartet, so muss es mit dem göttlichen Willen in Verbindung stehen. Der Fragende muss also bei der Auswahl des Tieres in irgendeiner Weise gelenkt worden sein. Doch in Wirklichkeit spielt dabei der Zufall mit. Oft wird, wenn die Eingeweide ungünstig liegen und die Prognose entsprechend ausfällt, ein zweites Tier gebracht.

„Wenn alles durch Schicksalsfügung geschieht, was nützt mir das Wahrsagevermögen?“ (Cicero, S. 151)

Ähnlich fragwürdig sind Blitze als Wunderzeichen. Man nimmt an, sie seien Ermahnungen Jupiters, doch gehen viele von diesen göttlichen Zeichen ins Leere: Sie schlagen auf Bergspitzen ein oder mitten im Meer, wo sie niemand sieht. Blitze sind also keine göttlichen Winke, sondern vielmehr Wetterzeichen, deren Ursprung allerdings noch unbekannt ist. Nur weil etwas außergewöhnlich ist, muss es noch lange nicht übernatürlich sein. Dass beispielsweise eine Mauleselin Junge hat, ist zwar höchst erstaunlich, aber nicht unmöglich, denn es ist bereits passiert. Wir betrachten häufige Ereignisse als normal und staunen über die seltenen. Es gibt aber keinen Grund, anzunehmen, dass sie Wunderzeichen sind, nur weil sie seltener auftreten.

Der fragwürdige Ursprung der Wahrsagekunst

Die Kunst der Beschauer fußt auf einer fragwürdigen historischen Anekdote: Beim Pflügen stieß einst ein Bauer in Tarquinii auf einen Jüngling namens Tages, der aus der Erde emporkam. Erschrocken verfiel der Bauer in ein solches Geschrei, dass alle Dorfbewohner auf seinem Feld zusammenliefen. Da verkündete Tages mit der Weisheit eines alten Mannes die Kunst des Beschauens. So also soll diese Kunstlehre das Tageslicht erblickt haben. Warum verbarg sich dieser ominöse Tages aber unter dem Boden? Wer war er überhaupt? Ein sehr scheuer Gott oder gar ein Mensch, der unterirdisch atmen konnte? Die ganze Geschichte scheint vollkommen unrealistisch.

„Um mit der Kunst der Beschauer anzufangen: Ich trete dafür ein, dass man sie pflegen muss, um des Staates und der allgemeinen Religiosität willen – aber wir sind ja allein; da sollte es möglich sein, der Wahrheit auf den Grund zu gehen (...)“ (Cicero, S. 159)

Die Literatur ist voll von solchen Wunderdingen. Zu den berühmtesten gehören sicherlich die Weissagungen des bereits erwähnten Sehers Kalchas bei Homer. Was war seine Grundlage? Wie schloss er von der Anzahl Sperlinge auf die Anzahl Kriegsjahre? Hätte die Anzahl der Sperlinge nicht auch für Monate oder Tage stehen können? Weshalb überhaupt gewöhnliche Sperlinge? Häufig werden unscheinbare Begebenheiten im Leben wichtiger Persönlichkeiten irrtümlich als Zeichen interpretiert. So handelt es sich bei den Ameisen, die dem Jungen Midas Weizenkörner in den Mund füllten, und bei den Bienen, die sich auf Platons Lippen setzten, lediglich um schöne Interpretationen, keinesfalls aber um echte Wunder. Die Auspizien, die man vor wichtigen Entscheidungen einholt, um den Willen der Götter zu ergründen, sind ebenso wenig Wunderzeichen. Und die Vogelschau lässt sich jederzeit wiederholen, um ein günstigeres Ergebnis zu erhalten; ihre Aussagekraft ist damit gleich null.

Astrologie ist Unsinn

Man sagt, die Konstellation der Sterne zur Geburtsstunde eines Menschen bestimme dessen Schicksal. Demnach müssten alle, die am gleichen Tag geboren sind, das gleiche Schicksal haben. Das ist aber unsinnig, denn die Sterne gehen nicht überall zur gleichen Zeit auf und unter. Zudem befinden sich Kinder, die zur selben Zeit geboren sind, in ganz verschiedenen Lebensumständen, verfügen über unterschiedliche Eigenschaften und ihre Eltern über unterschiedliche finanzielle Mittel. Von einigen weiß man, dass sie angeborene Gebrechen mit Willenskraft und mithilfe der Medizin überwunden haben. Dies zeigt, dass es weder ein angeborenes Schicksal noch eine gleiche Lebensführung für alle zu einer bestimmten Stunde Geborenen geben kann.

Orakelsprüche sind nicht zufällig rätselhaft

Wie kann jemand im Zustand der Raserei zuverlässig wahrsagen? Welche Eigenschaften hat er dann, die ihm normalerweise fehlen? In Raserei gemachte Voraussagen sind keine göttlichen Botschaften, sondern zufällig wahr oder nicht wahr. Ein vor Angst zitternder Ruderer aus der Flotte des Coponius sagte voraus, dass dessen Truppen in Thessalien Cäsars Heer gegenüberstehen und es zu einer erbitterten Schlacht kommen würde. So geschah es dann auch, doch ist dies kein Beweis für die Wahrsagekunst des Ruderers, denn er formulierte in seiner übergroßen Angst nur ein Ereignis, das alle Männer kommen sahen und insgeheim fürchteten. Die Voraussagungen der Orakel sind nicht das Resultat einer göttlichen Besessenheit, sondern meist dichterischen Ursprungs. Die Verse der Sibylle sind sogar so abgefasst, dass die Anfangsbuchstaben für sich ein sinnvolles Wort bilden. Das lässt eher auf sorgfältige künstlerische Arbeit schließen als auf Ekstase und Verzückung. Natürlich sind Orakelsprüche gelegentlich zufällig wahr. Oft aber sind sie so wirr und düster, dass es sogar eines Deuters bedarf, dessen Deutungen dann wiederum zutreffen oder auch nicht.

Wir träumen die Vergangenheit, nicht die Zukunft

Auch Träume stellen sich als zufällig wahr oder falsch heraus. Der Traum jenes Mannes, der einen Toten bestattet hatte, woraufhin ihn dieser warnte, ein Schiff zu besteigen, und ihn damit vor dem Untergang rettete, gehört zu den simplen Träumen, die ohne Deuter zu verstehen sind. Genauso wie Quintus’ Traum, in dem er Cicero auf einem Pferd aus dem Fluss reiten sah. Diese Träume stellten sich als wahr heraus, aber genauso gut hätten die Ereignisse nicht eintreffen können. Die Seele kann sich Bilder vorstellen, und zwar während des Schlafes nicht besser als im Wachzustand. Im Gegenteil: Mit Unterstützung der Sinne und Körperteile steigt die Vorstellungskraft der Seele. Wieso sollten uns die Götter die Zukunft gerade im Schlaf sehen lassen? Die Übereinstimmung eines Traums mit der Realität ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Hinweis auf die Lebensumstände des Fragenden. Träume lassen sich auf einander ganz entgegengesetzte Weisen deuten. So träumte eine Frau mit Kinderwunsch, dass ihr Schoß versiegelt sei. Ein Deuter erklärte ihr, sie könne keine Kinder bekommen, ein anderer dagegen weissagte, sie sei bereits schwanger und ihr Leib sei versiegelt, damit nichts herausfalle.

„Folgendermaßen pflegen die Stoiker zu schließen, wenn sie es besonders eilig haben: ‚Wenn es Götter gibt, gibt es Wahrsagung; es gibt aber Götter, also gibt es Wahrsagung.‘ Viel wahrscheinlicher wäre: ‚Es gibt aber keine Wahrsagung; also gibt es keine Götter.‘“ (Cicero, S. 171)

Träume kommen weder von den Göttern, noch ist Magie ihre Grundlage. Sie beruhen auf Bildern, die man sich im Wachzustand gemacht hat. Das bedeutet, dass mithilfe von Träumen nichts vorausgesehen werden kann. Und tatsächlich: Wie oft vergisst man einen nächtlichen Traum oder tut ihn als Humbug ab? Das zeigt doch, dass es sich dabei um nichts Göttliches handeln kann. Wäre es anders, müssten alle Träume klare Botschaften enthalten, die ohne einen Traumdeuter zu erkennen wären. Apropos Deuter: Welche Fähigkeiten benötigt denn ein solcher? Genügt normale Intelligenz oder muss er über eine spezielle Begabung verfügen? Oft stammen die zutreffendsten Deutungen ganz einfach von schlauen Leuten, die mit den jeweiligen Umständen vertraut sind. Einen richtigen Wahrsager gibt es vermutlich überhaupt nicht – genauso wenig, wie es echte Wahrsagung gibt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Über die Wahrsagung gliedert sich in zwei Bücher und ist in Form eines Dialogs abgefasst – wobei es aber keine schnelle Rede und Gegenrede gibt; vielmehr legen die beiden Sprecher ihre Auffassungen in langen Monologen dar. Beide Bücher werden mit kurzen Einführungen eingeleitet. Der eine Sprecher trägt Ciceros Namen, der andere wird als dessen Bruder Quintus ausgegeben. Ob die beiden Sprecher tatsächlich die Standpunkte der realen Personen vertreten, ist ungeklärt. Vermutlich hat der Autor sie nur aus rhetorischen Gründen gewählt. Quintus übernimmt die Rolle des Fürsprechers der Wahrsagekunst und führt im ersten Buch zahlreiche Argumente und Beispiele zu ihren Gunsten auf. Diese werden in der Gegenargumentation Ciceros im zweiten Buch zerpflückt und als Aberglaube enttarnt. Auffallend ist, dass es bei Quintus’ Beweisführung drunter und drüber geht, wohingegen bei Cicero systematisch und geordnet argumentiert wird. Quintus häuft immer mehr Beispiele aufeinander und springt zwischen den von ihm selbst aufgestellten Kategorien künstlicher und natürlicher Wahrsagung hin und her. Cicero hingegen argumentiert stringent und würzt seine Ausführungen mit Witz und einer gehörigen Portion Sarkasmus. Es gibt Stimmen, die behaupten, der Autor habe bei der Abfassung der Schrift unter Zeitdruck gestanden; wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Nebeneinander von unterschiedlichen Argumentationsstilen ganz seiner Absicht entsprach.

Interpretationsansätze

  • Die angebliche Fähigkeit zum Blick in die Zukunft wurde von den stoischen Philosophen, auf deren Schriften Cicero oft zurückgriff, als Gottesbeweis betrachtet: Sie waren der Meinung, dass der Mensch die Methoden der Weissagung von den Göttern erlernt habe, worin sich deren Fürsorge beweise. Allein die Möglichkeit der Weissagung bedeute, dass der chaotische Lauf der Dinge von den Göttern in geordnete Bahnen gelenkt werde – die sich dann entsprechend vorhersagen ließen.
  • Indem Cicero der Wahrsagung jede Glaubwürdigkeit abspricht, wendet er sich nicht nur gegen die Ansichten der Stoiker, sondern auch gegen einen naiven Gottesglauben überhaupt. Bereits im Vorgängerwerk Über das Wesen der Götter wird deren Existenz in Zweifel gezogen. Als Atheisten kann man Cicero dennoch nicht bezeichnen. Er plädiert für eine skeptische, aber grundsätzlich aufgeschlossene Haltung, die auf Argumenten beruht.
  • Ciceros Kritik ist keine schroffe Ablehnung der Wahrsagekunst. Der Grund: In Rom war die Mantik wesentlicher Bestandteil des religiösen Lebens und konnte nicht einfach von diesem getrennt werden. Die Römer bemühten sich um eine „pax deorum“, einen Frieden mit den Göttern. Jeder Donnerschlag und jedes Anschwellen der Ströme wurde als Wink von oben interpretiert. Dies allzu stark ins Lächerliche zu ziehen, hätte einem Autor große Unannehmlichkeiten einbringen können.
  • Ciceros Gegenrede wirkt resigniert: Er hält die Weissagung für Humbug, sieht aber keinen Ersatz für sie, wenn die politische Ordnung nicht gefährdet werden soll. Ciceros Ärger über den Aberglauben dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass die Wahrsagung, die fest in der Hand der römischen Oberschicht war, bewusst zur Lenkung der Politik missbraucht wurde.

Historischer Hintergrund

Die Bewährungsproben der römischen Republik

450 Jahre nach ihrer Gründung näherte sich die römische Republik mit dem Aufstieg von Julius Cäsar ihrem Ende. Die Krise zeigte sich vor allem darin, dass Feldherren statt Politiker den Ton angaben und damit die republikanischen Organe empfindlich schwächten. Im Jahr 60 v. Chr. schlossen sich Cäsar, Gnaeus Pompeius und Marcus Licinius Crassus zum ersten Triumvirat zusammen. Dabei handelte es sich um ein informelles Bündnis, das den drei Feldherren Einfluss sichern sollte – und zwar am Senat Roms vorbei. Der Versuch, auch Cicero auf ihre Seite zu ziehen, scheiterte: Der begnadete Redner sah die Republik in Gefahr. Nach Crassus’ Tod im Jahr 53 v. Chr. wurden aus den beiden übrigen Verbündeten Rivalen: Der Emporkömmling Cäsar, der inzwischen ganz Gallien unterworfen hatte, war Pompeius nicht geheuer. 49 v. Chr. kam es zum offenen Kampf und Bürgerkrieg. Pompeius wusste die konservativen Kreise des Senats hinter sich, was ihm aber wenig half: Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges wurde er von der Armee Cäsars in Griechenland geschlagen und kam in Ägypten ums Leben. Cäsar kehrte nach mehreren Feldzügen und der berühmten Liaison mit Kleopatra nach Rom zurück und ließ sich zum Diktator auf Lebenszeit ernennen. Man munkelte, er würde gar nach der Königswürde streben. Darum bildete sich im Senat eine Verschwörung unter der Führung von Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus. Wie Plutarch berichtet, soll Cäsar wenige Tage vor seiner Ermordung von dem Augur Titus Vestricius Spurinna gewarnt worden sein: „Hüte dich vor den Iden des März!“ Genau an diesem Datum, dem 15. Tag des römischen Monats Martius im Jahr 44 v. Chr., fielen die Verschwörer in einer Senatssitzung über Cäsar her und töteten ihn mit 23 Dolchstichen. Cicero war Zeuge der Tat und bezeichnete sie im Nachhinein als gerechten Tyrannenmord. Er hegte die Hoffnung, dass sich die Republik jetzt festigen würde, was sich aber spätestens mit der Machtübernahme durch Octavian (Augustus) als Irrtum erwies.

Entstehung

„Welchen größeren oder besseren Dienst können wir dem Staat erweisen, als wenn wir die Jugend unterrichten und bilden, zumal bei dem sittlichen Zustand unserer Zeit, da sie derart auf die abschüssige Bahn geraten ist“, schreibt Cicero zu Beginn des zweiten Buches von Über die Wahrsagung. Seine späten philosophischen Schriften sollten genau diesen Plan erfüllen. Cicero hatte sich vorgenommen, den gesamten Bereich der griechischen Philosophie in lateinischer Sprache darzustellen. Hierzu gehörten auch drei theologische Werke: Vom Wesen der Götter, Über das Schicksal und Über die Wahrsagung. Letzteres dürfte größtenteils vor dem Frühjahr 44 v. Chr. verfasst worden sein. Einigen Stellen des Werks ist anzumerken, dass Cicero noch unter seiner erzwungenen Abstinenz von der politischen Bühne litt. Im Bürgerkrieg hatte er sich auf die Seite von Pompeius geschlagen, weshalb ihm nach Cäsars Sieg praktisch jede Möglichkeit versagt blieb, am politischen Leben teilzunehmen. Obwohl Cäsar ihn 47 v. Chr. begnadigte, freute sich Cicero über dessen Ermordung: Vermutlich erhoffte er sich wieder mehr politischen Einfluss. Wahrscheinlich ist, dass Teile von Über die Wahrsagung nach dem Tyrannenmord entstanden oder zumindest danach von Cicero bearbeitet wurden. Inhaltlich und stilistisch orientiert sich das Werk an den griechischen Philosophen Poseidonios und Karneades. Der Stoiker Poseidonios lieferte die inhaltliche Grundlage für Quintus’ Rede im ersten Teil. Karneades stand dem Stoizismus kritisch gegenüber und war dafür bekannt, alle philosophischen Themen von zwei Seiten zu beleuchten – in einer dialektischen Rede und Gegenrede, wie es Cicero in seiner Schrift tut.

Wirkungsgeschichte

Nicht zuletzt durch Ciceros Schriften ist das erste Jahrhundert vor Christus die uns am besten bekannte Epoche der Antike. Cicero, der sich selbst vor allem als Politiker sah, gilt als Meister der lateinischen Sprache und Vermittler der griechischen Philosophie. Über die Wahrsagung ist das einzige Werk zum Thema aus jener Zeit, das vollständig erhalten ist. Seine religionsgeschichtliche Bedeutung ist deshalb unschätzbar. Zeugnisse über die Nachwirkung der Schrift lassen sich vor allem im 18. Jahrhundert finden. Damals wurde das Werk als Kampfschrift der Aufklärer, als Mahnschrift gegen den Aberglauben und als Verteidigung der Gedankenfreiheit gefeiert. Voltaire lobte Cicero überschwänglich und steuerte sogar eine Anekdote zu seinem Ruhm bei: So soll der Kaiser von China entsetzt über den finsteren Aberglauben gewesen sein, der im Römischen Reich grassierte. Erst Ciceros Schrift habe ihn mit Rom versöhnt, so Voltaire in einer französischen Cicero-Ausgabe. Auch heute sind Ciceros Argumente keineswegs überholt. Aufgrund der zunehmenden Säkularisierung feiern mystische Formen der Zukunftsdeutung eine regelrechte Renaissance. Aktuelle Angebote reichen vom Handleser auf dem Jahrmarkt über Astro-TV bis hin zu Wahrsagesitzungen im Internet. Ein besonders robustes Überbleibsel der Mantik ist die Astrologie, die sich, von den Babyloniern begründet, ungebrochener Beliebtheit erfreut.

Über den Autor

Marcus Tullius Cicero wird am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum geboren. Sein Vater gehört zur zweithöchsten römischen Gesellschaftsschicht. Verbindungen zu Angehörigen der Senatsaristokratie ermöglichen Cicero eine gute Ausbildung. Er studiert Recht, Rhetorik, Literatur und Philosophie in Rom, Griechenland und Kleinasien. Im Jahr 77 v. Chr. kehrt er nach Rom zurück und beginnt seine Laufbahn als Rechtsanwalt und Politiker. Es folgt eine Blitzkarriere. Bereits im Jahr 63 v. Chr. bekleidet Cicero das Amt des Konsuls. Sein Wahlkampfgegner Catilina lanciert eine Verschwörung, die allerdings im Ansatz erstickt wird. Doch Ciceros zahlreiche Gegner erwirken 58 v. Chr. seine Verbannung aus Rom: Er sei schuld an der Beseitigung der Catilinarier, die ohne Verhandlung getötet wurden. 57 v. Chr. darf er zurückkehren. In den folgenden fünf Jahren entstehen seine wichtigsten politischen und philosophischen Schriften, darunter De oratore (Über den Redner, 55 v. Chr.) und De re publica (Vom Staat, 51 v. Chr.). Cicero setzt zunächst Hoffnungen auf den intelligenten Cäsar, wendet sich aber von ihm ab, nachdem dieser mit Pompeius und Crassus ein Triumvirat eingeht. Im Bürgerkrieg schließt Cicero sich Pompeius an. An der Verschwörung gegen Cäsar ist er nicht beteiligt, doch äußert er seine Freude über dessen Tod 44 v. Chr. Als Cäsars Mitkonsul Marcus Antonius die Nachfolge des Alleinherrschers anstrebt, tritt Cicero ihm mit seinen 14 Philippischen Reden entgegen und gewinnt im Senat wieder hohes Ansehen. Er bemüht sich erfolgreich, Octavian zum Krieg gegen Antonius zu bewegen. Octavian siegt zunächst, schließt sich danach aber mit dem wieder erstarkten Antonius und Marcus Lepidus zum zweiten Triumvirat zusammen. Die Triumvirn verfolgen ihre politischen Gegner, und Cicero steht ganz oben auf Antonius’ schwarzer Liste. Am 7. Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht ermordet, sein zerstückelter Leichnam wird auf der Redebühne des Forums zur Schau gestellt.

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