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Wahrheit und Methode

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Wahrheit und Methode

Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik

Mohr Siebeck,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Ein philosophisches Standardwerk des 20. Jahrhunderts: Gadamers Überlegungen zur Hermeneutik, der Wissenschaft vom Verstehen.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Von den Wurzeln des Verstehens

Die Geschwindigkeit, mit der Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode nach seiner Veröffentlichung 1960 zum Standardwerk avancierte, zeigt, wie groß zu diesem Zeitpunkt in philosophischen Kreisen das Bedürfnis war, die Grundzüge der Hermeneutik umfassend darzustellen. Gadamers sorgfältige Nachzeichnung der Entwicklung der Hermeneutik von ihren Wurzeln bei Aristoteles bis hin zu Martin Heidegger legte ein Fundament, auf das sich die nachfolgenden Forscher (u. a. Jürgen Habermas) unmittelbar bezogen und weiterhin beziehen. Mit der gleichen Gründlichkeit ordnet Gadamer in Wahrheit und Methode wesentliche hermeneutische Grundbegriffe wie Verstehen, Bildung, Erlebnis oder Erfahrung. Das Werk ist keine leichte Lektüre und setzt sehr viel geisteswissenschaftliches Vorwissen voraus, ist aber nach wie vor ein Meilenstein der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Take-aways

  • Mit seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode gilt Hans-Georg Gadamer als wichtigster deutscher Vertreter der philosophischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert.
  • Hermeneutik ist die Wissenschaft des Verstehens, der Auslegung und Deutung, vor allem von Kunstwerken, aber auch von Geschichte und von Sprache allgemein.
  • Inhalt: Gadamer interpretiert die hermeneutischen Lehren seiner Vorläufer, von Aristoteles bis Heidegger, und legt seine eigene Auffassung darüber dar, was Hermeneutik zu leisten imstande ist und was nicht. Jedes Verstehen beruht auf der Sprachlichkeit des menschlichen Seins; die Hermeneutik wird so zu einer universalen Wissenschaft, die auf fast alle Aspekte des Lebens angewendet werden kann.
  • Eine zentrale Rolle spielt der hermeneutische Zirkel: Man hat ein gewisses Vorwissen, z. B. von einem Text. Dieses erweitert und verändert man durch die Beschäftigung mit dem Objekt; anschließend geht der Verstehensprozess von vorne los.
  • Gadamers Lehrer war Martin Heidegger, durch dessen Vorlesungen er zur Hermeneutik hingeführt wurde.
  • Die Erschütterung, die Heideggers Vorträge 1923 bei Gadamer auslösten, war so stark, dass er sich von seinen früheren Lehrern Nicolai Hartmann und Paul Natorp abwandte und Philologie studierte.
  • Die Verbindung aus philosophischem und philologischem Wissen schuf die Grundlage für die spätere Entwicklung seiner philosophischen Hermeneutik.
  • Einem breiteren Publikum wurde Gadamer durch seine Debatten mit dem Philosophen Jürgen Habermas Ende der 60er Jahre bekannt.
  • Gadamer wurde 1900 geboren und starb in Heidelberg im biblischen Alter von 102 Jahren.
  • Zitat: „Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber.“

Zusammenfassung

Bildung und Geschmack

Im 19. Jahrhundert wurden die Geisteswissenschaften als Analogie zu den Naturwissenschaften verstanden. Nach der Theorie, die der Philosoph John Stuart Mill in seinem System der deduktiven und induktiven Logik entwickelt, sind die Geisteswissenschaften als Erfahrungswissenschaften der induktiven Logik (die von Einzelfällen ausgeht und zu allgemeinen Regeln gelangt) ebenso verpflichtet wie die Naturwissenschaften. Dass sich die Geisteswissenschaften in ihrem Selbstverständnis den Naturwissenschaften keinesfalls unterlegen fühlen, liegt insbesondere an ihrem Anspruch, die eigentlichen „Sachwalter des Humanismus“ zu sein. Hierbei spielt der Begriff der Bildung eine übergeordnete Rolle. Bildung ist, wie bereits Hegel erkannt hat, die Voraussetzung des Philosophierens überhaupt. Eng verbunden mit dem Bildungsbegriff sind Bezeichnungen wie „Gedächtnis“ oder „Takt“ im Sinne von Feingefühl. Für beides ist Bildung eine fundamentale Voraussetzung. Der Begriff der Bildung hat sogar den Charakter eines Sinns, und zwar eines allgemeinen und gemeinschaftlichen Sinns, der über die beschränkten natürlichen Sinne (Gesichtssinn usw.) hinausgeht.

„Die logische Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften, die im 19. Jahrhundert ihre tatsächliche Ausbildung begleitet, ist ganz von dem Vorbild der Naturwissenschaften beherrscht.“ (S. 9)

Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Begriff des „sensus communis“ (Gemeinschaftssinn), der die sozialen Aspekte der Bildung kennzeichnet. Mit dem Begriff des Gemeinschaftssinns hängt ein weiterer, für die Bedeutung der humanistischen Tradition zentraler Terminus eng zusammen: die Urteilskraft. Durch die Urteilskraft, durch den gesunden Menschenverstand unterscheidet sich ein Dummkopf von einem klugen Menschen. Urteilskraft kann nicht erlernt werden, sie vermag sich höchstens zu entwickeln. Abhängig vom grundsätzlichen Urteilsvermögen ist auch der Geschmack. „Guter Geschmack“ war ursprünglich eher ein moralischer als ein ästhetischer Begriff und bezeichnete in erster Linie eine Erkenntnisweise.

Das ästhetische Erlebnis

Kant setzte die Begriffe „Geschmack“ und „Genie“ in Beziehung zueinander. Den Begriff des Genies engte er auf die Kunst ein; nach Kant kann beispielsweise ein Erfinder kein wirkliches Genie sein. Diese Beschränkung hat sich jedoch weder begrifflich noch inhaltlich durchsetzen können. Vielmehr ist der Ausdruck „Genie“ im 19. Jahrhundert zu einem universellen Begriff geworden. Ein weiterer zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist „Erlebnis“. Hierin verdichtet sich eine besondere Erfahrung des Lebens. Das ästhetische Erlebnis ist nicht nur eine Art von Erlebnis neben anderen: Es ist die Erfahrung eines Sinnganzen und geht über das Erleben des Vereinzelten hinaus. Die konsequente Verbindung aus ästhetischem Kunstgenuss und einem allgemeinen Erleben ist die so genannte „Erlebniskunst“, also eine Kunst, die das Erleben aus sich heraus in den Vordergrund stellt.

„Guter Geschmack ist sich seines Urteils stets sicher, d. h. er ist seinem Wesen nach sicherer Geschmack, ein Annehmen und Verwerfen, das kein Schwanken, Schielen nach dem Anderen und kein Suchen nach Gründen kennt.“ (S. 42)

Der Begriff der Ästhetik birgt einige Schwierigkeiten, zumal wenn versucht wird, den Weg in Richtung einer reinen, abstrakten Ästhetik einzuschlagen. An diesem Punkt nämlich droht sich die Abstraktion selbst aufzuheben. Man muss verstehen, dass es keine reine, abstrakte Wahrnehmung gibt, sondern nur eine Wahrnehmung des Wirklichen. Kunst ist weder zeitlos, noch präsentiert sie sich lediglich dem reinen ästhetischen Bewusstsein: Sie ist vielmehr Bestandteil eines geschichtlich verankerten Geistes. Die ästhetische Erfahrung ist eine Art, die Welt zu verstehen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Was aber bedeutet eigentlich Wahrheit in den Geisteswissenschaften?

Die Seinsweise von Kunstwerken

Um dieser Wahrheit auf die Spur zu kommen, kann man sich ihr durch den Begriff des Spiels nähern. Die Kunst hat ihren Ursprung im Spiel. Wenn das Spiel seine vollendete Form annimmt, nämlich die der Kunst, ist das eine „Verwandlung ins Gebilde“. Dabei handelt es sich weder um Zauberei noch um Verzauberung, sondern um eine Verwandlung ins Wahre. Diese ist mit Wiedererkenntnis verbunden, wobei hier aber mehr erkannt wird als nur das Bekannte. Alles Kunstwerk ist letztendlich Spiel, d. h. sein Wesen ist nicht ablösbar von der Darstellung, in der die Einheit und Einzigartigkeit eines Kunstgebildes zum Ausdruck kommt.

„Das Pantheon der Kunst ist nicht eine zeitlose Gegenwärtigkeit, die sich dem reinen ästhetischen Bewusstsein darstellt, sondern die Tat eines geschichtlich sich sammelnden und versammelnden Geistes.“ (S. 102)

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des ästhetischen Spiels ist der Zuschauer, auf den die Verwandlung ins Gebilde eine bestimmte Wirkung ausübt. Im Fall der Tragödie sind es nach der berühmten Theorie des Aristoteles das Jammervolle und das Schauerliche, die auf den Zuschauer wirken. Dies betrifft auch Kunstwerke aus anderen dynamischen Künsten wie Dichtung oder Musik. Und wie verhält es sich mit den statischen Künsten, also mit Bildern, Statuen, Bauwerken? Auch hier ist die Seinsweise des Kunstwerks Darstellung. Die Wirklichkeit eines Bildes bestimmt sich aus dem Verhältnis zwischen Urbild und Abbild. Das Bild repräsentiert. Dazu treten die Aspekte der Okkasionalität (Bezug zu einem Anlass) und des Dekorativen hinzu.

„(...) das Kunstwerk selbst ist es, was sich unter je veränderten Bedingungen anders darbietet. Der Betrachter von heute sieht nicht nur anders, er sieht auch anderes.“ (S. 153)

Im Gegensatz zu einem Bild weist ein Bauwerk gleich doppelt über sich hinaus: durch den Zweck, den es erfüllt, ebenso wie durch seine Lage, durch den räumlichen Kontext, in den es eingebunden ist. Die Literatur weist ähnliche ontologische Aspekte auf, auch sie ist der Darstellung nicht entbunden. Die Lektüre eines Buchs ist ein Geschehen, in dem sein Inhalt zur Darstellung kommt. Dies ist aufseiten des Lesers ein Verstehensprozess – das Kerngebiet der Hermeneutik.

Spielarten der Hermeneutik

Die Geschichte der Hermeneutik muss neu akzentuiert werden. Die Vollendung dieser Wissenschaft kann heute nicht mehr darin gesucht werden, dass sich das Verstehen von dogmatischer Voreingenommenheit befreit. Verstehen ist in erster Linie ein gegenseitiger Akt. Eine besondere Relevanz kommt diesem Verstehen (und mit ihm der Hermeneutik) erst dann zu, wenn es gestört ist.

„Eben das aber ist der Anspruch der philologischen Hermeneutik, dass der Sinn eines Textes aus ihm selbst verstanden werden kann. Die Grundlage der Historik ist also die Hermeneutik.“ (S. 203)

Die Hermeneutik hat im Lauf ihrer Geschichte verschiedene Wege eingeschlagen. Da ist zunächst der Weg der Auslegekunst oder, so bei dem Philosophen Schleiermacher, der Entwurf einer „universellen Hermeneutik“. Von Schleiermacher stammt die Formel, es gelte, „einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat“. Der Anspruch der philologischen Hermeneutik ist, dass der Text aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Des Weiteren gibt es eine historische Hermeneutik als Grundlage der Historik. Die von den Historikern verwendeten Begriffe – beispielsweise „Kraft“ oder „Macht“ – werden ihr zufolge in der Absicht gebraucht, das Wesen des geschichtlichen Seins sichtbar zu machen.

„Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber.“ (S. 264)

Die Hermeneutik teilte sich also in eine immanente und eine historische. Der Philosoph Wilhelm Dilthey, dem eine entscheidende Rolle bei der Weiterentwicklung der Hermeneutik zukam, versuchte diese beiden Eckpole miteinander zu vereinen. Aber auch Dilthey blieb letztlich dort stehen, wo er, ähnlich wie Hegel, dem geschichtlichen Geist eine zentrale Funktion im geschichtlichen Ablauf zuwies. Für Dilthey ist der Zusammenhang von Leben und Wissen eine ursprüngliche Gegebenheit. Aus der Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Verstehens ergibt sich für ihn die Gleichrangigkeit der Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften. Insofern kann die geschichtliche Vergangenheit von einem verstehenden Individuum durchaus entziffert werden.

„Es gilt, (...) das Moment der Tradition im historischen Verhalten zu erkennen und auf seine hermeneutische Produktivität zu befragen.“ (S. 287)

Indem sich Martin Heidegger später der Seinsfrage auf eine ganz andere Weise näherte, stellte er auch die Probleme der Hermeneutik in einen anderen Zusammenhang. Das Verstehen wird bei Heidegger zum ursprünglichen Seinscharakter des menschlichen Lebens selbst. Denkt man hier konsequent weiter, dann wird klar, dass aus dem Verstehen am Ende ein Sich-Verstehen im Sinne eines Sich-Auskennens wird.

Die grundsätzliche Vorurteilshaftigkeit des Verstehens

Der aufklärerische Ansatz, ein Verstehen zu erreichen, das rein und frei von Vorurteilen ist, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Vorurteile des Einzelnen sind die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins – weit mehr als seine rationalen Urteile. Die Vorurteile, oder auch: das Vorverständnis, sind die Bedingung des Verstehens schlechthin. Ähnliches gilt für Autoritäten und für die Tradition; beides stellt keineswegs eine Belastung, sondern eine Bereicherung im Prozess des Verstehens dar. Dies ist es nun auch, was die Geisteswissenschaften wesentlich von den Naturwissenschaften unterscheidet: Während diese sich ganz und gar ihrem jeweiligen Forschungsgegenstand widmen und ihre eigene Geschichte kaum reflektieren, leben die Geisteswissenschaften von der ständigen Auseinandersetzung mit derselben.

Der zeitliche Abstand

Wer das Verstehen verstehen will, muss begreifen, dass der zeitliche Abstand, den man zu dem zu verstehenden Werk oder Ereignis hat, kein Abgrund ist, sondern eine produktive Quelle. Wer etwas aus zeitlicher Distanz betrachtet, hat viel mehr Möglichkeiten, es zu begreifen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Grundlagen, die die aristotelische Ethik für die Hermeneutik gelegt hat. So unterscheidet Aristoteles das „Sich-Wissen“ des sittlichen Bewusstseins vom technischen und theoretischen Wissen. Außerdem stellt er fest, dass es bei allen Unterschieden zwischen einzelnen Fällen (beispielsweise in der Rechtsprechung) eine gemeinsame „Natur der Sache“ gebe. Die Jurisprudenz – nicht weit entfernt von jenem sittlichen Sich-Wissen – ist denn auch kein hermeneutischer Sonderfall. Gerade sie ist in der Lage, der Hermeneutik ihre gesamte thematische Breite wiederzugeben. Bei einem Historiker ist es hingegen grundsätzlich so, dass er Texte in einem anderen Sinn interpretiert, als diese von sich aus einfordern. Er wird immer versuchen, ihrem eigentlichen, fundamentalen, nicht offensichtlichen Sinn auf die Spur zu kommen. Insofern ist sein Verhältnis zum Philologen naturgemäß von Spannung geprägt, denn dieser interpretiert einen Text immer um seiner selbst willen.

Erfahrung und Frage

Von entscheidender Bedeutung für die Hermeneutik ist der Begriff der Erfahrung, denn ein Verstehensprozess unterliegt der Struktur der Erfahrung. Die eigentliche Erfahrung ist immer eine negative, insofern als durch sie bestimmte für typisch gehaltene Formen korrigiert werden. Diese Negativität der Erfahrung hat also einen produktiven Sinn. Erfahrung selbst kann keine Wissenschaft sein, sie ist eher ein Leiden und Neubestimmen.

„Genau das ist es, was wir für die Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins festhalten müssen: Es hat die Struktur der Erfahrung.“ (S. 352)

In jeder Erfahrung liegt eine Frage verborgen: Ohne die Aktivität der Frage ist Erfahrung unmöglich. Auch jeder Einfall hat die Struktur einer Frage. Nur wer die Kunst beherrscht, gute Fragen zu stellen, kann sich gegen die Diktatur vorherrschender Meinungen durchsetzen. Letztlich führt das zu der Folgerung, dass man einen Text nur versteht, wenn man die darin offengelegte Frage verstanden hat. Wer verstehen will, muss hinter das Gesagte zurückgehen. Für das historische Bewusstsein bedeutet das, dass es stets über die Rekonstruktion hinausgehen muss. Verstehen ist mehr als das Nachvollziehen einer fremden Meinung.

Die Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung

Das wesentliche Mittel aller hermeneutischen Erfahrung ist die Sprache bzw. das Gespräch. Sprache ist das universale Medium, in dem sich das Verstehen vollzieht. Verstehen ist dabei mit der Auslegung des Gesagten oder Geschriebenen identisch. Eine Auslegung an sich kann es nicht geben, denn in jeder Auslegung geht es um den Text selbst; und einen Text zu verstehen, heißt immer, ihn auf sich selbst anzuwenden. Es fragt sich, ob der Begriff der Sprache in der modernen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie der komplexen Sachlage gerecht wird. Die Sprachlichkeit ist so innig mit dem Denken verwoben, dass das eine vom anderen kaum zu trennen ist. Sprachliche Form und überlieferter Inhalt lassen sich in der Hermeneutik nicht gesondert betrachten. Insofern gewinnt man auch nicht dadurch eine neue Weltsicht, dass man eine Sprache lernt, sondern indem man sie anwendet. Die Sprache ist ihrem Wesen nach Gespräch. Erst durch die Verständigung bildet sie ihre Wirklichkeit. Ein wichtiger Aspekt der Hermeneutik ist die Auffassung, dass die Sprache eine Mitte ist, in der das Ich und die Welt zusammenfinden bzw. sich in ihrem ursprünglichen Einssein wiederfinden.

Wahrheit und Methode

Das Verfügen über eine wissenschaftliche Methode verbürgt noch keinen Anspruch auf Wahrheit. Das gilt insbesondere für die Geisteswissenschaften, die sich dadurch auszeichnen, dass in ihnen das Sein des Erkennenden mit in die Erkenntnis einfließt – was zugleich ihre besondere humane Bedeutung ausmacht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Wahrheit und Methode ist in drei Teile gegliedert, die wiederum aus Kapiteln und Unterkapiteln bestehen. Im ersten Teil versucht Gadamer, die Wahrheitsfrage mithilfe der Erfahrung der Kunst zu klären; im zweiten Teil wird die Frage auf das Verständnis der Geisteswissenschaften insgesamt ausgeweitet; im dritten Teil schließlich vollzieht Gadamer die Wendung ins Philosophisch-Ontologische, wobei ihm die Sprache als Leitfaden dient. Für den philosophischen Laien sind besonders die ersten beiden Teile schwer verständlich. Das hat weniger mit dem Stil Gadamers zu tun, der über weite Strecken nüchtern und verständlich ist und bei aller Breite und Komplexität des Themas immer wieder die wesentlichen Aussagen auf den Punkt bringt. Es liegt vielmehr an der Einbettung der Hermeneutik in den historisch-philosophischen Kontext, der von Aristoteles über Kant und Hegel bis hin zu Husserl und Heidegger reicht (ganz zu schweigen von zahlreichen anderen, weniger bekannten Autoren). Dabei wird eine Vielzahl von Bezügen hergestellt, die nicht nur ein fundiertes Verständnis philosophischer Methodik, sondern auch grundsätzliches Wissen über die zitierten Philosophen und ihre Lehren voraussetzen.

Interpretationsansätze

  • Die Hermeneutik ist nach Gadamer keine Theorie oder Methode, sondern das Phänomen des Verstehens und die Auslegung des Verstandenen.
  • In seinen „Grundzügen einer philosophischen Hermeneutik“ (so der Untertitel von Wahrheit und Methode) bietet Gadamer zunächst einen breit angelegten philosophiegeschichtlichen Abriss über die Lehre vom Verstehen. Er beschäftigt sich intensiv mit Philosophen wie Aristoteles, Kant, Schleiermacher, Dilthey oder Heidegger und gelangt in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition zu seinen eigenen Thesen – ein Vorgehen, das er im Buch selbst als typisch geisteswissenschaftlich darstellt.
  • Ähnlich wie sein Lehrer Heidegger geht Gadamer über seine hermeneutischen Vorgänger hinaus, indem er das Phänomen des Verstehens nicht mehr nur im wissenschaftlichen Kontext untersucht. Die wissenschaftliche Methodik fasst er als unzureichendes Instrumentarium zur hermeneutischen Wahrheitsfindung auf. Die Form des Dialogs hingegen erleichtere das Verstehen ebenso wie die Beschäftigung mit Kunst und Geschichte. Somit stellt für ihn das Verstehen die Seinsweise des Menschen schlechthin dar.
  • Gadamer übt deutliche Kritik an Vertretern der historischen Hermeneutik. Er wirft ihnen nicht nur Naivität, sondern auch ein mangelndes Verständnis der hermeneutischen Grundlagen vor. Für ihn sind die Anhänger des Historismus stets auf der Suche nach einer reinen, unverfälschten, vorurteilsfreien Interpretation der historischen Zeugnisse, was er als Schimäre entlarvt.
  • Gadamer vertritt die Auffassung, dass Vorurteile die Grundlage für das Verstehen sind. Dabei geht es um nichts anderes als den berühmten hermeneutischen Zirkel: Um etwas als Ganzes zu verstehen, muss man die einzelnen Elemente verstehen, und umgekehrt. Als Verstehender hat man immer ein gewisses Vorverständnis, beschäftigt sich dann mit dem zu Verstehenden und erweitert und verändert dabei sein Vorwissen; anschließend geht der Verstehensprozess in die nächste Runde.

Historischer Hintergrund

Geschichte der Hermeneutik

Die Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, Deuten und Auslegen. Ihr Gegenstand können Kunstwerke sein, aber auch historische Quellen, Bauwerke oder sprachliche Äußerungen jeglicher Art. Teilgebiete sind die theologische, juristische, philologische und historische Hermeneutik. Als Vorläufer der Hermeneutik gilt die allegorische Deutung von Texten, die bereits in der antiken Philosophie verbreitet war. Insbesondere die Stoa versuchte, die Werke Homers und Hesiods mithilfe der Interpretationslehre zu verstehen. Der Begriff „Hermeneutik“ kommt auch schon bei Platon vor, und zwar im Sinne des Verstehens der Sprache der Götter.

Im christlichen Mittelalter wurde unter Hermeneutik vor allem die Exegese verstanden, also die Auslegung der Bibel. Die starke Bindung der Auslegungskriterien an die Tradition des Christentums wurde erst durch die Refomation abgeschwächt. Das Prinzip Martin Luthers, wonach sich die Bibel selbst auslegt, führte zu einer unabhängigeren und kritischeren Hermeneutik.

In der Neuzeit entwickelte sich die Disziplin zur allgemeinen Lehre von den Voraussetzungen und Methoden des Verstehens und der Interpretation. Einen Einschnitt in der Geschichte der Hermeneutik markierte Immanuel Kant: Er betonte die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und somit auch des menschlichen Verstehens, das immer deutlicher als geschichtlich bedingt erkannt wurde. Wichtige Vertreter der philosophischen Hermeneutik waren im 19. Jahrhundert Friedrich Schleiermacher, durch den die Hermeneutik zu einer universalen Theorie des Verstehens wurde, und Wilhelm Dilthey. Im 20. Jahrhundert war neben Gadamer dessen Lehrer Martin Heidegger der bedeutendste Hermeneutiker. Heidegger sah im Vorgang des Verstehens nicht bloß eine Erkenntnismethode, sondern die eigentliche Seinsbestimmung des Menschen.

Entstehung

„Ich hoffe, aus vielen verstreuten praktischen und theoretischen Versuchen am Ende einmal eine Theorie der Hermeneutik entwickeln zu können, die über Dilthey und den Historismus hinaus das hermeneutische Problem in den größeren Zusammenhang einer geschichtsphilosophischen Fragestellung rückt“, sagte Hans-Georg Gadamer anlässlich seiner Eröffnungsrede vor der Heidelberger Akademie. Dort trat er 1951 die Nachfolge von Karl Jaspers als Leiter des philosophischen Dekanats an und konnte sich nun, da ihm ausreichend Zeit für Forschungsarbeit zur Verfügung stand, daran machen, seine Theorie der Hermeneutik auszuarbeiten.

Zu dieser Zeit übte die Philosophie seines früheren Lehrers Martin Heidegger immer noch einen starken Einfluss auf ihn aus. Die „geschichtsphilosophische Fragestellung“, von der Gadamer sprach, knüpfte an zwei Untersuchungen an, die er bereits in den 40er Jahren veröffentlicht bzw. vorgetragen hatte: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie (1943) und Die Grenzen der historischen Vernunft (1949). In den 50er Jahren verband Gadamer dann die Geschichtsphilosophie mit der Hermeneutik: Die Grundlagen für Wahrheit und Methode waren damit geschaffen.

Wirkungsgeschichte

Gadamers Wahrheit und Methode wurde bereits kurz nach der Publikation 1960 zu einem Standardwerk der philosophischen Hermeneutik. Der Einfluss auf seine Zeitgenossen und seine wissenschaftlichen Nachfolger war entsprechend groß – sowohl was die Auswirkungen auf die philosophische als auch auf die philologische Hermeneutik betrifft. Gadamers kritische Hinterfragung des Historismus, auf der seine Neukonzeption der Hermeneutik weitgehend beruht, hat neue Maßstäbe gesetzt, die bis heute angewandt und diskutiert werden. In den philosophischen Diskussionen der 60er und 70er Jahre hat Gadamers Werk das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften gestärkt: als Alternative zum vorherrschenden naturwissenschaftlichen Empirismus.

Kritisch reflektiert wurde Gadamers Forderung nach Methoden, die die Gewinnung von Objektivität und Wahrheit in den Geisteswissenschaften sichern sollten. In einer viel beachteten, öffentlichen Auseinandersetzung wurde Gadamer vom Soziologen Jürgen Habermas als „Traditionalist“ bezeichnet. Zwar folgte Habermas Gadamer in seiner Ablehnung des Historismus, hob sich aber zugleich von ihm ab, indem er die Struktur des Verstehens und der Verständigung unter anderen (dialektischen) Voraussetzungen betrachtete. Habermas betonte an dieser Stelle vor allem die Funktion der Sprache als Medium von Herrschaft und Macht. Aufgrund der ständig wechselnden Machtverhältnisse verändert sich nach Habermas auch die sprachliche Interpretation kontinuierlich.

Über den Autor

Hans-Georg Gadamer wird am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Sein Vater, der von Beruf Chemiker ist und als Professor an die Universität Breslau berufen wird, sieht für seinen Sohn ebenfalls eine Laufbahn im naturwissenschaftlichen Bereich vor, doch dieser wehrt sich dagegen und beginnt stattdessen ein Philosophiestudium in Breslau. Kurz darauf wechselt er nach Marburg und promoviert 1922 bei den Neukantianern Paul Natorp und Nicolai Hartmann über Platon. Danach besucht er Vorlesungen von Edmund Husserl und Martin Heidegger in Freiburg; vor allem letztere lösen eine starke Erschütterung in seinem Denken aus. Nicht zuletzt, um sich von dem übermächtigen Heidegger abzusetzen, nimmt Gadamer auch noch das Studium der Philologie auf, das er 1927 mit dem Staatsexamen abschließt. 1929 habilitiert er bei Heidegger und Paul Friedländer und lässt sich anschließend als Privatdozent in Marburg nieder, wo er den größten Teil der 30er Jahre verbringt. In dieser Zeit veröffentlicht er das Werk Plato und die Dichter, in dem er sich u. a. von der herrschenden Nazi-Ideologie abgrenzt. Nach Kriegsende wird er zum Dekan, 1947 zum Rektor der Leipziger Universität berufen, wechselt aber bereit kurz darauf nach Frankfurt am Main und schließlich als Nachfolger von Karl Jaspers nach Heidelberg – eine Position, die er bis 1968 und darüber hinaus als emeritierter Professor bis zum seinem Tod innehaben wird. 1960 erscheint Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode, in dem er die Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik darlegt. Einem breiteren Publikum wird er durch seine Debatten mit Jürgen Habermas Ende der 60er Jahre bekannt. Hans-Georg Gadamer stirbt am 13. März 2002 im Alter von 102 Jahren in Heidelberg.

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