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Wellen

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Wellen

Roman

Reclam,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Psychogramm einer Gesellschaft im Umbruch.


Literatur­klassiker

  • Gesellschaftsroman
  • Moderne

Worum es geht

Psychogramm einer Gesellschaft im Umbruch

Eduard von Keyserlings impressionistischer Roman Wellen zeichnet ein Psychogramm der Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Das Selbstverständnis des Adels erodiert. Nervös und erregt taumelt man einer ungewissen Zukunft entgegen. Diese atemberaubende weite Perspektive entwickelt Keyserling in einer auf den ersten Blick eher beschaulichen Geschichte: Unter greller Sommersonne mietet sich in einem Fischerdorf an der Ostsee eine Offiziersfamilie ein. Auch eine schöne Gräfin, die mit einem Maler durchgebrannt ist, hat auf ihrer Flucht vor den Zwängen der Gesellschaft hierhergefunden. Schnell richten sich alle Blicke auf sie – lüsterne Männerblicke, erschrockene Frauenblicke (nicht selten durch ein Opernglas), sehnsüchtige Mädchenblicke. Wer sich – durchaus aus ganz gegenwärtigen Motiven – für die emotionalen Lagen einer Gesellschaft im Umbruch interessiert, für all ihre unstillbaren Sehnsüchte, ihre Melancholie, ihre Ängste und ihre teils groteske Komik, für den ist Keyserlings mitreißend poetischer Roman augenöffnend.

Take-aways

  • Eduard von Keyserlings Wellen ist einer der bedeutendsten impressionistischen Romane.
  • Inhalt: In einem Fischerdorf an der Ostsee trifft eine Offiziersfamilie auf die schöne Gräfin Doralice, die an der Seite eines Malers aus den Zwängen aristokratischer Konventionen ausgebrochen ist. Schnell weckt sie die Begehrlichkeiten der versammelten Feriengesellschaft. Obwohl bereits verlobt, verliebt sich ein Leutnant in sie, Doralice muss ihn aber enttäuschen. Die Hoffnung des Malers, mit der Gräfin ein bürgerliches Leben führen zu können, treibt sie von ihm weg. Der Maler kommt schließlich bei einem Unwetter auf dem Meer um. Die Gräfin bleibt sozial isoliert zurück.
  • Der Roman beschreibt mit feiner Ironie den schleichenden Niedergang der adligen Aristokratie vor dem Ersten Weltkrieg.
  • Die Handlung ist aus den jeweiligen Perspektiven der Figuren montiert, hinter die der Erzähler zurücktritt.
  • Indem er Begriffe aufgreift, die für die Psychologie um 1900 zentral waren – wie den der Nervosität –, zeichnet der Roman das Psychogramm einer Gesellschaft im Umbruch.
  • Das Buch erschien 1911 und fand eine begeisterte Leserschaft.
  • Nachdem Wellen lange als melancholische Heimatliteratur missverstanden wurde, ist sein literarischer Rang heute unbestritten.
  • Der Roman wurde 1989 in einem von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Band gewürdigt, 1998 vom Literarischen Quartett empfohlen und 2005 für das ZDF verfilmt.
  • Wellen gilt heute als Keyserlings wichtigster Roman.
  • Zitat: „Doralice glaubte diese unendliche Weite zu fühlen, wie sie die dunkele Tiefe unter sich zu fühlen meinte, und beide, die Tiefe und die Weite, legten sich bedrückend auf sie.“

Zusammenfassung

Im Bullenkrug

An der Ostsee nahe Riga hat Generalin von Palikow in einem kleinen Fischerdorf für den Sommer das Strandhaus „Bullenkrug“ gemietet. Zusammen mit ihrer Gesellschafterin Malwine Bork hat sie Vorbereitungen für das Abendessen getroffen. Ihre Tochter ist heute angekommen, die Baronin von Buttlär, zusammen mit ihren erwachsenen Töchtern Lolo und Nini – schlank und knabenhaft – sowie dem 15-jährigen, kränklichen Wedig. Beim Essen legt sich das Abendlicht grellrot auf den Tisch. Das Murmeln des Meeres gibt den neu Angekommenen das Gefühl, nicht unter sich zu sein.

„ Klein und dunkel hockten die Fischerhäuser auf den fahlen Dünen, hie und da erwachte in ihnen ein gelbes Lichtpünktchen, das kurzsichtig in die aufsteigende Nacht hineinblinzelte.“ (S. 11)

Nach dem Essen unterhalten sich die Generalin und ihre Tochter über die anderen Urlauber, die sich in am Strand zwischen den Fischerhütten verstreuten Häusern eingemietet haben. Da ist der Geheimrat Knospelius, der bei der Reichsbank arbeitet, wie die Generalin gehört haben will. Und da ist die Gräfin Doralice, zusammen mit dem Maler Hans Grill, für den sie ihren Mann verlassen hat. Plötzlich tauchen die Gräfin und der Maler am Rand der Düne in der Ferne auf. Panisch versucht die Baronin zu verhindern, dass ihre Kinder das skandalöse Paar zu Gesicht bekommen. Auch ihren Mann, der bald ankommen wird, will sie von der Gräfin fernhalten. Ihre Mutter beruhigt sie: Sie soll sich auf ihren alten Namen und ihre Stellung in der Gesellschaft besinnen.

Doralice, das Meer und die Erinnerung

Auf dem Heimweg nach einem abendlichen Strandspaziergang begegnen Doralice und Hans Grill dem Geheimrat Knospelius, einer gekrümmten Gestalt mit langen, dünnen Fingern. Doralice erinnert sich, ihm in ihrem alten Leben einmal auf einem Fest begegnet zu sein. Damals hat er ihr auf eine Art in die Augen gesehen, wie sich das in Gesellschaft nicht schickt. Doralice wünscht sich, in einer Hängematte über den Wellen zu liegen. Hans trägt sie auf seinen Händen ins Wasser. Doralice blickt zum Mond. Das Meer so unter sich zu spüren, berauscht sie. Sie lacht, mit ihren roten Lippen und vom Mondlicht schimmernden Augen. Daheim gerät sie mit Hans in Streit. Sie genießt es, wenn Hans unbeherrscht wird. Das unterscheidet ihn von der Gesellschaft, aus der sie mit ihm geflohen ist. In der Dämmerung des nächsten Morgens, noch halb im Traum, erinnert sich Doralice an den Beginn ihrer Liebe zu Hans. Ihr Mann, der Graf, hatte ihn aufs Schloss bestellt, dass er sie male. Damals hatte sie sich fiebrig gefühlt. Hans war ihr vorgekommen wie die Gewalt des Lebens selbst, die sie mit sich riss. Hans’ Bild von Doralice ist nie fertig geworden.

„Du bist die Freifrau von Buttlär, nicht wahr, und ich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben (...)“ (S. 14)

Bei einem Spaziergang am Strand lässt sie sich unwillig ein Stück des Wegs von Knospelius begleiten. Diesen begeistert die Geschäftigkeit der Fischer. Er findet, der Mensch sei zum Tätigsein verpflichtet. Er zeigt ihr eine Stelle am Strand, wo das Meer einen alten Friedhof unterspült: Nachts reiße hier das Meer die Särge aus dem Erdreich und trage sie davon.

Ein verbotener Kuss

Die Familie der Generalin hat es sich unter der Hitze des Tages in Strandkörben auf der Düne bequem gemacht. Die Baronin zeichnet das Meer. Die Hitze, der Sand und das Glitzern des Wassers machen Wedig nervös. Durch ein Opernglas beobachtet die Baronin, wie Lolo hinausschwimmt und dabei auf Doralice trifft. Lolo ist fasziniert von der geheimnisvollen Schönheit der fremden Frau. Sie kommt ihr vor wie eine Romanfigur. Sie fühlt mit ihr, weil sie von aller Welt verlassen ist. Doralice bringt die ermattete Lolo zurück ans Ufer. Lolo küsst ihre kleine feuchte Hand, Doralice küsst Lolo auf den Mund. Aufgebracht holt die Baronin ihre Tochter ab und bringt sie ins Haus. Die nächsten Tage sind gnadenlos heiß. Träge Liebespaare gehen am Strand auf und ab.

„ (...) uns fehlt eine gewisse Enge, eine Gebundenheit, Form, Form, Form, das ist es, das macht reizbar und unsicher.“ (Hans zu Doralice, S. 23)

Hans Grill versucht sich an einem Bild von Doralice und dem Meer. Es mag ihm aber nicht gelingen, da er nicht das Gefühl hat, Doralice wirklich zu besitzen. Er wünscht sich Normalität, will, dass Doralice sich mit dem Gedanken anfreundet, als Hausfrau zu leben. Wieder geraten sie in Streit. Als sie vom Strand nach Hause kommen, liegt der Fußboden voller roter Rosen, die Lolo hier hat ausstreuen lassen.

Ankunft eines Soldaten und Fischfang bei Nacht

Der Baron von Buttlär und Leutnant Hilmar von dem Hamm, Lolos Verlobter, treffen im Bullenkrug ein. Am Abend trinkt man Erdbeerbowle und isst Spargel. Hilmar ist ein Mann der Tat. Seine Augen funkeln. Nini und Wedig verfolgen jetzt jeden Abend heimlich Doralice. Lolo erzählt Hilmar von ihrer Begegnung mit dieser. Sie wünscht sich, Hilmar könnte in seiner Liebe zu ihr etwas von der Traurigkeit empfinden, die sie bei Doralice spürt. Als sie später Doralice begegnen, zeigt sich Hilmar von deren melancholischem Mund beeindruckt. Tags darauf beobachtet die Baronin, wie sich ihr Mann angeregt mit Doralice unterhält. Die Generalin empfiehlt ihrer Tochter, mit Doralice Kontakt aufzunehmen und ihr damit den Reiz des Fremden zu nehmen. Als die Familie später eine Predigt hört, weint die Baronin.

„Gern wollte sie lange noch so stehen in dem lauen Wasser, sich schwesterlich an diese schöne geheimnisvolle Frau lehnend (...)“ (Lolo über Doralice, S. 44)

Nachts fahren Doralice und Hans mit Fischern hinaus aufs Meer. In Doralices Wahrnehmung verschwimmen Traum, Erinnerung und Wirklichkeit. Zunächst hat sie große Angst vor der Tiefe des Meeres unter sich, dann beruhigt sie die Geschäftigkeit der Männer, dann wieder wird sie bleich von all dem Fleisch der Fische, der Gewalttätigkeit der Fischer und dem Gestank. Auf dem Wasser begegnen sie Hilmar, der mit einem anderen Fischerboot ausgefahren ist. Er wirkt auf Doralice überfeinert und schwächlich. Das gefällt ihr. Sie erkennt sich darin wieder.

Die Zusammenkunft

Geheimrat Knospelius hat die Familie der Generalin von Palikow anlässlich seines Geburtstags auf eine Waldhütte eingeladen. Auch Doralice und ihr Maler sind angekündigt, doch die Familie kann die Einladung nicht ausschlagen. Man sitzt in Korbstühlen und auf Polstern auf dem Waldboden. Der Gastgeber beobachtet seine Gäste mit fast wissenschaftlichem Interesse: Wie Käfer sehe er sie an, findet die Baronin. Doralice erscheint mit einer roten Korallenkette um den Hals. Lolo und Nini können ihre Augen nicht von ihr abwenden, auch der Baron sieht sie wollüstig an.

„Die dunkelen Augen waren sehr lebhaft, (…) es sprühte zuweilen in ihnen so, dass man deutlich goldene Pünktchen über den schwarzen Sammet der Iris hinfahren sah. ‚Keine Disziplin in den Augen‘, hatte der Onkel (…) gesagt.“ (über Leutnant Hilmar von dem Hamm, S. 59)

Knospelius dirigiert seine Gesellschaft regelrecht. Er fordert sie zum Tanzen auf. Doralice hat für einen Augenblick das Gefühl, wieder Teil jener Gesellschaft zu sein, aus der sie geflüchtet ist. Hilmar erzählt Doralice von Pferderennen, die er bestreitet, und davon, wie ihn jener Moment begeistere, wenn man die Kontrolle über das Tier verliert. Doralice glaubt, er spreche indirekt über sie. Sie stellen fest, dass sie beide als Einzelkinder aufgewachsen sind. Hilmars Verlobte Lolo ist derweil bei einem Tanz mit Hans in Ohnmacht gefallen. Eilig bringt man Riechsalz.

Wind kommt auf

Hilmar findet Doralice in einem Birkenwäldchen. Sie sitzt – den Kopf im Nacken, ein Buch auf dem Schoß – zwischen den Bäumen. Die Grillen zirpen. Hilmar macht sich bemerkbar, spricht Doralice jedoch nicht an. Was soll man auch mit einer Frau sprechen, die alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, fragt ihn Doralice. Sie erzählt ihm von jenem Friedhof am Meer, den ihr Knospelius gezeigt hat. Als sie zu weinen beginnt, legt Hilmar seine Hand auf ihre. Sie zieht ihre Hand fort.

„Doralice glaubte diese unendliche Weite zu fühlen, wie sie die dunkele Tiefe unter sich zu fühlen meinte, und beide, die Tiefe und die Weite, legten sich bedrückend auf sie (...)“ (S. 69)

Später, beim Essen mit Hans, spürt Doralice eine Traurigkeit über all die Alltäglichkeit aufkommen. Sie empfindet diese Trauer aber als seltsam von ihr selbst losgelöst. Sie kommt sich vor wie eine Reisende, die Station macht und sich von einem Leben umgeben sieht, das nicht ihres ist. Sie fürchtet sich vor der Enge, in die Hans sie umso weiter hinein treibt, je sicherer er sich ihrer fühlt. Um das Gefühl der ersten Tage mit Hans wieder wachzurufen, legt sie das Kleid an, in dem sie ihm damals Modell gestanden hat. Doch Hans bittet sie, es wieder abzulegen. Sie kommt ihm darin wie ein Kunstgegenstand vor. Er verspricht ihr ein Leben in München, wo er eine Malerschule gründen will. Eine neue Phase ihrer Liebe soll beginnen. Hans nimmt Doralice mit nach draußen an den Strand. Es stürmt, die Wellen türmen sich. Hans und Doralice lachen.

„Überhaupt eine verteufelte Geschichte mit diesem Meere, es lässt sich nicht fassen, ich kriege die Logik seiner Linien und Bewegungen nicht heraus (...)“ (Hans, S. 134)

Am nächsten Tag findet bei der Generalin eine Aussprache statt: Der Baron entschuldigt sich bei der Baronin für sein Betragen. Seine Begeisterung für Doralice entspringe nur einem poetischen Bedürfnis. Der Baron spricht daraufhin mit Hilmar und wirft ihm vor, er mache Lolo durch seine Schwärmerei für Doralice unglücklich. Die aber zeigt sich verständnisvoll, obwohl es sie unendlich schmerzt. Es gebe eben ein Begehren, gegen das man nicht ankomme.

Ein erster Sturm

Nachts kommt ein Sturm auf, legt sich aber schnell wieder. Am Tag malt Hans das Porträt der Großmutter Wardein, seiner und Doralices Vermieterin. Eine Fischersfrau geht rastlos am Strand entlang. Sie vermisst ihren Mann, der noch nicht vom nächtlichen Fischfang heimgekehrt ist. Bei ihrem Anblick empfindet Doralice etwas, das nicht Mitleid ist, sondern die Ahnung einer immer näher kommenden Dunkelheit.

„ (...) er wollte das Meer studieren, allein Doralice wusste es wohl, auch er konnte nicht schlafen, auch er litt und darin lag etwas, das sie ganz heiß und unruhig vor Freude machte.“ (über Hans, S. 142)

Hilmar besucht Doralice und Hans. Er will Doralice zum Segeln mitnehmen. Zu seiner eigenen Überraschung schickt Hans sie mit Hilmar mit. Auf dem Wasser sprechen Doralice und Hilmar fast nichts – zusammen sein und schweigen, das sei die Kunst, meint Hilmar. Wieder daheim, gerät Doralice erneut mit Hans aneinander. Es missfällt ihr, wie er sie mit seinen Plänen vereinnahmt. Auf einem Spaziergang durch den Wald überfällt sie eine plötzliche Sehnsucht nach dem Meer und nach Hilmar. Es bedrückt sie, all die Leute zu sehen, wie sie jeden Abend in ihren dunklen Häusern verschwinden.

„In der Stadt, da lebte ich von zerhackten Erlebnissen, von zerhackten Geschichten und Gedanken, hier erzählt man jede Geschichte ganz bis zu Ende (...)“ (Knospelius, S. 144)

Hans begleitet jetzt jede Nacht Fischer aufs Meer. Eines Tages, als er wieder fort ist, schläft Doralice in einem Sessel am Fenster ein. Sie träumt, sie stehe mit Hilmar in einem Gladiolenbeet und er küsse sie. Als sie die Augen aufschlägt, ist Hilmar tatsächlich bei ihr. Er redet auf sie ein, will mit ihr fortgehen. Derweil hat Lolo das Haus verlassen und geht dem Meer entgegen. Als sie an Doralices Fenster vorbeikommt, sieht sie Hilmar vor der Gräfin knien. Am Strand entkleidet sie sich und schwimmt in die Dunkelheit. Fischer ziehen sie später völlig unterkühlt aus dem Wasser und tragen sie zu Doralice, wo dann auch die Generalin mit Malwine Bork eintrifft, um sich um Lolo zu kümmern. Die Generalin redet Doralice mütterlich ins Gewissen, sie solle ein ordentliches Leben führen und Hilmar abweisen, sobald er wieder zu ihr kommt. Sie habe Doralice immer in Schutz genommen vor ihrer Tochter, die sie für ein „reißendes Tier“ halte.

Trennung

Am Morgen hört Doralice, wie ihre Haushälterin Agnes Hilmar abweist. Durch das Fenster sieht Doralice ihm nach. Er trägt Uniform. Er und die Familie um die Generalin reisen ab. Agnes hat Hans von den Ereignissen der Nacht berichtet. Der schlägt Doralice vor, sie sollten eine Weile lang still nebeneinanderher leben und hoffen, dass sie wieder zueinander fänden. Es erregt Doralice, so mit Hans zu sein und auf eine große Aussprache zu warten, die doch sicher kommen wird. Ihre Nächte sind jetzt unruhig, sie achtet auf alle Geräusche. Als sich Hans in einer Nacht bereit macht, hinaus zum Fischfang zu gehen, hält sie es nicht mehr aus: Sie bittet ihn, mit ihr zu sprechen – ohne Rücksicht; Hauptsache ehrlich. Er will ihr den Wunsch am nächsten Tag erfüllen. Glücklich schläft sie ein, wacht dann aber von einem schweren Unwetter auf. Sie hat Angst um Hans, der noch draußen auf dem Meer ist. Um das Warten zu überbrücken, geht sie mit Agnes hinüber zur Familie der Großmutter Wardein. Dort sammeln sich die Frauen der Fischer in banger Angst um ihre Männer. Agnes bringt Doralice schließlich zu Bett.

„‚Freilich, freilich‘, sagte Knospelius heiter, ‚wir haben Zeit, wir haben hier gelernt, Zeit zu haben, wir warten, wir warten ruhig ab, bis das Meer uns frei gibt.‘“ (S. 160)

Am nächsten Morgen geht Doralice zum Strand, den das Unwetter umgepflügt hat. Es regnet noch. Möwen streiten sich um Beute. Die Natur kommt Doralice gewalttätig vor. Im Haus spürt sie die Leere, die Hans hinterlassen hat. Vier Tage später wird das Boot angespült, auf dem Hans ins Verderben gefahren ist. Agnes lässt die Totenglocken für Hans und den Fischer läuten. Bei der Messe für die Toten weinen die Fischersfrauen. Doralice weint nicht. Sie hat nicht das Gefühl, die Trauer der anderen habe etwas mit ihrer Trauer zu tun. In den nächsten Tagen unternimmt sie stundenlange Spaziergänge am Meer. Sie meint, die Wellen stritten sich mit ihr. Als sie auf der Düne sitzt, gesellt sich Knospelius zu ihr. Ungelenk versucht er, sein Mitleid auszudrücken. Er will mit ihr in den Süden fahren, sie beschützen. Doralice lehnt ab. Sie kann nicht fort. Bis in den Oktober hinein bleiben sie an der Ostsee und unternehmen unter der blassen, goldenen Sonne Spaziergänge: die schöne Frau und der kleine Mann mit der gekrümmten Gestalt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Eduard von Keyserlings Wellen ist wesentlich impressionistisch gefärbt: Ein Akzent liegt auf der Darstellung der unterschiedlichen Wahrnehmung der Figuren und auf der Wirkung der sie umgebenden Natur auf deren Sinne. Wo Keyserling jedoch grelle Farben wählt und der innere Zustand einer Figur sich unmittelbar in der literarischen Beschreibung der Natur (insbesondere des Meeres) widerspiegelt, weist der Roman auch Züge des Expressionismus auf. Er ist in 15 kurze Kapitel gegliedert, in denen sich die Handlung streng chronologisch entfaltet. Der Erzähler tritt – mit wenigen Ausnahmen – ganz hinter der Schilderung der Figurenperspektiven zurück. Perspektivwechsel erfolgen oft innerhalb ein und derselben Szene, folgen rasch aufeinander und sind meisterhaft komponiert. Die Geschichte entwickelt sich somit in der Montage einer Vielzahl von Blicken, wobei derjenige der Protagonistin Doralice die Schilderung zunehmend dominiert. Die Darstellung einer Aristokratie, die sich inmitten hart arbeitender Fischer durch Operngläser beargwöhnt, ist auf feine Art ironisch.

Interpretationsansätze

  • Wellen ist ein pointiertes und ironisches Porträt eines dekadenten Standes. Seine Adligen sind lüstern und kränklich. Ihre Versuche, die Standesgrenzen zu bewahren, wirken verzweifelt. Gerade in dem von Keyserling dargestellten Fischerdorf – einem Raum der sozialen Durchmischung – müssen sie scheitern. Meer und Strand als Zonen des Übergangs zeigen an, dass sich hier eine alte Gesellschaft überlebt hat, eine neue Form der Gesellschaft aber noch nicht abzusehen ist.
  • Zentral sind das Meer und die Wellen: In ihnen bündelt Keyserling die verschiedenen Emotionen seiner Figuren von Angst, Trauer und Ermattung bis zu Unruhe, Sehnsucht und Ekstase.
  • Der Roman zeichnet – drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – ein Psychogramm der Vorkriegsgesellschaft. Mit Hans Grill stirbt am Ende des Romans genau diejenige Figur, die für Sicherheit, Ruhe und Normalität wirbt. In der insbesondere von Doralice verkörperten Nervosität, ihrer Lust an Zuständen der Erregung und ihrer Vorahnung eines großen Ereignisses sind Begriffe präsent, die für die Psychologie der Zeit zentral waren und mit denen die Zeitgenossen Keyserlings ihre Hoffnung auf einen großen Krieg ausdrückten.
  • Eduard von Keyserling war zur Zeit der Entstehung von Wellen schon erblindet. In der Darstellungsweise des Romans spiegelt sich seine Blindheit: Schilderungen visueller Erfahrungen gehen oft unmittelbar in solche von Erinnerungen oder Träumen über, Farben und Licht sind oft unwirklich grell und intensiv beschrieben. 
  • Wellen führt die soziale Isolation der Protagonistin Doralice vor: Für die Fischer ist das beschriebene Dorf Lebens- und Arbeitsraum. Die Urlauber bevölkern es nur während des Sommers und verlassen es dann wieder. Nur Doralice und der groteske Geheimrat Knospelius bleiben zurück und warten auf etwas Unbestimmtes.
  • Der Roman beschreibt eine Entfremdung vom Selbst: Die Hauptfigur Doralice erfährt, wie ihr zunächst ihr Geliebter Hans, dann ihre eigenen Gefühle zunehmend fremd werden. Sie ist – wie das Meer – Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Romanfiguren und wird dabei sich selbst und dem Leser immer rätselhafter.

Historischer Hintergrund

Der Niedergang des Adels und der Rhythmus der Großstädte um 1900

Noch am Ende des 19. Jahrhunderts bestand der Adel in Europa aus einem recht stabilen, weitverzweigten Netzwerk, in dem klare Normen galten. Die Aristokraten verfügten über weitreichende, vererbbare Privilegien, besaßen Land und ließen andere für sich arbeiten. Besonders im 1871 gegründeten, preußisch dominierten Deutschen Kaiserreich war der Adel eng mit dem Militär verflochten. Seine Angehörigen lebten von sozialer Distinktion, die sichtbar gemacht und durch Symbole gefestigt werden musste. Das zentrale Konzept, über das sich der Adel definierte, war das der Ehre, die im öffentlichen Raum erhalten werden musste, aber dort auch verloren werden konnte. Spätestens nach Ende des Ersten Weltkriegs verlor der europäische Adel endgültig seine Stellung und seine Eigenschaft als prägende gesellschaftliche Kraft, die er über viele Jahrhunderte innegehabt hatte.

Der Niedergang des Adels hing nicht zuletzt mit der im 19. Jahrhundert rasant verlaufenden Urbanisierung zusammen: Ein städtisches Bürgertum formierte sich und bildete Werte heraus, die mit denen des Adels konkurrierten. In Großstädten wie Paris, London, Wien oder Berlin – und ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in München – stellte sich ein Lebensrhythmus ein, der den Unterschied zum Leben auf dem Land immer stärker hervortreten ließ. Viele Städter bemerkten eine enorme Beschleunigung ihres Alltags und eine starke Beanspruchung durch eine Vielzahl neuer Reize. Die Jahrhundertwende galt ihnen als „Zeitalter der Nervosität“. Künstlerische Strömungen wie der Impressionismus und psychologische Ansätze wie Sigmund Freuds Psychoanalyse oder die von Ernst Mach in seiner Analyse der Empfindungen dargelegte Theorie setzten sich eingehend mit der menschlichen Wahrnehmung und der psychischen Verarbeitung von Sinnesreizen auseinander.

Entstehung

Dem in Wellen beschriebenen aristokratischen Milieu gehörte auch Keyserlings Familie an. Dieses Milieu, zu dem Keyserling zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis pflegte, prägt sein erzählerisches Werk. Das Gasthaus „Bullenkrug“, das einer der Schauplätze des Romans ist, kannte Keyserling wahrscheinlich aus seiner Kindheit. Es befand sich in dem kleinen Ort Kaugerzeem in der Nähe von Riga. Das Dorf war zur Entstehungszeit des Romans nicht so sehr als Urlaubsort des Adels bekannt, als der es in Wellen erscheint. Bekannter war die dort gelegene, im 19. Jahrhundert für ihre Stärke bekannte Seefestung Dünamünde als Schauplatz vieler militärischer Auseinandersetzungen.

Trotz einiger Kontakte zu anderen Künstlern lebte Keyserling in München, wo er ab 1895 mit seinen Schwestern wohnte, als Außenseiter. Er schrieb einige Dramen, denen aber kein Erfolg beschieden war. Da Keyserlings gesamter Nachlass gemäß einer entsprechenden Anweisung in seinem Testament vernichtet wurde, ist über die Entstehung von Wellen wenig Konkretes bekannt. Auch Keyserlings Briefe geben dazu nicht viel her. Jedenfalls übte der französische Lyriker Charles Baudelaire bei der Entstehung von Wellen einen großen Einfluss auf Keyserling aus. Dieser stellte seinem Roman eine Strophe aus Baudelaires Gedicht Der Mensch und das Meer voran, das in dessen Hauptwerk Les Fleures du Mal erschienen war. Obwohl Wellen fernab der Metropolen spielt, schließt Keyserling seinen Roman damit an eine Literatur an, die sich der modernen Großstadt und den (psychischen) Herausforderungen des urbanen Lebens widmet.

Keyserling erarbeitete den Roman sicher nach 1907/08, als er schon erblindet war. Der Verlust seines Augenlichts hatte ihn sozial noch stärker isoliert. Er diktierte das Werk seinen Schwestern Henriette und Elise, die als seine engsten Bezugspersonen mit ihm in München wohnten. Diese Besonderheit der Werkentstehung hat vielleicht mit zu der speziellen Atmosphäre im Roman beigetragen, etwa indem inneren Monologen viel Platz eingeräumt wird oder indem nur sehr wenige Schauplätze sich häufig wiederholen. 

Wirkungsgeschichte

Der Roman Wellen erschien 1911 zunächst in Die neue Rundschau, einer damals bedeutenden Literaturzeitschrift, dann im S. Fischer Verlag. Er gilt als Keyserlings wichtigster Roman. Keyserling war zu seiner Zeit ein viel und begeistert gelesener Autor. Allein Wellen wurde innerhalb von zehn Jahren nach Erscheinen neun Mal wieder aufgelegt. Ab den 1930er-Jahren gerieten der Roman und sein Autor in Vergessenheit. Keyserling wurde als melancholischer Heimatdichter missverstanden. Das änderte sich, nachdem 1989 in einem von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Band die literaturhistorische Bedeutung ebenso wie die Gegenwärtigkeit des Romans herausgestellt wurde. 1998 folgte eine Empfehlung in der Fernsehsendung Das Literarische Quartett, 2005 eine Verfilmung für das ZDF. Ein prominenter Fan von Keyserlings Romanen ist Karl Lagerfeld. Mit Wellen setzte er sich auch künstlerisch auseinander und inszenierte ihn als Foto-Lovestory. Heute ist Wellen in viele Sprachen übersetzt. Obwohl Autor und Roman weiterhin eher ein Geheimtipp sind, ist der literarische Rang des Romans unbestritten.

Über den Autor

Eduard von Keyserling ist der heute bekannteste deutsche Schriftsteller des Baltikums. Er ist Autor von etwa 20 Romanen und Erzählungen. Keyserling wird 1855 auf dem Rittergut Tels-Paddern in Kurland (heutiges Lettland) geboren. Er wächst in patriarchalischen, aristokratischen Verhältnissen auf. Das Milieu des kurländisch-ostpreußischen Gutsadels, das er hier kennenlernt, wird sein gesamtes Erzählwerk prägen. 1875 beginnt Keyserling, in Estland Jura, Kunstgeschichte und Philosophie zu studieren und setzt sein Studium in Wien und Graz fort. Keyserling bleibt zeitlebens unverheiratet. Nachdem er 1877 sein Studium abbrechen muss, verwaltet er zunächst einige Zeit die Familiengüter. Eine Geldaffäre bringt ihn in gesellschaftlichen Misskredit. Er arbeitet dann in Wien als freier Schriftsteller, emanzipiert sich von seiner Familie und wendet sich der Boheme zu. Es entstehen seine ersten beiden, vom Naturalismus beeinflussten Romane Fräulein Rosa Herz (1887) und Die dritte Stiege (1892). Von diesen Erstlingswerken distanziert er sich später. 1895 zieht Keyserling zusammen mit seinen ebenfalls literarisch tätigen Schwestern Elise und Henriette nach München, das sich zu der Zeit zu einer bedeutenden europäischen Kunst- und Kulturmetropole entwickelt. Er knüpft Kontakte zu Frank Wedekind und Karl Kraus, außerdem zu Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. Seit 1897 an Syphilis erkrankt, unternimmt er 1899 noch eine Italienreise, bevor ihn eine Rückenmarksschwindsucht 1907/08 erblinden lässt. Seine berühmtesten Romane, Wellen (1911) und Abendliche Häuser (1914), diktiert Keyserling seinen Schwestern Elise und Henriette. Der blinde Autor verlässt seine Schwabinger Wohnung kaum noch und stirbt am 28. September 1918 vereinsamt in München.

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