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Zur Genealogie der Moral

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Zur Genealogie der Moral

Eine Streitschrift

Insel Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Achtung, schweres Geschütz: Nietzsches Generalangriff auf die „Sklavenmoral“ des christlichen Abendlandes.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Der Sklavenaufstand in der Moral

Zur Genealogie der Moral ist eine Art Komplementärband zu dem von vielen als ungeheuerlich empfundenen Nietzsche-Werk Jenseits von Gut und Böse. Wieder wetzt der Pfarrerssohn die sprachliche Klinge, um seinem Lieblingsfeind zu Leibe zu rücken: dem Christentum. Genealogie bedeutet Ahnenforschung. So sucht Nietzsche nach dem Ursprung der Moral sowie dem ihres elementaren Begriffspaares „Gut und Böse“ und stellt die Wertaussagen der abendländischen Moralphilosophie auf den Kopf. Für ihn ist Moral schlicht ein Mittel der Machtausübung. 2000 Jahre lang lag demnach die moralische Deutungshoheit bei den Vertretern der christlichen und der jüdischen Religion. Sie verkehrten die antike Vorstellung vom edlen und guten Herrenmenschen und vom schlechten Pöbel ins Gegenteil: Die Elenden, Armen und Geknechteten wurden zu den Guten, und die herrschende Klasse stellte fortan die Bösen. Von dieser umgestülpten Hierarchie hält der streitbare Philosoph natürlich nichts; was ihm stattdessen vorschwebt, sagt er aber – zumindest hier – nicht. Die Genealogie ist grundlegend für das Verständnis von Nietzsches Spätwerk: Sie versammelt die wichtigsten Ideen seines Gedankengebäudes und bringt sie auf den Punkt.

Take-aways

  • Zur Genealogie der Moral ist eines von Nietzsches einflussreichsten Werken.
  • Inhalt: Moral ist nichts anderes als ein Ausdruck des Willens zur Macht. Die Moralvorstellungen von Gut und Böse entspringen einer „Sklavenmoral“, die die Ausbreitung einer „Herrenmoral“ vereitelt hat. Christliche Wertvorstellungen, darunter das schlechte Gewissen, die Schuld und das asketische Ideal, beruhen auf einem Ressentiment der Sklaven gegen ihre Herren und warten auf ihre Überwindung und Ablösung.
  • Nietzsches Versuch, die Moral von ihrer Geschichte (Genealogie) her zu beschreiben, zielt auf ihre Zertrümmerung.
  • Nietzsche verstand das Buch als Ergänzung zu Jenseits von Gut und Böse. Auch in diesem Werk zieht er über das Christentum und die Demokratie her.
  • Anders als in anderen, oft aphoristischen Schriften bemüht sich Nietzsche um eine systematische, stringente Argumentation.
  • Wie die von ihm geforderte „Umwertung der Werte“ erfolgen soll, hat Nietzsche offengelassen.
  • Das erste Manuskript entstand innerhalb weniger Wochen; Nietzsche musste jeden Freiraum nutzen, den ihm seine zahlreichen Krankheiten erlaubten.
  • Von Zeitgenossen missachtet, beeinflusste die Abhandlung postmoderne Denker wie Foucault und Bourdieu, aber auch die Nazis.
  • Sigmund Freud griff in Das Unbehagen in der Kultur das Thema der Entstehung des Gewissens aus der Unterdrückung fundamentaler Triebe auf.
  • Zitat: „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen.“

Zusammenfassung

Der Mensch kennt sich nicht

Woher kommt der Mensch? Wer sind wir? Wir haben nie ausreichend nach uns gesucht und uns daher auch noch nicht gefunden. Was wir erleben, nehmen wir nicht richtig wahr. So bleibt uns ein großer Schatz der Erkenntnis verborgen. Wer hingegen reflektiert und Zusammenhänge begreift, dem erschließt sich das eigene Leben und Handeln sowie das Dasein in seiner Gesamtheit. Dabei müssen wir Gedanken und Werte, Zweifel und Entscheidungen gleichermaßen einbeziehen und ihre Wechselwirkung untereinander verstehen lernen.

„Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir eines Tages uns fänden?“ (S. 9)

Ausgangspunkt ist die Moral: Woraus ist sie entstanden? Wie hat sie sich entwickelt und verändert? Worauf gründen Begriffe wie „gut“, „böse“, „schlecht“ oder „Schuld“? Welchen Wert haben moralische Urteile für die Menschen? Wie haben sie uns beeinflusst? Der Geschichte bzw. der Genealogie der Moral soll in drei Abhandlungen nachgegangen werden. Anders aber als etwa bei Schopenhauer, dessen Analyse der Moral in den Nihilismus führte, steht hier das Gegenteil im Vordergrund: Die Kritik der moralischen Werte und die Hinterfragung ihrer Herkunft soll zu ganz neuen Erkenntnissen führen. Es ist eine Reise in ein fernes Land, das es erst noch zu entdecken gilt. Um es wirklich zu verstehen, ist genaues Lesen notwendig. Der moderne Mensch muss sich darum der Kuh annähern und lernen, wiederzukäuen.

Sklavenmoral und Herrenmoral

Verschiedene Denker haben sich mit der Herkunft der Vorstellung von Gut und Böse befasst, aber sie haben dabei den Bezug zur Historie sträflich vernachlässigt. So haben sich die Überlegungen bis dato lediglich um psychologische Aspekte oder persönliche Erfahrungen gedreht, z. B.: Ist gut, was zugleich nützlich und zweckmäßig ist? Außer Acht gelassen wurde aber die etymologische Herkunft der Wörter, in der deutschen wie auch in verschiedenen anderen Sprachen. Einst stand das Wort „gut“ in Verbindung mit „edel“ bzw. „adlig“, was bedeutet, dass es sich um einen Begriff ständischen Ursprungs handelt. Zwar gab es Bedeutungsnuancen, aber das Wort hatte stets mit der politischen Stellung und dem Verhältnis der Menschen untereinander zu tun.

„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: Wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen (...)“ (S. 14)

Die Ignoranz dieser eigentlichen Herkunft des Wortes ist typisch für die Moderne, die die Suche nach Wurzeln eher hemmt. Sie musste deshalb zwingend zu völlig falschen Rückschlüssen bei der Interpretation von „gut“ und „böse“ bzw. „schlecht“ gelangen. Denn es ist eben genau der historische Hintergrund, der überhaupt erst zu diesen Urteilen und den damit verbundenen Werten führt. Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung in der „Herren-“ und der „Sklavenmoral“, die die Zivilisation maßgeblich beeinflusst haben und bis heute von Bedeutung sind. Diese beiden moralischen Denkweisen haben die Wörter und ihre Interpretation geprägt: Die Privilegierten empfanden als gut, was edel, vornehm und mächtig war – wie sie selbst –, während sie niedrigere Menschen als schlecht ansahen; „schlecht“ bedeutete „gemein“ und „schlicht“.

Von „Gut und Schlecht“ zu „Gut und Böse“

Die „Sklaven“, die Armen und Unterprivilegierten, formulierten den gleichen Gegensatz, aber aus einer Grundhaltung der Emotionalität und des Ressentiments heraus: Als „böse“ (anstelle von „schlecht“) bezeichneten sie, wer ihr Feind war, ihr Leben beeinträchtigte oder sie ihrer Freiheit beraubte. Im Unterschied dazu sahen sie sich selbst als „gut“. Beide Moralvorstellungen und Werteskalen basieren auf Standesunterschieden. Jedoch nahmen die „Herren“ ihr Gutsein aktiv für sich selbst in Anspruch und freuten sich an ihrer Stärke, während die „Sklaven“ mit ihrem Begriff „böse“ nur auf ihre Unterdrückung reagierten und ihre Unterlegenheit kompensieren wollten.

„Das Pathos der Vornehmheit und Distanz (...) einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem ‚Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘.“ (S. 20)

Die „Herrenmoral“ fand ihren Niederschlag vor allem im Römischen Reich, zur Zeit der Renaissance und während Napoleons Regentschaft. Die „Sklavenmoral“ – verbunden mit Rachegefühlen, Hass und Aufstand – dominierte das Juden- und das Christentum. Welche Moralsicht hat letztendlich gesiegt? In der Rückschau überwiegt, nach einem langen, 2000-jährigen Kampf, die pöbelhafte „Sklavenmoral“. Deren Früchte sind eine unermessliche Liebe für die Armen, Schwachen und selbst die Sünder. Die Sklavenmoral überwand Hass und Rache und spendete Hoffnung auf Gerechtigkeit. Die Begriffe „gut“ und „böse“ erhielten ihre bis heute gültige Bedeutung.

Ein Tier, das versprechen darf

Worin unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Nicht zuletzt darin, dass er über ein außergewöhnliches Gedächtnis verfügt. Dem verlangt er einiges ab: etwa die Fähigkeit, etwas zu versprechen oder Verantwortung zu übernehmen. Allerdings bringt dasselbe Gedächtnis auch das Vergessen mit sich. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein vordergründiges Versagen, sondern um ein positives Hemmungsvermögen: Es geht darum, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden, mit dem Ziel, genug Raum für Neues zu schaffen. Nur wer mit etwas fertig wird, hat genug Kraft, seinen eigenen Willen zu finden und zu festigen. Dieser eigene Wille wiederum kreiert ein souveränes, berechenbares Individuum, das aufgrund seiner Fähigkeiten versprechen darf. So ein freier Mensch trägt in seinem Willen auch einen Wertemaßstab, mit dem er einerseits seine Umwelt spiegelt, sie verachtet oder ehrt, und andererseits seine persönliche Stärke und Verlässlichkeit einordnet. Er entwickelt also ein Gewissen gegenüber dem eigenen Handeln.

Die Schuld und der Wille zur Macht

Wie hat sich die Ordnung in der Gesellschaft entwickelt? Mittels Schmerz und Strafe wurde sie den Menschen eingebrannt. Mit jedem neuen Machthaber und jeder neuen Ideologie wurden neue Strafen erfunden. Die Härte der Strafgesetze zeigt, dass keine Mühen und Grausamkeiten gescheut wurden, um aus dem plumpen Pöbel ein Volk von Denkern mit asketischen Idealen zu züchten. Die Wirkung blieb nicht aus: Die Bestraften begriffen ihre „Schuld“ und hatten ein schlechtes Gewissen.

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert (...)“ (S. 30)

Woher aber kommt der Begriff der Schuld? Ursprünglich hatte er eine rein materielle Bedeutung: Schuld lud auf sich, wer Schulden gegenüber einem Gläubiger hatte, wer also ein Vertragsverhältnis gebrochen hatte, das auf einem Versprechen basierte. So kam es zu Schäden für den Gläubiger und in der Folge zur Bestrafung des Schuldners, bei der dem Gläubiger – statt eines adäquaten Ausgleichs an Geld oder Land – zumindest das Wohlgefühl zugestanden wurde, seine Macht auszukosten. Zu Zeiten dieses Herrenrechts schämte sich niemand seiner Grausamkeit, die – wie überhaupt der Wille zur Macht – zu den ureigensten Charakterzügen der Menschen zählt. In dieser Zeit entstanden die moralischen Begriffe „Schuld“, „Pflicht“, „Verpflichtung“ und „Gewissen“.

Die Zivilisation und das schlechte Gewissen

Erst mit zunehmendem Einfluss der Masse relativierte sich das Ausmaß von Strafe und Rache, hielten Milde und Gerechtigkeit Einzug. Ebenso gelangte man zu der Erkenntnis, dass Strafe bei allem körperlichen oder seelischen Schmerz auch klug macht, da aus ihr Lehren für ein besseres, bewussteres Handeln zu ziehen sind. Das schlechte Gewissen, das Gefühl für Recht und Unrecht und das Wissen um Pflichterfüllung oder Wortbruch entwickelten sich unter dem Druck, in einer immer organisierteren Gesellschaft zu leben, sich nach ihren veränderten Regeln und Maßstäben richten zu müssen. Da war kein Platz mehr für natürliche, ursprüngliche Instinkte. Die Folge: Der Mensch bekam ein schlechtes Gewissen, kehrte seine Aggressionen nach innen und richtete sie gegen sich selbst.

Asketische Ideale der Künstler und Philosophen

Asketische Ideale wie etwa die Keuschheit speisen sich aus unterschiedlichen Ideologien, die den Menschen dazu anhalten, streng und enthaltsam nach nur einer einzigen Idee zu leben. Die Grundannahme: Jeder Mensch braucht ein Ziel. Solche Ideale waren jedoch nicht ausschließlich Sache der Politiker. Auch andere verherrlichten die Askese, etwa der Komponist Richard Wagner, der mit seiner Oper Parsifal die Keuschheit feierte, im Gegensatz zur von Martin Luther erkämpften Sinnlichkeit. Einflussreicher noch als die Künstler waren die Philosophen: Sie propagierten jene Ideale, die Voraussetzung für ihre geistige Tätigkeit waren, wobei sie vor allem eigene Interessen wie die Gedankenfreiheit verfolgten.

Die Rolle der Priester

Besonders viel Wert auf Entsagung und Geistigkeit haben immer schon die Priester gelegt; sie suchten ihre Erfüllung im Glauben. Darin fanden sie nicht nur ihre asketischen Ideale, sondern auch all ihre Interessen, ihren Willen und ihre Macht. Sie leiteten ihr Daseinsrecht aus göttlichen Idealen ab, diese dienten ihnen als Mittel und Erlaubnis zur Macht.

„Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?“ (S. 48)

Askese bedeutet Verneinung des Lebens. Der Asket versucht auf diese Art – paradoxerweise –, seinem ansonsten unzureichenden Dasein einen Sinn abzugewinnen. Da dieser Sinn aber höchst zweifelhaft ist, hatten die Priester eine große Chance, zu Leitfiguren zu werden: Als Hirten vieler gescheiterter Existenzen vermittelten sie Zuversicht und veränderten die Sichtweise auf die Welt. Sie verkörperten die Nächstenliebe, organisierten ihre Herde und weckten ein Gemeinschaftsgefühl. Das war umso wichtiger, als es besonders die Gescheiterten und Unglücklichen waren, die das Vertrauen zum Leben und zu den Menschen verloren hatten und die das Vertrauen der anderen mit ihren ungezügelten Ressentiments vergifteten. Die Resultate der priesterlichen Arbeit lassen allerdings zu wünschen übrig: Sie endete in Hysterien, Depressionen, Epidemien und Hexenverfolgungen, sie verdarb die seelische Gesundheit und den Geschmack der Menschen.

Kann die Wissenschaft die Askese überwinden?

Wie steht es um die Wissenschaftler, die sich selbst als gottlos sehen und strikt auf ihre eigene Wirklichkeitsphilosophie bedacht sind? Vielleicht liegt in diesen Ungläubigen, die als eine Art Gegenidealisten auftreten, die rettende Wahrheit?

„Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen (...)“ (S. 52)

Der Aufstieg der Wissenschaftler und Gelehrten geschieht in einer Zeit des Niedergangs, dessen sonstige Symptome Demokratie, Schiedsgerichte und Gleichberechtigung der Frauen sind. Das Misstrauen gegenüber allen Gläubigen und ihren Idealen führt zwingend zu dem Schluss, dass der Glaube zwar selig macht, aber dennoch täuscht, weil er Beweisbarkeit ausschließt – und das gilt auch für den Glauben und den Idealismus der Wissenschaftler. Diese geben sich als Herren über die asketischen Ideale aus und sind doch nicht besser. Gerade sie mit ihrem intellektuellen Anspruch sind es heute, die ein Gewissen haben, weil sie als freie Geister nach Wahrheit streben. Sie sind die Einzigen, die derzeit wirklich ein eigenes Ziel vor Augen haben. Indem sie die bewährten asketischen Ideale ablehnen, an ihnen rütteln und neue Ziele vorgeben, verkörpern sie wahrscheinlich sogar das bisher perfekteste Abbild eines asketischen Ideals. Auch das könnte man wissenschaftlich untersuchen, aber dazu mangelt es der Wissenschaft noch an Selbstbewusstsein und Erfahrung. Deshalb liefert auch diese Zunft noch keine befriedigende Lösung für die Überwindung des asketischen Ideals.

Der Aufstieg des Nihilismus

Vor der Zeit der asketischen Ideale war die Frage nach dem Sinn des Daseins und dem des Leidens unbeantwortet. Das Leiden an sich war für die Menschen nie ein Problem, die Frage danach, wofür man leidet, aber sehr wohl. Das asketische Ideal mit seiner Weltverneinung, seinem Abscheu vor der Sinnlichkeit und seinem Hass auf alles Menschliche gab schließlich eine Antwort und einen Sinn, es gab dem Willen des Menschen wieder eine Richtung. Darauf basierte die Macht des asketischen Ideals.

„Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: Damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt.“ (S. 76)

Letztlich war aber bisher kein Ideal wirklich geeignet, um den Menschen ausreichend Sinn zu geben. Wer sich heute für „gut“ hält, ist verblendet von zu viel Moral, die den Blick auf das Wesentliche verschließt. Dass dieser Tage der Nihilismus immer mehr Terrain erobert, ist aufgrund des Scheiterns des asketischen Ideals kein Wunder: Es fehlt schlechterdings an besseren Idealen. Der Mensch hat aber grundsätzlich einen Willen, den er in eine Richtung lenken muss: Eher will er das Nichts, als dass er gar nichts will.

Zum Text

Aufbau und Stil

Zur Genealogie der Moral besteht aus einer Vorrede und drei Abhandlungen: Die erste erläutert die Begriffspaare „Gut und Böse“ bzw. „Gut und Schlecht“, die zweite behandelt u. a. die Schuld und das schlechte Gewissen, die dritte geht der Frage nach, was asketische Ideale bedeuten. Im Gegensatz zu vielen seiner anderen Schriften bemüht sich Nietzsche hier um einen systematischen, stringent argumentierenden Text und verzichtet größtenteils auf die für ihn üblichen Aphorismen. Dass eine aggressive Streitschrift aber nicht objektiv sein kann, ist ihm durchaus bewusst. „Die drei Abhandlungen, aus denen diese Genealogie besteht, sind vielleicht in Hinsicht auf Ausdruck, Absicht und Kunst der Überraschung das Unheimlichste, was bisher geschrieben worden ist“, sagte er rückblickend in seiner Biografie Ecce homo. Mal nimmt sich Nietzsche stark zurück und zwingt sich zur Objektivität, mal verblüfft er mit Vergleichen von lyrischer Qualität, dann wieder braust er regelrecht auf und rattert seine Argumente im Stakkato herunter.

Interpretationsansätze

  • Nietzsche liefert keine Moraltheorie, sondern eine Moralkritik: Er fragt nicht danach, wie die Menschen handeln sollen, sondern lediglich nach der Entwicklungsgeschichte der Moral. Untersucht werden die Gründe dafür, warum die Menschen glauben, so oder anders handeln zu müssen.
  • Nietzsches Methode besteht darin, gängige Moralvorstellungen auf ihren wahren Kern hin zu untersuchen. Das Ziel dieser historisch-etymologischen Vorgehensweise: die hergebrachten Werte als zweifelhaft und verlogen zu entlarven und sie damit zu demontieren.
  • Nietzsche sieht die Moral als Herrschaftsinstrument. Die Unterscheidung von Gut und Böse, von Gut und Schlecht hat seiner Meinung nach keine ethische Grundlage, sondern beruht auf dem Willen, eine bestimmte Ideologie zu verankern. Hinter den moralischen Bestrebungen der Priesterkaste etwa sieht er deren „Wille zur Macht“.
  • Viele der in Jenseits von Gut und Böse bereits vorgebrachten Themen werden in der Genealogie vertieft. Nietzsches Angriffsziele bleiben dieselben: Er schießt vor allem gegen das Christentum, die Demokratie und das Mitleid.
  • Nietzsches Unterscheidung zwischen „Herren- und Sklavenmoral“ wurde als hochgradig reaktionäres Gesellschaftsverständnis interpretiert. Tatsächlich prangert er in späteren Schriften so ziemlich jede Entwicklung der Moderne – Sozialismus und Anarchismus ebenso wie Nihilismus – als dekadente Entwicklungen an. Nur die „Umwertung aller Werte“ könne dagegen helfen. Wie er sich diese vorstellte, darüber rätselt man allerdings heute noch.
  • Ein zentraler Begriff in der Genealogie ist das Ressentiment, also der versteckte Groll. Es ist für Nietzsche die Keimzelle der „Sklavenmoral“: Weil die Sklaven gegen ihre Herren nicht aufbegehren könnten, lebten sie permanent mit heimlichen Rachegefühlen – deren Einlösung sie z. B. im Christentum dem Jenseits oder der göttlichen Rache anvertrauen.
  • In der dritten Abhandlung über das asketische Ideal zeigt sich Nietzsche auch als Wissenschaftsskeptiker. In ihrem positivistischen Eifer, der nichts als Tatsachen gelten lasse, sei die Wissenschaft nicht Überwinderin, sondern Vollenderin des asketischen Ideals.

Historischer Hintergrund

Die Moralphilosophie und ihre Werte

Während sich die Moraltheologie auf kirchliche Glaubenssätze stützt, versucht die Moralphilosophie oder Ethik vernunftbasierte Gesetze aufzustellen, die ein „höchstes Gut“ bewahren sollen. Es lässt sich zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden. Erstere fragt nach dem Zweck einer Handlung: Ist der Zweck gut, dann heiligt er die Mittel. Letztere macht die Folgen einer Tat zum Maßstab moralischen Handelns. Die Geschichte der abendländischen Moralphilosophie beginnt bei Sokrates und seinem Schüler Platon. Beide glaubten an ein moralisches Ideal, das der Mensch niemals erreichen könne, wohl aber anstreben solle. Diesem sittlichen Ideal entgegengesetzt war der Epikureismus (abgeleitet vom griechischen Philosophen Epikur), der den persönlichen Seelenfrieden und die Lust als erstrebenswerte Ideale ansah. In der Neuzeit verlagerte die Moralphilosophie ihren Fokus von einer individuellen Moral hin zu einer Sozialmoral; es galt, das Zusammenleben der Menschen zu stärken und den bürgerlichen Rechtsstaat zu sichern. Die Utilitaristen des 19. Jahrhunderts, unter ihnen David Hume, John Stuart Mill und Jeremy Bentham, stellten das „größtmögliche Glück“ (als Summe des Glücks aller Menschen) ins Zentrum. Einen Höhepunkt der modernen Sittenlehre bildete die Ethik des deutschen Philosophen Immanuel Kant. Seine Morallehre gründete auf der menschlichen Freiheit und dem kategorischen Imperativ: Richtige Handlungen folgen demnach einer Maxime, die universalisierbar ist.

Entstehung

Die Kritik an moralischen Lehren zieht sich durch das ganze Werk Nietzsches. Als er im Sommer 1887 daranging, die Genealogie zu verfassen, fühlte er sich – wie seine Briefe nahelegen – intellektuell und menschlich zunehmend isoliert. Auf seine bisherigen Schriften hatte er kaum Resonanz erhalten, die Zahl der Freunde schmolz dahin. Der plötzliche Tod des seelenverwandten Universitätsrektors Heinrich von Stein im Juni 1887 traf Nietzsche besonders schwer. Seine zerrüttete Gesundheit und der Druck, endlich ein zusammenhängendes und bedeutendes Werk zu verfassen, trieben ihn zur Verzweiflung. Nietzsche las diverse Philosophen, beschäftigte sich mit der Geschichte der Zivilisation in England von Henry Thomas Buckle und mit Ernest Renans Das Leben Jesu. Eine besondere Bedeutung hatte das Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen seines ehemaligen Freundes und späteren Rivalen Paul Rée: Nietzsche entwickelte die Kernideen der Genealogie in Opposition dazu.

Dem dänischen Philosophen Georg Brandes, der eine Vorlesung über Nietzsche halten wollte, erklärte dieser, dass er das Werk am 30. Juli an seinen Verleger geschickt habe. In dieser Phase hatte sich seine Gesundheit vorübergehend stabilisiert; er konnte die gewonnene Zeit fürs Schreiben nutzen. Allerdings gab Nietzsche den Druckauftrag bereits, als er noch an Ergänzungen arbeitete. Er verwies darauf, dass er weitere Abhandlungen und eine Art Zusammenfassung seiner Moralkritik vorlegen wollte, diese wurden jedoch unter anderem Titel und erst im Kontext weiterer Werke realisiert. Am 12. November kündigte er die ersten, auf eigene Kosten gedruckten Exemplare der Genealogie an. Die Startauflag lag bei 600 Stück.

Wirkungsgeschichte

Nietzsches Wirkung setzte auf breiter Ebene erst relativ spät ein. Er selbst bezeichnete sich in der Götzen-Dämmerung als „posthumen Menschen“, der erst nach seinem Tod Bewunderung und Anerkennung ernten würde. So war es auch: Während sein Werk zu Lebzeiten unter deutschsprachigen Intellektuellen kaum Beachtung fand, hatte es später großen Einfluss nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf Kunst, Psychologie und Literatur. Die Genealogie rief ein fragwürdiges Echo hervor. Vor allem die Begriffe „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“, getoppt mit der Beschreibung einer Herrenrasse „blonder Bestien“, führte zur ideologischen Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten. Das war wohl kaum die Zielgruppe, die Nietzsche im Auge hatte, als er schrieb: „Dies Buch, mein Prüfstein für das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür.“ Abgesehen von der Instrumentalisierung seiner Antimoral durch den Faschismus waren viele Teile der Schrift auch im positiven Sinn eine Inspirationsquelle für bedeutende Denker der Moderne. Sigmund Freud griff beispielsweise die Entstehung des Gewissens aus der Unterdrückung fundamentaler aggressiver Triebe auf und widmete dem Thema die Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Nietzsches Beschreibung des Ressentiments führte zu Max Schelers Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1915). Die postmoderne französische Philosophie, insbesondere in den Personen Michel Foucault und Pierre Bourdieu, verdankt Nietzsches Genealogie ebenfalls wichtige Anregungen.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.

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