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Rede über den Geist des Positivismus

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Rede über den Geist des Positivismus

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Was ist drin?

Ratio statt Religion: die Programmschrift für die positivistische Wende in Gesellschaft und Wissenschaft.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Ordnung und Fortschritt für die menschliche Gesellschaft

Die sozialen und politischen Umwälzungen im Zuge der Französischen Revolution inspirierten den Mathematiker und Philosophen Auguste Comte zu einer bahnbrechenden Neukonzeption der noch jungen Sozialwissenschaften. Mit seiner nicht immer leicht zu verstehenden Rede über den Geist des Positivismus wollte er seine Ideen kurz und bündig darlegen. Zentrales Motiv ist der Fortschritt der Menschheit in drei Stufen. Die dritte, positivistische habe soeben begonnen, sagt Comte. Er wähnt sich also – typisch für die Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts – mitten im Goldenen Zeitalter der Vernunft. In der Rede wird er deshalb auch nicht müde, die Vorzüge des Positivismus und einer auf mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen ausgerichteten Sozialwissenschaft zu betonen. Er kämpft gegen Theologie und Metaphysik und streitet für eine allgemeine Volksbildung, für Ordnung und Fortschritt sowie für die Neuordnung der Wissenschaften. Comtes Ideen waren ebenso einflussreich wie umstritten. Das gilt in gewissem Maß bis heute: Nach wie vor lassen sich Ratio und Religion nicht einfach vereinen.

Take-aways

  • In seiner Rede über den Geist des Positivismus fasst Auguste Comte die Ideen des Positivismus zusammen.
  • Inhalt: Die Menschheit gelangt zum Positivismus, nachdem sie ein theologisches und ein metaphysisches Stadium durchlaufen hat. Der Positivismus beruft sich nur auf wahrgenommene Tatsachen und schließt Religion und Aberglauben aus. Dank klarer, positivistischer Erkenntnis lässt sich die Gesellschaft planen und verbessern, lassen sich Ordnung, Fortschritt und Bildung für alle Schichten etablieren.
  • Comtes Rede hatte den Zweck, seine Philosophie einem großen Publikum zugänglich zu machen.
  • Er hielt sie 1844 anlässlich einer Astronomievorlesung.
  • Die Kernbegriffe Ordnung und Fortschritt gehören zusammen: kein Fortschritt ohne Ordnung, keine Ordnung ohne das Ziel des Fortschritts.
  • Jede individualistische Philosophie oder Theologie war Comte ein Gräuel: Für ihn bestand Fortschritt immer im Fortschritt der Gesellschaft.
  • Comte wies dem Positivismus und der Soziologie die Aufgabe zu, künftige soziale Entwicklungen vorherzusehen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
  • Er versuchte, soziale Phänomene wie Naturphänomene zu betrachten. Daran entzündete sich die Kritik am Positivismus.
  • Comtes Wortpaar Ordnung und Fortschritt ist als Spruchband „Ordem & Progresso“ auf der Flagge Brasiliens zu sehen.
  • Zitat: „So besteht der wahre positive Geist vor allem darin zu sehen um vorauszusehen (…)“

Zusammenfassung

Das theologische Stadium

Die Geistesentwicklung sowohl des Individuums als auch der gesamten Menschheit lässt sich in drei Zeitabschnitte unterteilen. Gemäß diesem Dreistadiengesetz durchläuft der Mensch zuerst das theologische, dann das metaphysische und zuletzt das positive Stadium. Diese drei Stufen sind die Basis jeder erdenklichen Theorie, die man in den Wissenschaften finden kann. Die Grundstufe der Erkenntnis bildet das theologische Stadium: Mangels besseren Wissens behilft sich der Mensch damit, die Phänomene der Welt durch übernatürliche Kräfte zu erklären. Das theologische Stadium wiederum durchläuft nacheinander drei verschiedene Phasen:

  • Beim Fetischismus schreibt der Mensch allen äußeren Erscheinungen, z. B. den Himmelskörpern, ein ähnliches Dasein zu wie den Menschen. Dies führte in der Geschichte der Menschheit beispielsweise zur Verehrung von Himmelskörpern.
  • Beim Polytheismus legt der Mensch eine große Einbildungskraft an den Tag, indem er den Dingen das Leben wieder entzieht und es auf fiktive Wesen überträgt – auf Götter, die in den Lauf der Welt eingreifen.
  • Beim Monotheismus lässt die überbordende menschliche Fantasie wieder nach und er kommt zur Erkenntnis, dass alle Phänomene auf nur ein Wesen zurückzuführen bzw. an unveränderliche Gesetze gebunden sind.

Das metaphysische Stadium

Der Instinkt, sich stets auf die Suche nach neuen Antworten zu begeben, sorgte im Lauf der Zeit für eine Weiterentwicklung des Geistes. Ohne diese wäre man zu maßgeblichen Erkenntnissen der Menschheit gar nicht erst gekommen. Intelligenz und Philosophie traten ins metaphysische Stadium ein. Im Denkansatz folgt die metaphysische Untersuchung zwar noch der theologischen Anschauung, doch sie konzentriert sich auf tatsächliche Strukturen und Prinzipien von Phänomenen und Ursachen und beschäftigt sich zudem mit dem Sinn und Zweck dieser Wesenheiten. Übernatürliches bleibt zur Interpretation der Welt erlaubt, aber es werden auch neue, abstrakte Ideen verfolgt. An die Stelle Gottes tritt die Natur als übergeordnete Wesenheit und als Urheberin der natürlichen Phänomene. Das metaphysische Stadium stellt eine Art Zwischenphilosophie analog zur menschlichen Pubertät dar: Sie hinterfragt frühere Antworten, löst sie teilweise auf und ebnet somit den Weg zum dritten und letzten Stadium.

Das positive Stadium

Die Denkweise des Menschen wandelte sich von den beiden Vorstufen hin zum positiven Stadium. Dieses ist das fortschrittlichste. Der Begriff „Positivismus“ umfasst alle Erkenntnisse, die die tatsächlichen wechselseitigen Verbindungen der Phänomene untereinander ans Licht bringen, ohne den Hintergründen ihrer Entstehung oder ihrer letztendlichen Bestimmung auf die Spur kommen zu können. Das heißt: Der frühere Zweck der Philosophie, mittels Einbildungskraft alles erklären zu wollen, wird aufgegeben. Stattdessen geht es ab sofort um eindeutige, reale Beobachtungen und Beweise. Erkenntnis beruht nur auf Beobachtungen dessen, was ist.

„Gemäß dieser grundlegenden Lehre müssen alle unsere Theorien, welcher Art sie auch sein mögen, beim Individuum wie bei der Gattung notwendig nacheinander drei verschiedene theoretische Stadien durchlaufen, die (...) als theologisches, metaphysisches und positives (Stadium) hier (...) hinlänglich genau bezeichnet sein können.“ (S. 5)

Die Entwicklung hin zum Positivismus verläuft kollektiv und sozial. Entsprechend groß ist ihre Bedeutung für die Menschheit als Ganzes. Das positivistische Denken richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen und bestimmt den Ordnungsrahmen der Gesellschaft. Wissenschaft bedeutet nicht mehr das Anhäufen von Tatsachen ohne Relation zueinander, sondern die Ergründung von Ursache und Wirkung. Endzweck der positiven Wissenschaft ist die rationale Voraussicht: Mittels bekannter Zusammenhänge sollen künftige Entwicklungen vorhergesehen werden.

Die Aufgaben des Positivismus

Der Positivismus soll helfen, jedes Individuum sowohl in theoretischen als auch in praktischen Fragen zu unterstützen. Er ermöglicht eine Harmonie des Geistes: theoretisches und aktives Leben kommen gleichermaßen zu ihrem Recht. Allerdings kann unser Geist nicht objektiv sein, d. h. er kann nicht zugleich das Universum erschließen und unser irdisches Leben erforschen. Er ist subjektiv und konzentriert sich ausschließlich auf irdische Belange. Für die Menschheit macht das Sinn: Die Forschungen des Positivismus ermöglichen ein einheitliches System und eine menschliche Ordnung und sorgen damit für sozialen Einklang. Harmonie entsteht, wenn die Wissenschaft Techniken hervorbringt, die der Mensch politisch und moralisch begreift und entsprechend einsetzt. Dieser soziale Zweck veredelt jede herkömmliche Forschung.

„Die Metaphysik ist also in Wahrheit im Grunde nichts anderes als eine Art durch auflösende Vereinfachungen schrittweise entnervter Theologie.“ (S. 13)

Die positive Wissenschaft tritt automatisch an die Stelle der Theologie. Denn Theologie und Wissenschaft sind nicht vereinbar: Auf der einen Seite regiert ein göttlicher Wille, der schwankend und unberechenbar ist und als Zukunftsschau nur die Weissagung zulässt. Auf der anderen Seite herrschen Naturgesetze, deren Regelmäßigkeiten die Zukunft planbar und berechenbar machen.

Positivismus und gesunder Menschenverstand

Der Begriff „positiv“ bündelt vier Hauptmerkmale:

  • Tatsächlichkeit (statt Einbildung),
  • Nützlichkeit (statt Müßigkeit),
  • Gewissheit (statt Unentschiedenheit) und
  • Genauigkeit (statt Ungewissheit).
„So besteht der wahre positive Geist vor allem darin zu sehen um vorauszusehen (...)“ (S. 20)

Diese Merkmale unterscheiden den Positivismus eindeutig von anderen Philosophien. Dazu kommt sein organischer Charakter, der ihn vom metaphysischen, negativen Denken abhebt, weil er statt Zerstörung eben Organisation zulässt. Der Positivismus ist nicht dogmatisch und besitzt keinen Absolutheitsanspruch, verliert aber bei aller Toleranz für andere Ideen sein eigenes Ziel nicht aus den Augen. Letztlich entsprechen die Merkmale des Positivismus den Prinzipien der Vernunft, wie sie die Menschen trotz theologischer oder metaphysischer Einflüsse im Alltag immer schon angewendet haben. Heute geht es darum, diese Prinzipien allgemein und in jeder Hinsicht umzusetzen. In allen sozialen und moralischen Aspekten ist den Prinzipien des Positivismus zu folgen. Hieraus entsteht ein für alle Menschen praktikables System der positiven Philosophie.

Ordnung und Fortschritt

Es reicht nicht, unsere Erkenntnisse auf abstrakte Theorien zu stützen. Die Theorien müssen auch pragmatisch betrachtet werden, z. B. im historischen Kontext. Universitäten und Regierungen wurden in den letzten fünf Jahrhunderten immer mehr vom metaphysischen Geist zerrüttet. Die Macht an den Universitäten verlagerte sich weg von ihren priesterlichen Gründern hin zu den Gelehrten und die Macht in der Politik weg von den Richtern hin zu den Advokaten. Es kam zu einem kollektiven Ruf nach politischer und sozialer Ordnung, dem sich schließlich alle Schichten anschlossen, um eine Verbesserung ihrer sozialen Lebensumstände zu bewirken. Doch unter den gegenwärtigen Umständen in Wissenschaft und Politik bleiben Ordnung und Fortschritt eine Illusion. Allein eine aufgeschlossene positivistische Philosophie kann eine Versöhnung der beiden Begriffe herbeiführen: Ordnung wird zur Bedingung des Fortschritts und der Fortschritt zum Ziel der Ordnung.

Positive Moral stärkt das öffentliche Wohl

Will man den Menschen Orientierung geben, spielt die Moral eine wesentliche Rolle. Nachdem sich in der Antike die Religion von der Politik gelöst hatte und sich im Mittelalter durch Einflüsse des Katholizismus erste echte Regeln für ein privates und soziales Verhalten herausbilden konnten, wurde im Folgenden jede weitere ethische Entwicklung durch den Konflikt zwischen intellektuellem Anspruch und natürlicher Sittlichkeit erstickt. Ein Mehr an Religion schadet der menschlichen Ethik: Obwohl die Theologie im Lauf der Geschichte immer weiter zurückgedrängt wurde, erlebte die Moral große Fortschritte, was beweist, dass sie keinesfalls an die Theologie gebunden ist. Es war vielmehr das Zusammenspiel von positivem Geist und Rationalität, das die moralische Entwicklung beflügelte.

„Eine unmittelbare Spezialuntersuchung (...) würde uns übrigens leicht erkennen lassen, dass allein die positive Philosophie schrittweise das hohe Ziel einer universellen Vereinigung verwirklichen kann (...)“ (S. 31)

Wir müssen uns von alten Denkweisen lösen: Die alte moralische Haltung war individualistisch und egoistisch, weil sie das Heil nur für die einzelne Person suchte. Die positivistische Moral schaut darüber hinaus auf das öffentliche Wohl, das jede einzelne Existenz einbindet. Positivismus ist grundsätzlich sozial und für die gesamte Menschheit bedeutsam.

Bildung für alle

Um der positivistischen Schule zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine bessere Bildung des gesamten Volks nötig. Immer noch stehen Theologen, theoretische Denker und engstirnige Wissenschaftler der Ausbreitung der neuen Lehre im Weg. Diese ungünstige Konstellation macht es notwendig, eine neue Erziehung für das ganze Volk zu gestalten. Dabei soll vermieden werden, dass Einzelnen ein spezielles Fachstudium vorbehalten ist. Stattdessen soll jeder Mensch, wie schon Molière sagte, Klarheit über alles bekommen. So werden einerseits die Wissenschaften beflügelt und andererseits wird eine kompetente und gelehrte öffentliche Meinungsbildung ermöglicht. Besonders die bisher benachteiligten und von jeder Bildung ausgeschlossenen Proletarier werden hiervon profitieren.

Grundsteine einer neuen Volkspolitik

Der neue, positivistische Geist wird durch die Aufhebung der Klassen und die Einführung der Bildung für alle die Politik maßgeblich beeinflussen. Aufgrund ihrer Klasse und ihrer Lebensumstände wurden die Proletarier fortwährend unterdrückt und von der Macht ferngehalten. Alle Kämpfe um politische Macht wurden bislang ausschließlich innerhalb der Mittelschicht ausgetragen; das gemeine Volk blieb unbeachtet und hatte nie eine Chance, Teilhabe an der Macht zu erhalten. Worauf aber können die Angehörigen der Unterschicht hoffen? Sie haben ein Recht auf Erziehung und ein Recht auf regelmäßige Arbeit.

„Diese spontane Tendenz zur unmittelbaren Herstellung einer vollständigen Harmonie zwischen theoretischem und aktivem Leben muss schließlich als das erfreulichste Privileg des Geistes des Positivismus angesehen werden (...)“ (S. 34)

Es ist die Aufgabe positivistischer Philosophie und Politik, diese Rechte durchzusetzen und alle auftretenden Probleme zu lösen. Der Positivismus muss in den Schulen, Universitäten und Gemeinden Einzug halten, um zunächst eine geistige, dann eine moralische und schließlich eine politische Umwälzung auszulösen. Er hat stets auch den Erhalt von innerer Ordnung und äußerem Frieden im Blick, weil sie ihm als die besten Bedingungen für geistige und sittliche Erneuerung erscheinen.

Die Ordnung der Wissenschaften

Um die moderne Gesellschaft durch den Positivismus zu erneuern, muss die Einhaltung der richtigen Reihenfolge aller Wissenschaften beachtet werden. Ihre Ordnung unterliegt einer dogmatischen und einer historischen Bedingung. Die dogmatische lautet: Jeder Zweig ist abhängig von den Erkenntnissen des vorherigen. Die historische: Der Fortschritt entwickelt sich von den ältesten zu den jüngsten Disziplinen. Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen haben sich parallel zur menschlichen Gattung entwickelt, gemäß dem „enzyklopädischen Gesetz“. Die Grundlage für alle Wissenschaft bildet die Mathematik. Das Ziel der Wissenschaft ist die Soziologie, die sich aller anderen Wissenschaften bedient. Die Rangfolge lautet also: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie.

Vom Dreistadiengesetz zur Zukunft des Positivismus

Schaut man von dieser wissenschaftlichen Hierarchie zurück auf das anfangs formulierte Dreistadiengesetz, ist leicht ersichtlich, dass die beiden Theorien einander ergänzen und miteinander verzahnt sind. Der Positivismus nimmt nicht für sich in Anspruch, bereits ein fertiges System für Volkserziehung, Individualerziehung und Kollektiventwicklung zu bieten – aber er will wegweisende Impulse für diese Ziele liefern.

Zum Text

Aufbau und Stil

Comte verfolgte mit seiner Rede über den Geist des Positivismus den Zweck, seine Lehre einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Er hielt sie anlässlich einer Astronomievorlesung. Das erklärt, warum er dem Text eine Schlussbetrachtung anfügte, in der es vor allem um den Einfluss des Positivismus und seiner didaktischen Methode auf den Unterricht der Astronomie geht. Die Rede an sich ist jedoch nicht spezifisch astronomisch, sondern rekapituliert vor allem Ideen aus Comtes langjähriger Beschäftigung mit dem Positivismus. Der Aufbau ist dreigliedrig: Im ersten Teil widmet sich Comte ausführlich dem Dreistadiengesetz und stellt die Überlegenheit des Positivismus als neuer und zeitgemäßer wissenschaftlicher Methode heraus. Im zweiten Teil geht es um die nähere Bestimmung des Positivismus als sozialreformatorisches Instrument, das Ordnung und Fortschritt zu etablieren hilft. Im dritten Teil wird eine neue, allgemeine Volksbildung thematisiert, die schließlich den Fortschritt der positivistischen Wissenschaften beflügeln soll. Stilistisch ist Comtes Rede sehr herausfordernd: Der Leser muss viel Geduld aufbringen, um der Argumentation folgen zu können und bei vielen Abschweifungen, unkonkreten Andeutungen und umständlichen Formulierungen des Autors den roten Faden nicht zu verlieren.

Interpretationsansätze

  • Zwei Schlüsselwörter in Comtes Text sind „Ordnung“ und „Fortschritt“, die in der soziologischen Forschung auch mit den Begriffen „Statik“ und „Dynamik“ ausgedrückt werden. Comte sah vergangene Revolutionen als notwendig an, denn durch sie gelangte die Menschheit erst auf den Weg des Fortschritts. Nur mit einer festen Ordnung aber glaubte er diese Errungenschaften auch sichern zu können. Mit anderen Worten: Der Fortschritt muss systematisiert werden, um nicht ins Leere zu laufen.
  • Die Vorstellung des „savoir pour prévoir“, also des Wissens, um vorherzusehen, weist dem Positivismus und der von Comte zur Krone der Wissenschaften gemachten Soziologie die Aufgabe zu, künftige soziale Entwicklungen vorauszusehen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
  • Bei Comte ist – ähnlich wie bei Marx – der Mensch immer Teil eines Kollektivs. Nicht zuletzt deshalb wettert er fortwährend gegen eine metaphysische und theologische Vorstellung der Moral, in der der Einzelne nur sein eigenes Heil suche.
  • Die Menschheit entwickelt sich gemäß Comte nach dem Dreistadiengesetz. Comtes Kritiker sehen darin aber nur eine bloße Typologie vorgefundener gesellschaftlicher Formen und kein wirkliches Gesetz. Der Vorwurf: Comte habe der Wirklichkeit sein Schema einfach übergestülpt, ohne beweisen zu können, dass sich jede Gesellschaft zwangsläufig nach diesem Gesetz entwickle. Tatsächlich gelang es ihm nicht zu erklären, warum sich verschiedene Gesellschaften in derselben Epoche auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus befinden.
  • Im Rahmen des Positivismus werden soziale Phänomene wie Naturphänomene betrachtet. Beide sind unveränderlichen Gesetzen unterworfen. Kritiker sehen darin einen fundamentalen Denkfehler: Denn soziale Phänomene sind dem Menschen nicht in der gleichen Weise gegeben wie die Phänomene der Objektwelt; vielmehr werden sie durch das menschliche Bewusstsein hervorgebracht, das sich immer in einem ganz bestimmten sozialen und historischen Kontext befindet.

Historischer Hintergrund

Frankreich zwischen Revolution und Restauration

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich in aufgeklärten Ländern die Überzeugung durch, dass die Strukturen von Gesellschaften und politischen Systemen auf menschliches Handeln zurückzuführen seien – nicht auf eine göttliche Fügung. Eine systematische Sozialwissenschaft verhieß die Chance, durch Beobachtung und Wissensaufbau die Gesellschaft perfekt gestalten zu können. Dass die Sehnsucht danach in Frankreich besonders groß war, hat historische Gründe. Zwischen 1789 und 1848 wechselte das dortige politische Systems fast fortwährend. Ziel der Französischen Revolution von 1789 war es gewesen, die Ideale der Aufklärung durchzusetzen und die Monarchie und Willkürherrschaft abzuschaffen. Es gelang ihr aber nicht, ein neues, politisch stabiles System aufzubauen. Die Erste Republik versank in der Terrorherrschaft von Maximilien Robespierre.

1799 gelangte Napoleon Bonaparte an die Macht. Er errichtete ab 1804 sein Kaiserreich. Nach seiner Abdankung 1814 kehrte Ludwig XVIII. aus dem Exil zurück auf den Thron. In der folgenden Restaurationszeit sollten die Uhren auf die Zeit vor der Revolution zurückgestellt werden. Als Ludwig 1824 starb, ließ sich sein Bruder zum König Karl X. krönen. Er betrieb die Restauration noch vehementer: Die Emigranten, die vor der Revolution geflohen waren, stattete er mit besonderen Privilegien aus, er schränkte das Wahlrecht ein und hob die Pressefreiheit auf. Als Reaktion fegte 1830 die so genannte Julirevolution durch Paris, an deren Ende Karl X. den Thron räumen musste. 1848 kam es erneut zur Revolution und zur Absetzung des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. Frankreich bekam seine Zweite Republik. Bei so viel Hin und Her lautete einer der dringlichsten Fragen für die französische Gesellschaft, wie man den Übergang von einer Ordnung zu einer anderen gestalten konnte.

Entstehung

Einen großen Einfluss auf Comtes Philosophie übte der Frühsozialist Henri de Saint-Simon aus, dem er zeitweise als Sekretär diente. Comte nutzte viele von Saint-Simons sozialutopischen Gedanken und versuchte sie mit der Klarheit der von ihm favorisierten mathematischen Methode zu verbinden. Nach dem Zerwürfnis mit Saint-Simon stand Comte ab 1824 aber allein da: ohne Professur, ohne Schüler und ohne festes Einkommen. Alles, was er hatte, waren seine positivistischen Ideen, die er systematisch erforschen und publizieren wollte. Er begann mit einer privaten Vorlesungsreihe über den Positivismus. Der Hörsaal war sein Wohnzimmer; seine Zuhörer waren z. T. berühmte Wissenschaftler. Schon nach kurzer Zeit zwangen ihn jedoch ein Nervenleiden und schwere Depressionen zum Aufenthalt in der Psychiatrie. Nach zehn Monaten in der Anstalt machte er einen Selbstmordversuch. Später gelang es ihm, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen. Er lebte von Zuwendungen von Freunden und privaten Gönnern. Die Vorlesungen erschienen als Cours de philosophie positive zwischen 1830 und 1842 in Buchform. Die Rede über den Geist des Positivismus bildet ein Konzentrat der wichtigsten Ergebnisse des Cours.

Wirkungsgeschichte

Die in Comtes Rede formulierten Ideen einer allgemeinen Volksbildung auf Grundlage des Positivismus wurden vom französischen Erziehungsminister Jules Ferry im Rahmen einer Schulreform teilweise umgesetzt. Allgemeine Schulpflicht und der Wegfall des Schulgeldes waren Teil der Reform, genauso wie die Hinwendung zum Laizismus, also dem religionsfreien Schulunterricht, der wiederum auf der Trennung von Staat und Kirche fußte. Karl Marx sprach 1866 in einem Brief an Friedrich Engels vom „Scheißpositivismus“ und bedauerte, dass auch er nun Comte lesen müsse, weil „Engländer und Franzosen so viel Lärm um den Kerl“ machten. Comte selbst hatte von diesen Entwicklungen nichts mehr: Die akademische Anerkennung blieb ihm zeitlebens versagt.

Der Positivismus beeinflusste gleichwohl viele Soziologen und Philosophen. Spielarten sind der Empiriokritizismus und der einflussreiche Neopositivismus bzw. logische Empirismus des 20. Jahrhunderts, der vor allem durch den so genannten Wiener Kreis bekannt wurde. Heute haben die Weiterentwicklungen des Positivismus die ursprünglichen Theorien ihres Gründers überlagert.

Soziologen schätzen Comte als Begründer ihrer Disziplin. Die von ihm angestrebte Stellung der Soziologie als Königsdisziplin unter den Wissenschaften wurde jedoch nie verwirklicht. Außerdem hat der Begriff „Positivismus“ im heutigen Sprachgebrauch wenig mit der ursprünglichen Bedeutung gemein und wird bisweilen negativ verwendet, z. B. als Bezeichnung unkritischer Wissenschafts- und Tatsachengläubigkeit. Immerhin: Die Gründer der Republik von Brasilien waren noch 1890 so überzeugte Comtianer, dass sie das von ihm geprägte Wortpaar „Ordnung und Fortschritt“ als Spruchband mit der Aufschrift „Ordem & Progresso“ in die Flagge Brasiliens integrierten.

Über den Autor

Auguste Comte wird am 19. Januar 1798 in Montpellier geboren. Sein Elternhaus ist von katholischer und kleinbürgerlicher Strenge geprägt. Der junge Comte soll eine Laufbahn im Verwaltungsdienst einschlagen. Zunächst stehen die Zeichen dafür nicht schlecht: 1814 schließt er das Gymnasium in Montpellier erfolgreich ab und darf die Pariser Eliteschule École Polytechnique besuchen. Ihre naturwissenschaftliche Ausrichtung imponiert Comte – hier findet er den Initialfunken für seine späteren Werke. 1816 wird die Schule jedoch wegen einer Studentenrevolte geschlossen. Comte wird zum Autodidakten und arbeitet als Privatlehrer für Mathematik. Sein Ziel, einen ordentlichen Lehrstuhl an einer Universität zu erhalten, wird er sein ganzes Leben lang nicht erreichen. 1817 lernt er den Politiker und Schriftsteller Henri de Saint-Simon kennen, dessen Sekretär er wird. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die in gemeinsamen Arbeiten gipfelt. Comte konkretisiert seine Idee des Positivismus und veröffentlich 1822 einige Ansätze im Rahmen eines Werks von Saint-Simon. Die Freundschaft zwischen Comte und Saint-Simon weicht aber einer immer größeren Rivalität. 1824 kommt es zum Bruch. Comte nimmt seine Lebensweise als Schriftsteller und Privatgelehrter wieder auf. Er gibt private Vorlesungen über den Positivismus und veröffentlicht die Manuskripte bis 1842 unter dem Titel Cours de philosophie positive. Comte arbeitet einige Jahre als Repetitor für Analyse und Mechanik an der École Polytechnique und als Mathematiklehrer an einer Privatschule. Nach einer unglücklichen Ehe und der unerwiderten Liebe zur Clotilde de Vaux, die zwei Jahre nach der ersten Begegnung stirbt, entwickelt Comte die Idee einer „Religion der Menschheit“ und gründet kurz nach der Revolution von 1848 die Positivistische Gesellschaft, in deren Rahmen er weitere Vorlesungen hält. Am 5. September 1857 stirbt er in Paris an Magenkrebs.

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