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Sexualität und Wahrheit

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Sexualität und Wahrheit

Der Wille zum Wissen. Der Gebrauch der Lüste. Die Sorge um sich. Die Geständnisse des Fleisches

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wer bestimmt, was normal und was pervers ist? Foucault zeigt, wie Macht, Wissen und Sexualität zusammenhängen.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Postmoderne

Worum es geht

Ein viel diskutiertes Tabu
In Sexualität und Wahrheit analysiert Foucault, wie die Macht der Gesellschaft unsere Vorstellung von Sexualität bestimmt. Die abendländische Kultur und insbesondere das Christentum haben den Sex durch Beichte, Geständnis und Kontrolle gezähmt. Das Problematische daran ist nicht, dass Sex zum Tabu geworden wäre – das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn Sexualität wurde und wird stark thematisiert: in der Kirche durch die Beichte, in der Schule durch Verbote, in der Politik durch Heiratskontrollen und in den Jugendrebellionen durch den ständigen Ruf nach Freiheit. Das Problem ist, dass wir gar nicht merken, wie stark unsere Vorstellung von Sex, davon, was „normal“ und was „pervers“ ist, durch genau diese Diskurse bestimmt wird, in denen sich die Machtstrukturen unserer Gesellschaft entfalten. Gibt es einen Ausweg? Möglicherweise ja, meint Foucault: Philosophie und Gesellschaftstheorie müssen sich auf die Antike besinnen, als sich die Menschen als freie Subjekte entwarfen, die sich ihre Auffassung von Sexualität selbst gaben. Was immer man von dieser Rückbesinnung halten mag – Foucaults Werk ist zweifellos ein Klassiker des postmodernen Denkens.

Take-aways

  • Sexualität und Wahrheit ist eines der Hauptwerke des poststrukturalistischen Philosophen Michel Foucault.
  • Inhalt: Gesellschaftliche „Dispositive“ beeinflussen unsere Haltung zum Sex. Sie entstehen aus Machtstrukturen und der Art, wie üblicherweise über Sex geredet wird. Staat und Gesellschaft haben damit Macht über den Einzelnen und bestimmen, wie er sich sexuell verhalten und sich fortpflanzen soll. Diese „Bio-Macht“ wird jedoch nicht durch Unterdrückung und Strafe ausgeübt, wie die gängige These von der Repression der Sexualität behauptet.
  • Das Werk besteht aus vier Bänden, die in einem Zeitraum von 42 Jahren erschienen sind.
  • Es stützt sich auf Quellen der griechischen und römischen Antike sowie des frühen Christentums.
  • Bei Foucault prominent ist der Begriff des Diskurses: Diskurse beinhalten das, was Menschen landläufig über bestimmte Themen denken.
  • Der Autor war eine Art Star des Poststrukturalismus. Er ist einer der meistzitierten Autoren dieser Denkrichtung.
  • Als Homosexueller lehnte er sich gegen die Gängelung der Sexualität auf.
  • Foucault wurde teilweise als Vertreter des Irrationalen sowie als Feind der Aufklärung und der Moderne kritisiert.
  • Er starb 1984 an den Folgen von Aids.
  • Zitat: „Die Macht ist wesenhaft das, was dem Sex sein Gesetz diktiert.“

Zusammenfassung

Der Wille zum Wissen

Unsere heutige Haltung zur Sexualität wird gern durch die „Repressionshypothese“ erklärt: Bis zum 17. Jahrhundert hätten die Menschen noch freier und offener mit ihrer Sexualität umgehen können. Mit der Entstehung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaften habe dann eine tiefgreifende Veränderung die Gesellschaft erfasst: Der Sex sei unterdrückt, in bestimmte Räume verbannt und aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt worden. So weit die gängige „Repressionshypothese“. Möglicherweise gibt es aber eine ganz andere Erklärung für unser heutiges Verhältnis zur Sexualität.

„Ein Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter eines anderen Gesetzes schwingt mit im Diskurs über die Unterdrückung des Sexes.“ (Bd. 1, S. 14)

Auffällig ist, dass das Reden über Sex heute per se als subversiv gilt, da angenommen wird, dass in der herrschenden Ordnung dieses Reden unterdrückt werden würde. Während früher Theologen die Heuchelei in zwischenmenschlichen Beziehungen gegeißelt haben, wird heute allenthalben über die Heuchelei in Sachen Sex gesprochen. Dabei ergibt sich ein Paradox: Die Gesellschaft spricht seit einem Jahrhundert laut, anhaltend und leidenschaftlich über das, „worüber man nicht spricht“. Die Frage lautet also nicht: Warum werden wir unterdrückt? Sondern: Wieso sagen wir ständig, dass wir unterdrückt werden? Der Diskurs über Sex ist zu analysieren, nicht die Repression.

„Zensur des Sexes? Eher hat man einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.“ (Bd. 1, S. 29)

Über Sex zu sprechen hat Tradition. Die Kirche war es, die ein zwanghaftes Reden darüber zu kultivieren begann: Wer beichtet, muss bis in alle Einzelheiten schildern, was vorgefallen ist, sogar wenn es sich nur um Träume handelt. Damit wurde der Grundstein für die abendländische Kultur des Geständnisses gelegt. Im Geständnis wird der Sex durch die Mühle der Worte gedreht und damit für die Gesellschaft gezähmt. Was die Kirche angefangen hat, wurde durch literarische Geständnisse weitergeführt. Der Sex wurde „diskursiviert“.

„Polizei des Sexes: Das ist nicht das strikte Verbot, sondern die Notwendigkeit, den Sex durch nützliche und öffentliche Diskurse zu regeln.“ (Bd. 1, S. 31)

In der Neuzeit nehmen sich öffentliche Institutionen des Themas an. Mediziner erforschen die Päderastie und zerren Abarten des Sexuellen ans Licht – um sie zu verstehen und durch das Verstehen zu kontrollieren. Regierungen sehen ihre Untertanen zunehmend als „Bevölkerung“, deren Verhalten sie quantifizieren können, um daraus wirtschaftliche Macht abzuleiten. Dazu gehört die Kontrolle der Geburtenrate, der Heiraten und damit auch der Sexualität: Sex soll sich nützlich machen, der Staat übt eine „Bio-Macht“ aus.

„Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ (Bd. 1, S. 40)

Parallel dazu werden sexuelle Abweichungen mit Geisteskrankheit in Zusammenhang gebracht oder in Straftatbeständen festgehalten. Auch damit wird der Sex an öffentliche Institutionen wie die Rechtsprechung oder die Medizin geknüpft, also an den gesellschaftlichen Diskurs: Dieser bestimmt, wie Dinge gesehen und eingeordnet werden. Die Regeln betreffen mittlerweile unterschiedlichste Formen der Geschlechtlichkeit: War man bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur darauf bedacht, den ehelichen Sex zu reglementieren, wurden später die verschiedenen Abarten ans Licht gehoben, identifiziert, kategorisiert und mit Sanktionen belegt.

„Die moderne Gesellschaft ist pervers, aber nicht trotz ihres Puritanismus oder als Folge ihrer Heuchelei; sie ist wirklich und direkt pervers.“ (Bd. 1, S. 51)

In unserer Zivilisation hat sich keine erotische Kunst, keine „ars erotica“, entwickelt wie etwa in der chinesischen, der indischen oder der arabisch-islamischen Gesellschaft. Vielmehr entstand eine „scientia sexualis“, eine Sexualwissenschaft. Anstatt sexuelle Praktiken zu beschreiben und damit eine Liebeskunst zu tradieren, widmet sie sich dem Geständnis, der Selbstprüfung und der Wahrheitssuche, die vor allem eine Enthüllung des Verborgenen ist. Dieses Denkschema überträgt sich auf die philosophische Praxis. Die Rede vom Sex ist symptomatisch für den Willen zum Wissen generell: Sie ist geschürt von dem Verdacht, dass der Untersuchungsgegenstand etwas vor uns verbergen will.

„Die Macht ist wesenhaft das, was dem Sex sein Gesetz diktiert.“ (Bd. 1, S. 85)

Dass die Repression mit der Entwicklung des Kapitalismus Hand in Hand geht, stimmt nicht. Sex wird nicht aus ökonomischen Gründen unterdrückt. Er wird vielmehr produziert. Seit dem 18. Jahrhundert ist Sexualität eine Staatssache geworden, die alle öffentlichen Bereiche durchzieht, etwa die Bildungseinrichtungen. Tatsächlich ist die „Repressionshypothese“ selbst ein Produkt und Ausdruck der Verquickung zwischen Wissen, Macht und Sexualität. Sie ist nicht ernst zu nehmen, weil sie davon absieht, sich außerhalb des zu Analysierenden zu begeben. Stattdessen wird sie selbst durch das „Sexualitätsdispositiv“ bestimmt, das unseren Umgang mit dem Sex steuert.

Der Gebrauch der Lüste

Im antiken Griechenland gab es vier Arten, das sexuelle Verhalten zu stilisieren: die Diätetik (eine „Diät der Lüste“) für den Körper, die Ökonomik für die Ehe, die Erotik für die Knabenliebe und die Philosophie für die Wahrheit. Es waren dies vier „Erfahrungsachsen“, die das Verhältnis zum eigenen Körper, zur Ehefrau, zum Knaben und zur Wahrheit betrafen. Die Sexualität wurde als moralisches Problem gesehen, das es zu regeln galt, da es das Leben im Staat beeinflusste. Zentral sind in diesem Zusammenhang vier Begriffe: „aphrodísia“, die Akte und die Berührungen, die Lust verschaffen; „chrêsis“, die richtige, geziemende Ausübung; „enkráteia“, die Beherrschung, und „sophrosýne“, die Mäßigung und Weisheit. Diese vier Elemente flossen in einer Sittenlehre für die kleine männliche Oberschicht zusammen. Das Sexuelle galt dabei nicht als etwas per se Schlechtes, sondern als etwas Natürliches – als eine Art der Vervollkommnung des Menschen.

„Die Mäßigung und der Mut sind also beim Mann eine volle Tugend der Herrschaft; Mäßigung und Mut der Frau sind hingegen Tugenden der Unterordnung – d. h., sie haben im Mann ihr vollkommenes Modell und zugleich das Prinzip ihrer Verwirklichung.“ (Bd. 2, S. 112)

Weil Sexualität im alten Griechenland zwar durchaus positiv gesehen wurde, aber auch immer das Potenzial zur Ausschweifung hatte, gab es Regeln, die den Exzess besonders in der Ehe eindämmten. Diese sammelten sich unter dem Begriff „Gebrauch der Lüste“, „chrêsis aphrodisíon“, der sich auf die Art und Weise des Vollzugs, aber auch auf den Stellenwert bezog, den Sex im Leben eines Menschen einnehmen sollte. All dies hing stark von der gesellschaftlichen Stellung ab: Für hochgestellte, also auch politisch-gesellschaftlich aktive Persönlichkeiten galten in der griechischen Antike strengere Regeln der Mäßigung. Allerdings stellten diese Regeln keine universelle Gesetzgebung dar, sondern wurden als eine Art Kunst begriffen.

„Wer in der Liebe das meiste Wissen besitzt, wird auch der Meister der Wahrheit sein; und es wird seine Aufgabe sein, den Geliebten zu lehren, wie er über seine Begierden triumphieren und stärker als er selber werden kann.“ (Bd. 2, S. 304)

Zum Zweck der Selbstbeherrschung nutzten die Griechen Übungen, die sich mit der Zeit von der Sexualität im engeren Sinne lösten, verselbstständigten und den Menschen im Allgemeinen zu einem freien, moralischen Subjekt machen sollten. Im sexuellen Bereich fand diese Freiheit ihren Ausdruck in der Knabenliebe, also der Beziehung zwischen einem älteren, in seiner Bildung fortgeschrittenen Mann und einem jüngeren, weniger erfahrenen. Maßhalten und Umgangsformen waren hier wichtig; es galt die Freiheit und Männlichkeit des Jüngeren zu schützen und zu fördern. Eng damit verknüpft war dessen philosophische Ausbildung. Anders als in modernen Kulturen wurde im antiken Griechenland also die Verbindung zwischen sexueller Zucht und dem Zugang zur Wahrheit in der Knabenliebe verwirklicht, nicht in der Liebe zwischen den Geschlechtern.

„Dieser Liebe (...) zu den jungen Knaben und den Heranwachsenden, die in der Folge so lang und so streng verurteilt sein wird, haben die Griechen eine Rechtmäßigkeit zuerkannt, in der wir gern den Beweis für die Freiheit sehen, die sie sich in diesem Bereich gewährten. Und doch haben sie ihr gegenüber die strengsten Forderungen gestellt (...).“ (Bd. 2, S. 39)

Der griechische Autor Artemidor analysiert in seinem Traumbuch sexuelle Träume. Diese galten in der Antike als Botschaften aus der Zukunft. Ein Traum vom sexuellen Verkehr mit der Ehefrau oder der Geliebten ist für Artemidor unproblematisch, da dadurch die bestehende Ordnung gestützt wird. Der Traum vom Sex mit einer Prostituierten dagegen ist wider die Ordnung, kann also nachteilig sein oder sogar von einem nahen Tod künden. Ein Grund für diese Deutung besteht darin, dass der Samen bei ihr sinnlos ist und vergeudet wird. Der Autor wendet eine Art Isomorphismus an: Wenn der geträumte Akt den gesellschaftlichen Positionen in der Wirklichkeit entspricht, ist er gutzuheißen. Artemidor hat mit seiner Schrift über Träume eine Art Handbuch für das Alltagsleben geschrieben, in dem es um einen Verhaltenskodex geht, der dem Individuum und seiner jeweiligen gesellschaftlichen Situation angepasst ist.

„Es erscheint zunehmend notwendig, ihr (der sexuellen Praxis, Anm. d. Red.) zu misstrauen, sie zu kontrollieren, sie, soweit sich das machen lässt, ausschließlich in den Ehebeziehungen zu lokalisieren – um sie dann dort, im Eheverhältnis, mit intensiveren Bedeutungen zu beladen.“ (Bd. 3, S. 306)

Die Annahme, erst das Christentum habe nach der angeblich freizügigen Zeit der Antike Zucht und Ordnung eingeführt, wäre zu einfach. Auch in der antiken Gesellschaft gab es Stimmen, die nach mehr Sittenstrenge riefen. Speziell die Knabenliebe wurde in den Jahrhunderten nach Christi Geburt stärker infrage gestellt; sie war als Idee erlaubt, aber der Vollzug sollte eingeschränkt werden. Selbstbeherrschung, ein sparsamer Umgang mit Ressourcen und eine Absage an die Lust als Lebensziel sind als Prinzipien sowohl in der antiken wie auch in der späteren, christlich geprägten Gesellschaft vorhanden; in unterschiedlicher Ausprägung. Der wesentliche Unterschied: Die antike Welt verdammte den Sex nicht als Übel, wie es das Christentum tat. Sex galt keineswegs als so sündig, dass er durch die Ehe nicht gereinigt werden konnte. Diese sah man als Gemeinschaft, in der sich das Ökonomische, das Gemeinschaftliche und das Sexuelle auf eine Art verbinden ließen, die gesellschaftlich sinnvoll und individuell erfüllend war.

Die Sorge um sich selbst

Etwas prägte die antike Gesellschaft besonders: die Sorge um sich selbst sowie die Auffassung, dass man erst dann ein vollwertiger Mensch ist, wenn man sich hin und wieder zurückzieht, um Muße zu haben, seine Taten mit seinen Zielen abzugleichen und seine Moralgrundsätze zu prüfen. Und zwar nicht im Sinne einer inneren Emigration, sondern als Übung, um danach wieder voll in der Gesellschaft mitwirken zu können. Aus dieser Sorge um sich selbst entwickelten sich Lebensrezepte, mit deren Hilfe auch eine bestimmte Art des Erkennens und des Aufbaus von Wissen praktiziert wurde.

„Das ,Fleischʻ ist als ein Modus der Erfahrung zu verstehen, das heißt als ein Modus der Erkenntnis und Transformation von sich durch sich, der auf einem bestimmten Zusammenhang zwischen der Aufhebung des Bösen und der Bekundung der Wahrheit beruht.“ (Bd. 4, S. 77)

Die Rolle der Ehe veränderte sich im Römischen Reich. Der Schwerpunkt verschob sich weg von der Idee einer Hausgemeinschaft, die rein wirtschaftlichen Zielen sowie dem Erhalt und Ausbau des gesellschaftlichen Status gewidmet war, und hin zu einer erfüllten Liebesbeziehung. Der Anspruch an die Ehe änderte sich – wenn man aus den antiken Texten auch nicht ablesen kann, ob diese Verschiebung in der Realität tatsächlich stattgefunden hat. Der Mann dachte sich nun weniger als wirtschaftliches und mehr als moralisches Subjekt; Gleichheit und Wechselseitigkeit ersetzten die männliche Dominanz. Auch im politischen Spiel reichte es nicht, Macht auszuüben; vielmehr war ein vielschichtiges Netzwerk von Machtbeziehungen gefragt. Das ethische Prinzip, sich selbst im Griff zu haben und seine Sexualität zu kontrollieren, genügte nicht länger; dem Einzelnen wurden viel komplexere Kompetenzen abverlangt. In der römischen Antike ist also eine komplexe Subjektwerdung festzustellen, die auch das Thema Sex berührt.

„Die Problematisierung der sexuellen Verhaltensweisen (...) wird zum Problem des Subjekts: als Subjekt des Begehrens, dessen Wahrheit nur von ihm selbst in seinem Inneren erkundet werden kann (…)“ (Bd. 4, S. 480)

Gleichzeitig begann die antike Gesellschaft, der Sexualität zu misstrauen. Sie wurde mit Bedeutung aufgeladen, weil sie integraler Bestandteil einer erfüllten Ehe war, weil der Schwerpunkt sich also weg von der Knabenliebe hin zur Ehefrau bewegte. Der Sex wanderte in die Ehe und wurde damit bedeutungsvoller. Gleichzeitig sah man in ihm aber auch mehr als zuvor eine Sprengkraft, die eine Beziehung oder ein moralisches Leben zerstören konnte.

Die Geständnisse des Fleisches

Die Sexualität stand in den antiken Lehren der Lebensführung unter den Zeichen von Ökonomie und Diätetik. In den frühen theologischen Diskursen der Kirchenväter zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert finden sich in sexualethischen Fragen zunächst viele Gemeinsamkeiten mit ihren griechisch-römischen Vordenkern. Die Transformation der antiken Sexuallehren in das christliche Modell erfolgt nun aber nicht nur durch eine Verschärfung der bis dato gängigen Gebote und Pflichten. Der Bruch, den das Frühchristentum markiert, besteht vielmehr darin, dass die Sexualität nun als Teil eines göttlichen Heilsgeschehens interpretiert wird. Der Umgang mit der eigenen Sexualität verlagert sich so von einer Frage der individuellen Lebensführung zu einem zentralen theologischen Problem.

Das Interesse frühchristlicher Theologie an der Sexualität übersteigt folglich das  der heidnischen Antike bei Weitem. In der völlig neuen Form von Erfahrung, von denen die Schriften der Kirchenväter zeugen, erscheint das „Fleisch“ einerseits als Problem, andererseits aber auch als Modus der Erkenntnis. Sex wurde Anlass und Gegenstand der Askese, der Bußpraxis und der Gewissensforschung. Diese Praktiken zielten letztlich alle auf die Einübung einer ständigen Furcht vor sich und dem eigenen Begehren ab.

Gefordert wurde aber nicht nur die permanente Kontrolle der eigenen Gedanken, sondern auch ihre Offenlegung gegenüber einem anderen in Form des Geständnisses. Dies geschah unter der Annahme, dass das Böse – immerzu nach einer Bemächtigung der Seele des Subjekts trachtend – sich nur durch das Aussprechen der Wahrheit aufheben ließe. Es lag nun in der Verantwortung des Subjekts, sein Begehren zu problematisieren, um die Wahrheit über sich ans Licht zu bringen. Aus dieser Pflicht – und den davon abgeleiteten Praktiken – entwickelte sich eine neue Form von Subjektivität, deren Kern die Sexualität bildet. Diese Form der Subjektivität ist in den Schriften der Kirchenväter als Antwort auf theologische Probleme des frühen Christentums entworfen worden – und prägt unsere Kultur bis heute.

Zum Text

Aufbau und Stil

Sexualität und Wahrheit besteht aus vier Bänden, die in einem Zeitraum von 42 Jahren erschienen sind. Der erste Band beleuchtet die Entwicklung seit Beginn der Neuzeit, während die Folgebände sich mit der Antike auseinandersetzen. Im ersten Band, Der Wille zum Wissen, legt Foucault dar, wie sich die Suche nach Wissen, die gesellschaftliche Macht und der Umgang mit Sexualität gegenseitig durchdringen. In Band 2, Der Gebrauch der Lüste, untersucht Foucault den Umgang mit der Sexualität im alten Griechenland und die moralischen Regeln, die sich die männliche, gebildete Schicht damals gab. Im folgenden Band 3, Die Sorge um sich, geht es darum, wie sich die Sexualität bis zum Ende der antiken griechischen und römischen Gesellschaften in eine allgemeine Ethik der Selbstsorge einfügte. Der letzte Band, Die Geständnisse des Fleisches, besteht weitestgehend aus ausführlichen Referaten der Schriften von rund zehn antiken, frühchristlichen Autoren, anhand derer Foucault die Herausbildung einer christlichen Sexualethik nachzeichnet. Dass der Autor diesen Band nicht mehr fertig überarbeiten konnte, ist dem Text anzumerken: Er ist sperriger und weniger pointiert als seine Vorgänger. Außerdem fehlen einrahmende Einleitungs- und Schlusskapitel. Insgesamt sind die vier Bände von Sexualität und Wahrheit trotzdem leichter zu lesen als beispielsweise Die Ordnung der Dinge, ein anderes Hauptwerk Foucaults.

Interpretationsansätze

  • Die Grundfragen in Sexualität und Wahrheit lauten: Wie hängt das, was wir für wahr halten, mit den Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft zusammen – und welche Rolle spielt Sexualität in diesem Machtgefüge? Laut Foucault wird Sex heutzutage keineswegs tabuisiert, sondern im Gegenteil anhaltend diskutiert. Der Diskurs über das Sexuelle diszipliniert die Menschen, denn durch das ständige Gespräch darüber wird definiert, was „normal“ ist.
  • Foucault zeigt, dass Macht nicht aus Unterdrückung und Verbot bestehen muss. Vielmehr kann sie auch Diskurse steuern – und damit das, was viele für wahr oder richtig halten. Der Autor führt den Begriff des Dispositivs ein: Ein Dispositiv lässt eine Gesellschaft aufgrund ihrer Machtstrukturen die Dinge (zum Beispiel die Sexualität) auf eine bestimmte Art und Weise sehen oder interpretieren.
  • Zwischen dem ersten Band und den drei Folgebänden findet ein inhaltlicher Sprung statt: Der Wille zum Wissen zeigt, inwiefern das Wissen der Gesellschaft von der Macht abhängig ist. Der Einzelne wird durch den Diskurs dominiert und damit zum Objekt. Dagegen sehen die Folgebände den Menschen als Subjekt, das zu seiner eigenen Sexualethik finden kann.
  • In Der Gebrauch der Lüste beschreibt Foucault den Umgang mit der Sexualität im antiken Griechenland als aktive Selbstbeherrschung der Oberschicht, die sich dadurch als Machthaberin und moralisches Vorbild legitimiert.
  • In Die Sorge um sich zeigt Foucault, dass nicht erst das Christentum die Sexualmoral verschärft hat: Der Sexualität wurde auch schon in der griechisch-römischen Antike mit wachsendem Misstrauen begegnet. Sie wurde mehr und mehr auf die Ehe beschränkt und die Knabenliebe wurde zunehmend verpönt.
  • Die Hauptthese von Die Geständnisse des Fleisches lautet, dass die Sexualität in den theologischen Diskursen des Frühchristentums erstmals ins Zentrum der menschlichen Subjektivität gerückt wurde.

Historischer Hintergrund

Sexualität und Postmoderne

Der Befreiungsdrang, der von der Studentenbewegung nach 1968 ausging, wollte auch die Sexualität ihrer Fesseln entledigen. Sex galt als unterdrückt und in bürgerliche Normen gepresst. „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, lautete eine Parole; die Sexualität wurde in Filmen, Büchern und bei öffentlichen Diskussionen thematisiert und so aus der Tabuzone geholt. Die Tabuisierung und Sanktionierung des Sexuellen, vor allem des als abartig geltenden Sexuellen, muss der Homosexuelle Michel Foucault besonders stark empfunden haben. Zudem herrschte im intellektuellen Frankreich seiner Zeit auf der einen Seite ein kommunistischer Dogmatismus, zu dem sich jeder Linke bekennen musste, auf der anderen die Übermacht der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres.

In diese Situation brachen die Strömungen der Postmoderne und des Poststrukturalismus als etwas Neues hinein: Hier wurde die Auflösung des Ichs thematisiert und die Frage gestellt, wie Denkmodelle überhaupt möglich sind, wenn doch unklar ist, ob es so etwas wie ein denkendes Subjekt überhaupt geben kann. In der Geschichtswissenschaft wurde die „große Erzählung“, also die erzählerische Aneinanderreihung und Erklärung des Historischen, abgelehnt: Diese sei immer nur eine Konstruktion; der Wirklichkeit käme es viel näher, Einzelphänomene zu untersuchen, ohne ein großes Ganzes als Theorie darüberzustülpen.

Entstehung

Mit Sexualität und Wahrheit (den Titel hat der Autor für die deutsche Ausgabe selbst vorgeschlagen) legte Foucault ein Werk vor, das eine radikale Abkehr von früheren Ansätzen darstellt und damit einen Bruch offenbart. War Foucault in seinem Werk über Gefängnisse und Bestrafungsformen, Überwachen und Strafen (1975), noch ein Verfechter der „Repressionshypothese“, so legt er in Der Wille zum Wissen (1976) dar, dass genau dieses Verfechten auch ein Ausdruck der Machtstrukturen in unserer Gesellschaft ist. So oder so: Beide Werke bilden gemeinsam eine Phase seines Schaffens, in der er sich mit den gesellschaftlichen Machtstrukturen auseinandersetzte. Geplant war, in den Folgebänden die Geschichte der Sexualität in der Neuzeit weiterzuführen.

Doch Foucault entschied sich anders. Seine Suche nach der Entstehung des modernen Begehrenssubjekts führte ihn weit vor die Neuzeit zurück, hinein in die ethischen Diskurse der Kirchenväter der ersten frühchristlichen Jahrhunderte. Nach intensiven Recherchen und Vorstudien stellte er 1981 das Manuskript zu Die Geständnisse des Fleisches fertig, das die Genese der christlichen Sexualethik behandelt. Während der Recherche war jedoch Foucaults Interesse an der griechisch-römischen Antike und deren Sexualethik erwacht. Statt wie geplant nur die Negativfolie zur Illustration des christlichen Standpunkts zu bilden, hatte sich die griechisch-römische Antike ab Anfang der 1980er-Jahre für Foucault zu einem ganz eigenen Forschungsgegenstand entwickelt.

Darum veröffentlichte er, auch im Sinne der Chronologie, 1984 zunächst die Bände Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, in denen er sich jeweils der Früh- und der Spätantike widmete. Erst danach wendete er sich wieder der Überarbeitung und Korrektur von Die Geständnisse des Fleisches zu, das noch im selben Jahr erscheinen sollte. Zu dieser Veröffentlichung sollte es aber nicht mehr kommen. Foucault starb im Juni 1984, ohne die Überarbeitung des Typoskripts abschließen zu können.

„Keine postumen Veröffentlichungen“, hatte Foucault vor seinem Tod verfügt. 34 Jahre nach Foucaults Tod konnte der letzte Band von Sexualität und Wahrheit aber doch noch publiziert werden. Das war nicht nur aufgrund der langen Wartezeit eine Sensation; denn Die Geständnisse des Fleisches sind mehr als nur ein weiteres Werk Foucaults. Sie sind der Missing Link in einer der einflussreichsten Abhandlungen über die Geschichte der abendländischen Sexualität.

Wirkungsgeschichte

Foucault gehört neben seinem langjährigen Freund Gilles Deleuze, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Philosophen Jean Baudrillard zu den meistzitierten Autoren des Poststrukturalismus und der Postmoderne. Der Wille zum Wissen, der erste Band von Sexualität und Wahrheit, traf den Nerv der Zeit: Die Gleichsetzung des Willens zum Wissen mit dem Willen zur Macht war als nietzscheanisches Motiv anregend für viele zeitgenössische Autoren. Foucault wurde rege rezipiert, allerdings weniger als Philosoph denn als Soziologe, also als Analytiker und Kritiker von konkreten gesellschaftlichen Machtstrukturen.

Später warf man ihm Irrationalismus vor; er wurde als Feind der Moderne und der Aufklärung bezeichnet. In Deutschland fand Foucault in Jürgen Habermas einen prominenten Gegenspieler, der einen anderen Diskursbegriff vorlegte. Habermas’ Diskursethik sieht den Austausch zwischen rationalen Wesen vor, die auf diese Weise die Grundregeln der Gesellschaft gestalten. In der sogenannten Foucault-Habermas-Debatte wurde die Frage thematisiert, welcher der beiden Ansätze die Machtstrukturen in einer Gesellschaft besser analysiere und welcher den sinnvolleren Rationalitätsbegriff liefere. Der Begriff des Diskurses trat ins Zentrum vieler Debatten und regte in der Sprachwissenschaft die Forschungsrichtung der Diskursanalyse an.

Über den Autor

Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in Poitiers geboren. Dort besucht er zwischen 1940 und 1945 das jesuitische Gymnasium. Ab 1945 lebt er in Paris, wo er an der Eliteuniversität École normale supérieure Philosophie und Psychologie studiert. Nach Abschlüssen in diesen Fächern lehrt er dort von 1950 bis 1955 Psychologie und ist zugleich zeitweise Assistent an der Universität von Lille. Er nimmt Lehrtätigkeiten in Schweden und Warschau an und ist 1959/60 als Direktor des Institut français in Hamburg tätig. Nietzsche, Marx, Freud und Heidegger prägen Foucaults Denken. In seiner 1961 veröffentlichten Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft (Folie et déraison) untersucht er, wie der Wahnsinn im Verlauf der Geschichte mittels definitorischer Macht von der Vernunft unterschieden wird. Machtstrukturen, die Rolle des Wissens bei ihrer Herausbildung und ihre Beziehungen zum Individuum werden zu den zentralen Themen seines Schaffens. In Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses, 1966) beschäftigt er sich mit der Entstehung der Humanwissenschaften. Seine wissenschaftliche Karriere führt ihn über die Universität von Clermont-Ferrand und eine zweijährige Gastprofessur an der Universität in Tunis zurück nach Paris, wo er ab 1968 überwiegend lebt. Ab 1970 hat er den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France inne. Foucaults Denkmethode ist am ehesten der philosophischen Richtung des Poststrukturalismus (und damit der Postmoderne) zuzuordnen. 1963 beginnt Foucault mit Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique) die Entstehung von Institutionen zu erforschen, was er 1975 mit Überwachen und Strafen (Surveiller et punir) fortsetzt. In seinem zwischen 1976 und 1984 in drei Bänden veröffentlichten letzten großen Werk Sexualität und Wahrheit (Histoire de la sexualité) analysiert er die Sexualität aus psychiatrischer, rechtlicher und moralischer Perspektive. Als einer der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit stirbt Foucault am 25. Juni 1984 in Paris an den Folgen von Aids.

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