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Über das Marionettentheater

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Über das Marionettentheater

Insel Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Kleists funkelnde Prosa-Miniatur über die Anmut des Unbewussten.


Literatur­klassiker

  • Essay
  • Romantik

Worum es geht

O der Verstand!

An einen Freund schreibt der junge Kleist, „nichts Göttlicheres“ gebe es als die Kunst, und „nichts Leichteres zugleich; und doch, warum ist es so schwer?“. Der Freund, weiß Kleist, will es ihm gleichtun und sich der Kunst verschreiben. Allzu weit ist ihm Kleist auf diesem Weg im Jahr 1806 indes nicht voraus, die großen Werke liegen noch hinterm Horizont. Und doch hat er sein Lebensthema schon in den Händen: „Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche, ist schön; und schief und verschroben alles, sobald es sich selbst begreift. O der Verstand!“, belehrt er den Freund weiter. Das ist der Gedanke, der später im Aufsatz Über das Marionettentheater seine klassische Form finden wird. Es ist aber vor allem Selbstbelehrung, denn wie kaum ein anderer leidet Kleist unter dem eigenen Verstand, unter einem Bewusstsein, das wohl oft heller leuchtet, als seine Seele erträgt. Ironischerweise gelingt es ihm erst mit ebenjenem Aufsatz, den eigenen Rat zu beherzigen. Erst hier, wo er von der Leichtigkeit der Marionetten schreibt, die, an Fäden hängend, der Schwerkraft enthoben sind, erreicht auch er die Leichtigkeit – und das in einer Manier, die vermuten lässt, Kleist habe selbst nicht begriffen, wie um alles in der Welt es ihm gelungen ist. Erst hier, wo er in lauter Paradoxen eine Wahrheit darstellt, die wohl anders nicht darzustellen ist, schafft er es, sich über all das Widersprüchliche, Schiefe und Verschrobene in seinem Leben zum „Göttlichen“ der Kunst zu erheben.

Take-aways

  • Der kurze Essay Über das Marionettentheater ist der bekannteste Prosatext des Dramendichters Heinrich von Kleist.
  • Inhalt: Im Gespräch mit dem berühmten Tänzer Herrn C. erfährt der Erzähler Erstaunliches über Marionetten, z. B. warum diese sich anmutiger bewegen, als es ein Mensch je könnte. Man tauscht Anekdoten zum Thema aus und gerät schließlich ins Philosophieren.
  • Kleist schrieb den Text als Beitrag für die von ihm herausgegebene Tageszeitung Berliner Abendblätter, wo dieser auf vier aufeinanderfolgende Ausgaben verteilt erschien.
  • Anlass für Kleists Lob der Marionetten könnte sein Zwist mit dem Großschauspieler und Theaterintendanten Iffland gewesen sein, der einst ein Kleist-Stück abgelehnt hatte und dem der Dichter seinerseits einen gekünstelten Stil vorwarf.
  • Im Hauptmotiv des Aufsatzes – das Bewusstsein macht die natürliche Grazie zunichte – klingt Rousseaus Naturphilosophie an, die das Böse als Folge der Zivilisation ansah.
  • Kleist setzte sich auch mit Kant auseinander, dessen Rationalismus ihm widerstrebte.
  • Wie die meisten seiner Werke wurde auch Kleists Marionettentheater von den Zeitgenossen verkannt. Heute gilt es als geniale Vorwegnahme der Moderne.
  • Postmoderne Theoretiker sehen in Kleists Marionetten Avatare im Sinn einer virtuellen Realität.
  • Kleist baut ein überzeugendes Gedankengebäude aus völlig haltlosen Behauptungen auf: Marionetten bewegen sich nicht graziös, Bären können keinen Fechter durchschauen.
  • Zitat: „Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? – Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“

Zusammenfassung

Die seltsamen Ansichten des Herrn C.

Der Erzähler trifft im Park auf Herrn C., den Ersten Tänzer des örtlichen Opernensembles. Er spricht ihn an, da er ihn wiederholt im Marionettentheater gesehen hat, und wissen möchte, was um alles in der Welt ein wahrer Künstler wie er an dieser eher groben Art der Volksbelustigung findet. Unterhaltung, antwortet der Tänzer, doch auch Belehrung: Er verspricht sich viel davon, den Marionetten das Geheimnis ihrer anmutigen Bewegungen abzuschauen. Der Erzähler ist erstaunt: Ein Mensch aus Fleisch und Blut nimmt sich seelenlose Holzpuppen zum Vorbild? Er setzt sich zu Herrn C. und fragt nach, wie er auf eine solche Idee komme. Ob er denn die Bewegungen der Marionetten in jener Bretterbude auf dem Marktplatz nicht außerordentlich graziös gefunden habe, fragt Herr C. zurück. Der Erzähler muss zugeben, dass er das auch so erlebt hat.

„Als ich den Winter 1801 in M... zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten, den Herrn C. an, der seit kurzem, in dieser Stadt, als erster Tänzer der Oper, angestellt war, und bei dem Publiko außerordentliches Glück machte.“ (S. 7)

Der Erzähler wundert sich, warum das so ist. Er fragt, welches überhaupt das Bewegungsprinzip der Marionetten sei; wie sie geführt würden. Selbst der beste Puppenspieler hat doch bloß zehn Finger und kann ja unmöglich jedes Detail einer Bewegung einzeln steuern. Das tut er auch gar nicht, erwidert Herr C., sondern er arbeitet mit den natürlichen Schwerpunkten der Puppe. Von diesen ausgehend erhalten die einzelnen Glieder ihren Impuls, dem sie, wie Pendel in harmonischen Bogen schwingend, folgen. Zwischen den Steuerungsimpulsen des Puppenspielers und ihrem Resultat, dem Tanz der Marionetten, wirkt ein regelmäßiges Verhältnis: Die Gesetze der Mechanik übertragen die einfachen, meist geradlinigen Impulse in eine komplexe und runde Gesamtbewegung des Gliedermanns. Und selbst eine zufällige, ungewollte Erschütterung aufseiten des Puppenspielers bringt eine nahezu tänzerische Bewegung aufseiten der Marionette hervor.

Seele und Motorik

Dennoch ist die Führung der Marionetten alles andere als eine banale oder einförmige Tätigkeit – der Erzähler bemüht den Vergleich mit dem Spielen einer Drehleier –, sondern sie erfordert vom Puppenspieler viel Einfühlungsvermögen. Denn, so sieht es Herr C., jener Schwerpunkt, der den Bewegungen der Marionette innewohnt und der sie belebt, entspricht ganz dem, was man beim Menschen Seele nennt. In diese Seele nun muss der Puppenspieler sich hineinversetzen, muss geradezu, durch das Medium der hölzernen Gliedmaßen, selber tanzen. Allerdings gibt Herr C. zu, dass der Erzähler mit seinem Vergleich nicht ganz falsch liegt: Prinzipiell scheint es durchaus möglich, den Vorgang des Marionettenspiels vollständig zu automatisieren, dann wäre bloß noch eine Kurbel vonnöten, um die Puppen tanzen zu lassen. Alles nur eine Frage der Ingenieurskunst. Der Erzähler staunt: Hat er doch bisher das Marionettenspiel für eine wertlose Schwundstufe der eigentlichen, menschlichen Schauspielkunst gehalten. Nun zeigt sich, dass doch weit mehr daran ist, als er glaubte. Immerhin, bemerkt er, erachtet es ein Fachmann wie Herr C. für wertvoll, über das Marionettentheater nachzudenken und sich gar praktisch damit auseinanderzusetzen.

„Ich sagte ihm, daß ich erstaunt gewesen wäre, ihn schon mehrere Mal in einem Marionettentheater zu finden, das auf dem Markte zusammengezimmert worden war, und den Pöbel, durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte.“ (S. 7)

Herr C. lächelt. Er ist sich seiner Sache sicher: Anhand seiner Konstruktionspläne müsste ein Handwerker eine Marionette bauen, deren Schwerpunkte natürlicher verteilt sind als üblich; dann würde er, Herr C., damit einen Tanz auf die Bühne bringen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat – und den nachzuahmen die Fähigkeiten jedes menschlichen Tänzers, ihn eingeschlossen, überstiege. Er fragt den Erzähler, ob ihm bekannt sei, dass es in England Handwerker gebe, die künstliche Beine für Amputierte herstellten, und dies so geschickt, dass die Träger der Prothesen sich geradezu anmutig zu bewegen, ja zu tanzen imstande seien. Der Erzähler staunt nicht schlecht über Herrn C.s Ausführungen. Dass es derlei künstliche Gliedmaßen gibt, davon hat er noch nichts gehört. Doch wenn dem tatsächlich so sei, dann wisse Herr C. ja, an wen er sich zur Ausführung seiner Marionettenpläne wenden müsse: an einen solchen englischen Prothesenmacher eben.

Der Fluch des Bewusstseins

Herr C führt zwei Gründe für seine Behauptung an, dass eine richtig konstruierte Marionette allen menschlichen Tänzern überlegen sei: Zum einen ist die Abwesenheit von Geist, die zunächst als Mangel an der Puppe erscheinen mag, eigentlich ein Vorteil; Geist in einem lebendigen Tänzer ist oft genug die Ursache dafür, dass dieser seine Bewegungen falsch betont, wodurch der Eindruck von Affektiertheit entsteht. Herr C. spricht von „Ziererei“: Eine Bewegung wirke geziert, wenn ihr Schwerpunkt nicht mit der Seele des Ausführenden zusammenfalle. Derlei kann bei einer gut konstruierten Marionette nicht passieren, sind doch ihre Gliedmaßen bloße Pendel, die vom Puppenspieler dadurch ins Schwingen gebracht werden, dass dieser ihren Schwerpunkt bewegt. Eine andere Art der Bewegung lassen die Fäden ja gar nicht zu. Schwerpunkt und Seele müssen geradewegs identisch sein, und jede Ziererei ist somit von vornherein ausgeschlossen. Was leider, klagt Herr C., nicht für den Menschen gelte: Welcher Tänzer bringt es schon zustande, sich in seinen Bewegungen ganz der Wirkung der Schwerkraft zu überlassen?

„Er fragte mich, ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen, besonders der kleineren, im Tanz sehr graziös gefunden hatte. Diesen Umstand konnte ich nicht leugnen.“ (S. 7)

Damit kommt Herr C. auf seine Kollegen zu sprechen. Er führt das Beispiel der Tänzerin P. in der Rolle der Daphne an und jenes des jungen F., wenn er den Paris spielt. An ihnen kann man beobachten, wie die Seele bei gewissen Bewegungen in den abwegigsten Teilen des Körpers sitzt: im Kreuz oder gar im Ellbogen. Dadurch wirkt ihr Spiel unnatürlich und affektiert. Herr C. benutzt für dieses Phänomen, diese Störung der Natürlichkeit durch Bewusstsein, das Bild des Sündenfalls, der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies: Der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis hat das Schicksal der Menschheit besiegelt; es führt kein Weg zurück in den Urzustand, wir müssen uns mit dem behelfen, was wir haben – Bewusstsein. Wir müssen hoffen, dass wir mit dessen Hilfe vielleicht einen Schleichweg in den Garten Eden finden.

„Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgendein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.“ (S. 8)

Der zweite Grund für die Überlegenheit der Marionetten in puncto Anmut liegt darin, dass sie, wie Herr C. es nennt, „antigrav“ sind. Im Gegensatz zu uns Menschen, die wir durch Schwerkraft und Trägheit an den Erdboden gefesselt sind, hängen die Marionetten frei in der Luft und sind somit der Sorge ledig, ihr eigenes Gewicht tragen zu müssen. Wo ein menschlicher Tänzer also Kraft aufwenden muss, um jene Widerstände zu überwinden, befindet sich die Gliederfigur sowieso schon im Zustand der Leichtigkeit. Davon, spottet Herr C., könne etwa die Tänzerin C. nur träumen, müsse sie doch bei ihren Figuren stets gegen die Schwerkraft ankämpfen.

Verlorene Unschuld

Der Erzähler gesteht Herrn C. zwar zu, dass dessen Argumentation, bei aller Gewagtheit der Thesen, durchaus stimmig scheine; indes, ganz überzeugt ist er nicht. Herr C. jedoch betont noch einmal: Niemals kann der Mensch jenen Grad von Anmut erreichen, der den Bewegungen der Marionetten mit mathematischer Notwendigkeit innewohnt. Und dieser höchste Grad von Anmut, so bringt jetzt Herr C. seine Gedanken auf den Punkt, hat ihresgleichen nur im Göttlichen. Nun ist der Erzähler vollends baff. Was soll man zu solch paradoxen Behauptungen sagen? Noch einmal weist Herr C. ihn darauf hin, dass des Rätsels Lösung im dritten Kapitel des ersten Buchs Mose, in der biblischen Geschichte vom Sündenfall, schon enthalten ist. Um zu verstehen, wie die Sache weitergeht, wie der Mensch nicht nur trotz, sondern gerade durch Bewusstsein wieder in Übereinstimmung mit dem Göttlichen gelangen kann, ist es unerlässlich, sich in den tieferen Sinn dieser Geschichte zu versenken.

„Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde? Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem anderen Punkt befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.“ (S. 10)

Der Erzähler meint, zu dem Thema hätte er auch etwas beizutragen. Die Rede ist von einem Erlebnis, das ihm in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll erscheint, da sich darin jener Vorgang deutlich zeigt: die Zerstörung natürlicher Anmut durch das Hinzutreten von Bewusstsein. Er berichtet Herrn C. von einem etwa 16-jährigen Jüngling, der sich noch ganz im Zustand paradiesischer Unschuld befand, insofern, als er sich der jugendlichen Anmut seiner Erscheinung noch nicht bewusst war. Anlässlich eines gemeinsamen Bades kam es zu folgender Szene: Der junge Mann setzte seinen Fuß auf einen Hocker, um ihn abzutrocknen. Dabei erblickte er sich im Spiegel. Kurioserweise nahm er in ebendiesem Moment eine Körperhaltung ein, die ihn an die berühmte Statue eines Knaben erinnerte, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht. Diese Statue hatte er vor einer Weile in Paris besichtigen können.

„Ich sagte, daß (...) er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers. Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen.“ (S. 12)

Erfreut teilte der junge Mann seine Entdeckung dem Erzähler mit. Dieser jedoch, obwohl er die Ähnlichkeit des Augenblicks auch gesehen hatte, tat die Behauptung spöttisch ab, um der Eitelkeit des Jünglings, die er heraufdämmern sah, keine Nahrung zu geben. Der wollte nun den Erzähler überzeugen und versuchte mit aller Macht, die Pose zu wiederholen – erfolglos. Nicht nur, dass ihm die Wiederholung nicht gelingen wollte, zunehmend wirkten seine Bemühungen in ihrer Vergeblichkeit grotesk, die verlorene Grazie konnten sie nicht zurückbringen. Und es kam noch schlimmer: In gleichem Maß, in dem der Jüngling sich mehr und mehr seiner selbst bewusst wurde, wich die Anmut aus seiner Gestalt; binnen eines Jahres hatte er sie ganz verloren. Der Erzähler beruft sich auf einen Augenzeugen, der die Wahrheit der Geschichte jederzeit bestätigen könne.

Ein bäriger Fechter

Diese Anekdote veranlasst wiederum Herrn C., eine Erinnerung zum Besten zu geben, die auf dasselbe hinausläuft: Er hatte einmal einen russischen Gutsbesitzer in Livland besucht. Dessen Söhne waren geübte Fechter. Vor allem der Älteste bildete sich einiges auf seine Klingenkünste ein. Freudig nahm er die Gelegenheit wahr, sich mit einem Fremden zu messen, und bat Herrn C. zu einem freundschaftlichen Duell. Doch wie sich zeigte, hatte der junge Edelmann sich überschätzt. Mit seiner Naivität und Hitzköpfigkeit scheiterte er an der Besonnenheit von Herrn C., der den Kampf souverän gewann. Sein Herausforderer, dem nun nichts übrig blieb, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, gestand ihm den Sieg zwar zu, konnte jedoch seine gekränkte Eitelkeit nicht verbergen. Aus dieser Gemütslage heraus machte er Herrn C. einen Vorschlag: Er wolle ihm einen Gegner präsentieren, an dem Herr C. sich nun seinerseits die Zähne ausbeißen würde.

„Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.“ (S. 15)

Die beiden Brüder witterten einen kapitalen Spaß und führten Herrn C. in einen hölzernen Stall. Dort hielt der Gutsbesitzer Herr von G. einen Bären, der an einen Pfeiler angekettet war und sich nun vor Herrn C. aufbaute: die rechte Vorderpfote zur Abwehr bereit, Herrn C. tief in die Augen schauend. Dieser kam angesichts des haarigen Opponenten aus dem Staunen kaum heraus, während ihn seine Gastgeber fröhlich zum Angriff drängten. Nur zögerlich folgte Herr C. der Aufforderung, mit dem Degen in Richtung des Tieres zu stoßen. Den ersten Schlag wehrte der Bär ohne Mühe mit der Tatze ab – und auch alle weiteren, so geschickt Herr C. seine Angriffe auch vortragen mochte. Auch mit Finten und angetäuschten Hieben war dem Bär nicht beizukommen; und was nicht in vollem Ernst als Attacke gemeint war, würdigte das Tier keiner Reaktion. Vielmehr schien es, als sei es imstande, Herrn C.s Absichten zu erforschen, indem es ihm durch die Augen wie durch ein Fenster in die Seele sah. Die Sache wurde allmählich hitzig, zumindest für Herrn C., der mit seinem Latein am Ende war und immer wilder und verzweifelter focht. Unter Zuhilfenahme all seiner Kunst versuchte er, die Deckung des Bären zu überwinden. Doch umsonst stieß er und hieb er und täuschte an – sein ungewöhnlicher Gegner parierte jeden ernst gemeinten Angriff, ignorierte jede Finte.

Ein philosophisches Aha-Erlebnis

Nun ist der Erzähler von den Ausführungen des Herrn C. endgültig in den Bann gezogen. Nicht den geringsten Zweifel, so beteuert er auf Nachfrage, hat er an der Authentizität jener Bärenanekdote, so schlüssig erscheint sie ihm. Noch einmal kehrt Herr C. dann zu seinem anfänglichen Gedanken zurück: Die reflexive Kraft des Bewusstseins wirke der natürlichen Anmut entgegen, und das nicht nur beim Menschen, sondern überall in der belebten Natur. Je weniger Bewusstsein, fasst Herr C. zusammen, desto mehr Anmut. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit: wenn nämlich das Bewusstsein zu einem vollkommenen, quasi göttlichen Bewusstsein werde, kehre die Anmut zurück. Der Erzähler begreift: Dann liegt ja gewissermaßen der Hintereingang zum Paradies auf geradem Weg vor uns. Wir müssen den Weg, der uns aus der Unschuld herausgeführt hat, nur lange genug weitergehen, um diesen Zustand schließlich wiederzuerlangen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bis heute herrscht keine Einigkeit über die formale Einordnung des Marionettentheaters: Ist es ein philosophischer Essay, eine Prosadichtung, ein Aufsatz, ein philosophischer Dialog? Der bloß zehnseitige Text erschien in Kleists Berliner Abendblättern in vier Folgen; jede hat ihren eigenen inhaltlichen Schwerpunkt. Das Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Bekannten, Herrn C., schreitet in Echtzeit voran, und wenn auch die indirekte Rede vorherrscht, setzt Kleist die wenigen kurzen Sätze in direkter Rede so geschickt, dass insgesamt der Eindruck äußerster Lebendigkeit entsteht. Ebenso kunstvoll macht Kleist die Gefühle seiner Figuren durch die sparsame und damit umso glaubwürdigere Schilderung ihrer Gestik, Mimik usw. sichtbar und verankert den nackten Dialog mittels bildhafter Elemente in einer greifbaren Wirklichkeit („Es scheine, versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm ...“). Der Stil ist typisch für den Komma-Virtuosen Kleist: lange, verschachtelte Satzgebilde mit hoher Informationsdichte, gegliedert durch Satzzeichen, die eher deklamatorischen als grammatischen Regeln folgen. Dabei beherrscht Kleist wie kein anderer die Kunst, seine Perioden mit leichter Hand auszubalancieren, hier Spannung zu erzeugen, dort Fixpunkte zu setzen; hier das Tempo zu verschärfen, dort einen Gang herunterzuschalten. Der Ton ist durchweg hell, ironisch und voller Witz und Lust am Paradoxen.

Interpretationsansätze

  • Das Hauptmotiv des Bewusstseins als Störung der Natürlichkeit knüpft an die Lehre des französischen Aufklärungsphilosophen Jean-Jacques Rousseau an, dessen Schriften Kleist begeistert las. Bei Rousseau ist der Mensch im Naturzustand unschuldig und gut und wird erst durch die Zivilisation verdorben.
  • In Kleists Marionetten zeigt sich das Kunstideal der Romantik: Die Romantiker nahmen an, der durch Zivilisation entfremdete Mensch könne, indem er sich selbst als Kunstwerk erschaffe, die verlorene Unschuld auf höherer Ebene zurückgewinnen.
  • Kleist kehrt die im 18. und 19. Jahrhundert beliebte Marionettenmetapher um: statt für die buchstäbliche Gebundenheit des Menschen an höhere Mächte, steht sie bei ihm für die Freiheit einer unbewussten Naivität.
  • Das Marionettentheater wird oft als Kleists Überwindung seiner so genannten Kant-Krise gesehen. In Königsberg war Kleist mit der Philosophie Immanuel Kants in Berührung gekommen, deren vernunftkritische Nüchternheit ihn aus seinen metaphysischen Träumen riss. Im Marionettentheater öffnet Kleist dem Menschen die durch Kant verschlossene Tür zum Absoluten wieder.
  • Kleists Lob der natürlichen Grazie ist wohl auch ein Seitenhieb auf den Schauspieler Iffland, dessen gekünstelten Stil er verabscheute.
  • Der Aufsatz lässt sich als Satire lesen; der durchaus unernste Ton spricht dafür, ebenso wie die Unverschämtheit, mit der dem Leser die fantastischsten Behauptungen (etwa: Marionetten bewegten sich geschmeidig, Bären seien Meister der Fechtkunst) als Wahrheit präsentiert werden.
  • Postmoderne Denker beziehen die Marionettenmetapher auf das Konzept der Virtualität, sprich der Imitation von Wirklichkeit. Kleists Marionetten wären dann sozusagen Avatare.

Historischer Hintergrund

Ein neues Preußen – zwischen Zensur und Reform

1806, mit der Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt gegen Napoleons Heer, ging eine Ära zu Ende. Vom einstigen Preußen war, zwei Jahrzehnte nach dem Tod Friedrichs des Großen, nicht viel mehr übrig als der Mythos. Die Niederlage zeigte, dass mit der französischen Revolution ein neues Zeitalter angebrochen war und Preußen den Weckruf verschlafen hatte. Einst hatten die „preußischen Tugenden“, sprich die vollkommene Einordnung des Einzelnen in den Staatsapparat, dessen Funktionieren garantiert; doch Kadavergehorsam gewann jetzt keine Schlachten mehr, ein von Duckmäusern umgebener absoluter Monarch regierte an den Bedürfnissen seines Volks vorbei – Bürgersinn und Vaterlandsliebe des freien „Citoyens“ dagegen konnten auf dem Schlachtfeld wie im Staatswesen den Unterschied ausmachen. Das sah auch Friedrich Wilhelm III. ein und ließ sich endlich durch seinen Minister Karl August von Hardenberg zu weitgehenden Reformen überreden.

Es entstand die paradoxe Situation, dass diese „Revolution von oben“, vom Vorbild Frankreichs inspiriert, mit den patriotischen zugleich antifranzösische Gefühle in der Bevölkerung weckte. Arg drückte die Last der Reparationsforderungen, bitter schmeckte die Degradierung Preußens zum napoleonischen Vasallenstaat. Es mehrte sich die Zahl derer, die sich mehr oder weniger offen für eine Koalitionsbildung mit Habsburg und Russland und für die Fortsetzung des Krieges gegen Napoleon engagierten, unter ihnen auch Heinrich von Kleist. Doch der Monarch wollte davon nichts hören, zu frisch war die Erinnerung an Jena und Auerstedt. Auf Druck Napoleons musste er also den eben begonnenen Reformen wieder entgegenarbeiten. Doch der Geist war aus der Flasche und das aufkeimende Nationalgefühl, oft gepaart mit glühendem Franzosenhass, ließ sich nicht lange unter Kontrolle halten.

Entstehung

Kleist schrieb Über das Marionettentheater für die Tageszeitung Berliner Abendblätter, deren Gründer, Herausgeber und einziger Redakteur er war. Die erste Ausgabe, vier Seiten im Oktavformat, mit winziger Type eng bedruckt, erschien am 1. Oktober 1810. Das journalistische Konzept des Blatts war revolutionär: ein unterhaltsames Sammelsurium aus Politik, Klatsch, Lokalnachrichten, geistreichen Essays sowie Kunst- und Theaterbesprechungen. Nachdem Kleist mit einem früheren Zeitschriftenprojekt, dem Kunstjournal Phöbus, noch an seinen Ansprüchen gescheitert war, zeigte er sich mit den Abendblättern als genialer Zeitungsmann. Prominente Autoren wie Clemens Brentano oder Achim von Arnim beflügelten den Absatz ebenso wie die spitze Feder des Herausgebers, der keine Gelegenheit zur Provokation ausließ.

Neben den allgegenwärtigen antifranzösischen Spitzen waren es vor allem Kleists Ausfälle gegen seinen Intimfeind August Wilhelm Iffland, in denen er zur satirischen Höchstform auflief. Iffland, gefeierter Schauspieler und Dramatiker und seit 1796 Intendant des Berliner Nationaltheaters, hatte Kleists Käthchen von Heilbronn abgelehnt und mit abschätzigen Worten an den Dichter retourniert. Der rächte sich mit ausgesuchten Boshaftigkeiten, die er, als Theaterkritik getarnt, in den Abendblättern erscheinen ließ. Der Federkrieg geriet bald zum Politikum. Bei einer Iffland-Inszenierung am 26. November 1810 kam es zu einem handfesten Skandal, als das Publikum die vom Intendanten protegierte Sängerin Emilie Herbst ausbuhte. Damit geriet Kleist ins Visier der Behörden. Um zu verhindern, dass der streitlustige Dichter die Stimmung weiter aufheizen konnte, wurde ihm kurzerhand alles Schreiben über Theater untersagt. Kleists Antwort: die Veröffentlichung des Essays Über das Marionettentheater in vier Portionen vom 12. bis zum 15. Dezember 1810.

Wirkungsgeschichte

„Sehr sticht hervor der Aufsatz über Marionetten-Theater“, schrieb Kleists Altersgenosse E. T. A. Hoffmann 1812 an Julius Eduard Hitzig, den ehemaligen Verleger der Berliner Abendblätter. Hoffmanns Lob bezeichnet zugleich den Anfang der Rezeptionsgeschichte wie auch deren vorläufiges Ende; erst ein Jahrhundert später wurde Kleists Aufsatz wieder zur Kenntnis genommen. Das lag zum einen daran, dass Kleist insgesamt seiner Zeit voraus war, zum anderen hatte es damit zu tun, dass sich spätere Generationen – als man ihn Mitte des 19. Jahrhunderts als „Vaterlandsdichter“ wiederentdeckte – vor allem auf seine Theaterstücke stürzten, besonders auf den Prinzen von Homburg und Die Hermannsschlacht mit ihrem überschäumend nationalistischen Furor. Aus solch patriotischer Perspektive war das Marionettentheater denkbar unergiebig und blieb links liegen. Erst mit Anbruch des 20. Jahrhunderts wurde der Boden für das Marionettentheater fruchtbar: Jetzt entdeckten Dichter und Schriftsteller wie Kafka, Hofmannsthal oder Thomas Mann seinen Gehalt. Ein „von Verstand und Anmut glänzendes Stück Philosophie“ nannte etwa Hofmannsthal den Aufsatz und stellte ihn den Dialogen Platons an die Seite. Von nun an entfaltete jede Generation weitere Bedeutungsdimensionen des Textes. Besonders die Theoretiker der Postmoderne drehten und wendeten ihn, klopften ihn auf verborgenen Sinn ab und fanden so immer neue, teils auch abwegige Interpretationsmöglichkeiten.

Über den Autor

Heinrich von Kleist wird am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, er stammt aus einer preußischen Offiziersfamilie. Als junger Gefreiter-Korporal nimmt er im ersten Koalitionskrieg gegen Napoleon an der Belagerung von Mainz und am Rheinfeldzug (1793 bis 1795) teil. Bald fühlt er sich vom Offiziersberuf abgestoßen und wendet sich der Wissenschaft zu. Durch seine Kant-Lektüre verliert er jedoch den Glauben an einen objektiven Wahrheitsbegriff und erkennt, dass er nicht zum Gelehrten geschaffen ist. Ebenso wenig fühlt sich der enthusiastische Kleist zum Staatsdiener berufen. 1801 bricht er aus seiner bürgerlichen Existenz aus, reist nach Paris und später in die Schweiz, wo er als Bauer leben will. Doch auch daraus wird nichts. Schon während seiner Zeit in Paris beginnt Kleist zu dichten. Seine Theaterstücke, die heute weltberühmt sind, bleiben zunächst erfolglos. Von 1801 bis 1811 entstehen unter anderem die Tragödien Die Familie Schroffenstein (1803), Robert Guiskard und Penthesilea (beide 1808), außerdem Das Käthchen von Heilbronn (1808), Die Hermannsschlacht (1821 postum erschienen), die Komödien Amphitryon (1807) und Der zerbrochne Krug (1808) sowie die Erzählungen Die Marquise von O.... (1808), Das Bettelweib von Locarno (1810) und Die Verlobung in St. Domingo (1811). 1810 verweigert der preußische Staat Kleist, der nach Stationen in Königsberg und Dresden wieder in Berlin lebt, eine Pension. Auch aus dem Königshaus erhält er keine Anerkennung, obwohl er der Schwägerin des Königs das patriotische Stück Prinz Friedrich von Homburg widmet. Dennoch ist es wohl weniger äußere Bedrängnis als innere Seelennot, die Kleist schließlich in den Freitod treibt. Am 21. November 1811 erschießt er zunächst seine unheilbar kranke Freundin Henriette Vogel und danach sich selbst am Kleinen Wannsee in Berlin.

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