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Das Aleph

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Das Aleph

Erzählungen 1944–1952

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein raffiniertes Spiel mit Schein und Wirklichkeit.


Literatur­klassiker

  • Erzählsammlung
  • Postmoderne

Worum es geht

Im Labyrinth des Denkens

Oberflächlich betrachtet haben die im Erzählband Das Aleph versammelten Geschichten wenig miteinander zu tun. Mal spielen sie in biblischer Vorzeit, mal im Buenos Aires der 1930er- und 1940er-Jahre; mal spricht ein Ich-Erzähler namens Borges, mal ein römischer Tribun, der sich als der Dichter Homer entpuppt, mal ein aztekischer Priester. Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die Geschichten eine Grundhaltung tiefer Skepsis gegenüber dem, was man gemeinhin Wahrheit nennt. Borges steht für die Hypothese, dass die Wirklichkeit ein menschliches Konstrukt sei, eine Ansammlung von Projektionen, die uns Orientierung in einer chaotischen Welt geben sollen – und die uns häufig in die Irre leiten. Seine Geschichten handeln nicht nur oft von Labyrinthen, sie sind selbst als literarische Labyrinthe angelegt, als weit verzweigte Geflechte von gelehrten Anspielungen und ironischen Verweisen, die absichtlich nicht immer Sinn ergeben. Die Lektüre ist nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sie führt auch eindrucksvoll vor Augen, wie sehr wir im Labyrinth unseres Denkens und unserer Sprache gefangen sind.

Take-aways

  • Jorge Luis Borges’ 1949 erschienener Erzählband Das Aleph ist das berühmteste Werk des argentinischen Autors.
  • Inhalt: Ein Mann entdeckt im Keller seines Hauses den Ort, der alle Orte der Welt in sich enthält; ein anderer wird wahnsinnig, weil er eine Münze nicht vergessen kann; ein gefangener Aztekenpriester liest im Fell eines Jaguars den göttlichen Plan; Könige, Gelehrte und Wissenschaftler verirren sich in realen wie gedanklichen Labyrinthen.
  • In Borges’ verschachtelten Erzählungen vermischen sich Historie, Mythos und Gegenwart.
  • Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Realem und Surrealem verschwimmen.
  • Mit ihrem Geflecht von Verweisen, Zitaten und gelehrten Anspielungen sind viele Erzählungen literarische Labyrinthe.
  • Borges’ Grundhaltung ist ein radikaler Skeptizismus, der jede Wahrheit und Identität in Zweifel zieht.
  • Das Aleph steht in der Tradition der fantastischen Literatur von Edgar Allan Poe, H. G. Wells und Franz Kafka.
  • Durch die Erzählbände Fiktionen und Das Aleph erlangte Borges den Ruf als geistiger Vater der postmodernen Literatur.
  • Er beeinflusste poststrukturalistische Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida.
  • Zitat: „Mit der Wirklichkeit finden wir uns leicht ab, vielleicht weil wir spüren, dass nichts wirklich ist.“

Zusammenfassung

Der Unsterbliche

Im Juni 1929 offeriert der Antiquar Joseph Cartaphilus einer Fürstin eine alte Ausgabe von Alexander Popes Ilias. In dem Buch findet die Fürstin nach dem Tod des Antiquars ein Manuskript. Darin erzählt ein römischer Soldat namens Marcus Flaminius Rufus, wie er sich einst auf die Suche nach der Stadt der Unsterblichkeit machte und diese schließlich bei den primitiven Troglodyten fand: einen endlosen Palast mit blinden Gängen und Treppen, die ins Nichts führten. Rufus floh aus der albtraumhaften Stadt, verfolgt von einem Troglodyten, der sich als der Dichter Homer entpuppte. Da er selbst aus dem Fluss der Unsterblichkeit getrunken hatte, war nun auch Rufus wie Homer und die übrigen Troglodyten unsterblich – ein schrecklicher Zustand, denn erst das Wissen um den Tod gibt dem Leben seinen Wert. Nach Jahrhunderten erlangte Rufus 1921 endlich seine Sterblichkeit zurück. Dem Erzähler erscheint die Geschichte im Rückblick unwirklich und er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei Rufus und Homer um ein und dieselbe Person handelt. In einer Nachschrift bezweifelt jedoch ein Wissenschaftler die Echtheit des Dokuments aus der Feder von Cartaphilus – eine Ansicht, die der Erzähler nicht teilt.

Die Theologen

Eigentlich kämpfen die beiden Theologen Aurelius und Johannes von Pannonien in ihren Traktaten gegen den gleichen Feind: Ketzer, die etwa behaupten, die Geschichte verlaufe kreisförmig oder jeder Mensch bestehe aus zwei Menschen. Doch Aurelius ist voller Neid und Groll auf den brillanteren Johannes und versucht, ihn in der theologischen Debatte zu übertrumpfen – vergeblich. Eines Tages fällt ihm auf, dass Johannes vor langer Zeit ein Gebet verfasst hat, das eine ähnliche Behauptung enthält wie die, für die die Ketzer verfolgt werden. Er ergreift die Gelegenheit, den verhassten Konkurrenten loszuwerden, und denunziert ihn. Johannes landet wegen ketzerischer Anschauungen auf dem Scheiterhaufen, und Aurelius fühlt sich geheilt. Nach seinem eigenen, durch einen Blitzschlag ausgelösten Feuertod muss er im Himmel feststellen, dass Gott sich für derlei religiöse Streitigkeiten nicht interessiert, ja dass die beiden Konkurrenten in seinen Augen dieselbe Person sind.

Geschichte vom Krieger und der Gefangenen

Der Barbar Droctulft bricht aus einer Wald- und Sumpfgegend in Deutschland nach Italien auf, um gegen Rom zu kämpfen. Als er erstmals die Stadt Ravenna mit ihren Häusern, Tempeln und Statuen erblickt, wechselt er die Front und verteidigt Ravenna – nicht als Verräter, sondern als ein Bekehrter. Eine ähnliche Geschichte wird Borges von seiner Großmutter erzählt, einer Engländerin, die es nach Argentinien verschlagen hat. Einmal traf sie eine Landsmännin, die von Indios entführt worden war, den Häuptling geheiratet und ihm zwei Kinder geboren hatte. Die junge Frau berichtete von ihrem Leben in der Pampa. Borges’ Großmutter bot ihr an, sie und ihre Kinder freizukaufen, aber sie lehnte das ab mit der Begründung, sie sei glücklich. Später sah die Großmutter die Frau wieder, wie sie sich wild auf den Boden warf und das Blut eines geschlachteten Schafes trank.

Biografie von Tadeo Isidoro Cruz

Tadeo Isidoro Cruz, der Sohn eines gewaltsam zu Tode gekommenen Freischärlers, wächst in der Wildnis auf und arbeitet um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Viehtreiber, bis er einen anderen Treiber aus Ärger über dessen dumme Sprüche ersticht. Zur Strafe wird er in die Armee gesteckt, wo er es dank seiner Tapferkeit bis zum Sergeanten bringt. Er hat eine Kehrtwende vollzogen und glaubt sich glücklich, auch wenn er es nicht ist. Eines Tages erhält er den Befehl, einen Deserteur und Mörder zu verhaften – ganz in der Nähe des Ortes, wo sein Vater damals erschlagen wurde. In der Nacht spürt Tadeo mit seinen Männern den Verbrecher auf. Doch mitten im Kampf begreift er, wozu er wirklich bestimmt ist, und schlägt sich auf die Seite des Deserteurs, in dem er sich selbst wiedererkennt.

Emma Zunz

Die 18-jährige Textilarbeiterin Emma Zunz wird in einem Brief vom Tod ihres Vaters unterrichtet. Er habe versehentlich eine Überdosis Veronal eingenommen, heißt es, doch Emma geht davon aus, dass er Selbstmord begangen hat. Vor Jahren hat er das Land verlassen müssen, weil er als Kassierer in der Textilfabrik, in der jetzt auch Emma arbeitet, des Diebstahls beschuldigt wurde. In Wirklichkeit, so versicherte der Vater es seiner Tochter, bevor er sie verließ, sei der Geschäftsführer Aaron Loewenthal der Dieb. Nun heckt Emma einen perfekten Racheplan aus, um ihrem Vater nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In einer Hafenkneipe prostituiert sie sich und schläft mit einem Matrosen, was ihr großen Ekel und Trauer bereitet. Anschließend sucht sie Loewenthal auf – unter dem Vorwand, ihm etwas über einen bevorstehenden Streik verraten zu wollen. Sie erschießt ihn mit seinem eigenen Revolver und ruft danach die Polizei: Sie habe den Fabrikanten getötet, weil er sie missbraucht habe. Man nimmt ihr die Geschichte ab, weil die Schande, die sie erlitten hat, und die Scham und der Hass, die sie empfand, authentisch sind. Nur die äußeren Umstände, die sie geschildert hat, sind erfunden.

Der andere Tod

1946 erreicht Borges die Nachricht, ein gewisser Pedro Damián sei gestorben, ein Kämpfer der Revolution von 1904, der für ihn ein Idol war. Wie groß ist da Borges’ Überraschung, als sein Bekannter Oberst Dionisio Tabares, unter dem Damián damals gekämpft hat, diesen im Gespräch beiläufig als einen Feigling bezeichnet! Später erzählt ein anderer Revolutionsveteran, Damián sei 1904 als tapferer Kämpfer gefallen. Was stimmt nun? Nach reiflichem Überlegen kommt Borges zu dem Schluss, dass Damián sich 1904 tatsächlich wie ein Feigling verhalten hat und sein ganzes weiteres Leben lang versucht hat, diese Schwäche zu korrigieren. Sterbend erlebte er die Schlacht noch einmal, und diesmal verhielt er sich im Fieberwahn wie ein Held. Er starb 1946 bei der Schlacht, die 1904 stattfand. Er musste lange warten, aber schließlich bekam er doch, wonach er sich stets gesehnt hatte.

Averroes auf der Suche

Der islamische Denker Averroes sitzt an einem Kommentar zu Aristoteles’ Poetik. Da er keinen Begriff von Theater hat, kann er sich unter „Komödie“ und „Tragödie“ nichts vorstellen. Er wird von seiner Arbeit abgelenkt, weil drei Jungen im Hof Gottesdienst spielen. Später ist er bei einem Koranlehrer zum Essen eingeladen und hört einem Reisenden zu, der ausführlich von einer Theateraufführung erzählt, die er in China erlebt hat. Niemand der Anwesenden begreift den Sinn dieser Veranstaltung. Averroes ist im Denken des Islam gefangen. Ohne eine Ahnung von dem, was Theater ist, kann er Aristoteles’ Gedanken nicht verstehen – ebenso wie der Erzähler der Geschichte Averroes nicht verstehen kann.

Der Zahir

Am Todestag einer einst von ihm angebeteten Mode-Ikone Teodelina Villar bestellt Borges in einer Kneipe einen Schnaps. Eine der Münzen, die er als Wechselgeld zurückbekommt, ist eine 20-Centavos-Münze. Borges beginnt darüber nachzudenken, dass Geld abstrakt und jede Münze eine Ansammlung zukünftiger Möglichkeiten ist. Sie ist Sinnbild des freien Willens: Man kann sie für ein Konzert, einen Kaffee oder ein Buch ausgeben. Die Münze beschäftigt ihn übermäßig, und um aus ihrem Bannkreis herauszukommen, gibt er sie aus, in einer unbekannten Kneipe in einer unbekannten Straße. Doch vergeblich: Der Gedanke an die Münze beherrscht weiterhin sein Leben, und er sucht einen Psychiater auf, um die fixe Idee loszuwerden. In einem Buch aus dem 19. Jahrhundert findet er schließlich die Erklärung für sein Leiden: Die Münze ist ein Zahir, nach islamischer Auffassung ein Ding, das jemand nicht vergessen kann und das ihn in den Wahnsinn treibt. Auch hört er, dass Teodelinas jüngere Schwester in eine Anstalt eingewiesen wurde, weil sie ständig von einer Münze faselte. Borges sieht voraus, dass auch er bald nicht mehr die Welt wahrnehmen, sondern nur noch vom Zahir träumen wird. Aber sind nicht Leben und Träumen synonym? Letztlich wird er nur von einem komplexen zu einem schlichten Traum wechseln. Und vielleicht, denkt er, verbirgt sich hinter der Münze ja Gott.

Die Inschrift des Gottes

Der Priester Tzinacán, einst Magier der niedergebrannten Pyramide von Qaholom, erzählt, wie er von Pedro de Alvarado gefoltert und eingekerkert worden ist. In dem Kerker neben seinem befindet sich, nur durch ein Eisengitter von ihm getrennt, ein Jaguar. Auf der Suche nach dem magischen Satz, den Gott am Beginn der Schöpfung irgendwo niedergeschrieben hat und der – einmal ausgesprochen – Wunder wirken kann, studiert der Priester jahrelang das Muster im Fell der Raubkatze. Schließlich gelingt es ihm, darin den göttlichen Text – eine Formel aus 14 zufällig zusammengestellten Wörtern – zu entziffern, und er sieht das Universum und seine verborgenen Pläne. Würde Tzinacán diesen Satz aussprechen, könnte er seinen Kerker zerstören und das Reich Montezumas wiedererrichten, mit ihm selbst als Herrscher an der Spitze. Doch er wird ihn nicht aussprechen, denn nachdem er einmal das Universum geschaut hat, hat er sich selbst mit all seinen nichtigen Problemen vergessen.

Ibn Hakkan al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth

Der Dichter Dunraven erzählt die Geschichte von König Ibn Hakkan al-Bokhari, der seinen Vetter Said eines Nachts in der ägyptischen Wüste ermordet und ihm anschließend das Gesicht zerstören lassen hat, um einen erbeuteten Schatz nicht teilen zu müssen. Aus Angst, Saids Geist werde sich rächen, reiste der König nach England und baute dort ein Labyrinth, in dem er sich mit einem Sklaven und einem Löwen versteckte. Doch Saids Geist fand und tötete ihn. Anschließend zermalmte er dem König, dem Sklaven und dem Löwen das Gesicht. Dem Mathematiker Unwin erscheint diese Geschichte unlogisch, und er erzählt eine andere Version: In jener Nacht in der Wüste hat Said den König im Schlaf töten wollen, es aber nicht über sich gebracht. Einen Teil des Schatzes hat er in der Wüste vergraben, dann ist er nach England geflohen und hat das Labyrinth gebaut, in dem er sich versteckte und auf den König wartete. Als dieser, angelockt durch das Labyrinth, kam, tötete Said ihn und zermalmte ihm, dem Sklaven und dem Löwen das Gesicht – denn erst in dieser Konstellation wurde der Mord zu einem unlösbaren Rätsel. Um den Schatz ging es Said gar nicht: Er tötete den verhassten König, gab vor, dieser zu sein, und wurde schließlich zu ihm.

Die Wartezeit

Ein Mann bezieht ein schlichtes Zimmer am Rand von Buenos Aires. Als seinen Namen gibt er Villari an, den Namen seines Feindes, an den er ständig denken muss. Die Tage sind eintönig, der Mann liest Zeitung, in der Hoffnung auf eine Nachricht vom Tod des echten Villari. Er spielt mit dem Haushund und sieht sich gelegentlich im Kino einen Gangsterfilm an. Er versucht, im Augenblick zu leben, ohne an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken, genießt seinen Mate und den Tabak und verspürt manchmal so etwas wie Glück. Gegen Morgen träumt er immer wieder, drei Männer – einer von ihnen Villari – würden sein Zimmer betreten, und jedes Mal tötet er sie mit dem Revolver, der in der Nachttischschublade liegt. Eines Morgens wacht er zur selben Stunde davon auf, dass Villari und ein Unbekannter in seinem Zimmer stehen. Mit einem Handzeichen bittet er sie, zu warten, und dreht sich zur Wand – wohl in der Hoffnung, die beiden Männer könnten ein Traum sein. Dann erschießen sie ihn.

Das Aleph

Jedes Jahr besucht Borges am Todestag der von ihm verehrten Beatriz Viterbo deren Familie. Bei einem dieser Besuche begegnet er ihrem Cousin Carlos Argentino Daneri, der an einem allumfassenden Gedichtzyklus schreibt, einer Schilderung unseres Planeten. Der eitle Daneri liest daraus vor, lobt sein eigenes Werk in den höchsten Tönen und nimmt Borges das Versprechen ab, einen befreundeten Autor für ein Vorwort zu dem Gedicht zu gewinnen. Borges sagt zu, kümmert sich aber nicht mehr weiter darum. Eines Tages ruft Daneri verzweifelt an: Sein Haus soll abgerissen werden. Im Keller des Gebäudes befindet sich aber das Aleph, ein Punkt, der alle Punkte der Welt in sich enthält – ein für die Vollendung seines Gedichts unentbehrlicher Ort, an dem man alle Orte der Welt sehen könne. Borges hält Daneri für wahnsinnig, doch als er ihn besucht und allein in dem dunklen Keller ist und auf den beschriebenen Punkt starrt, offenbart sich auch ihm das Universum. Aus Rache an dem arroganten Dichter sagt er nichts davon, und das Haus wird abgerissen. In einem Nachtrag äußert Borges aufgrund eigener literarischer Recherchen die Vermutung, das Aleph in Daneris Haus sei ein falsches Aleph gewesen und das echte Aleph befinde sich möglicherweise im Innern eines Steins einer Moschee in Kairo.

Zum Text

Aufbau und Stil

Jorge Luis Borges’ Erzählband Das Aleph enthält 17 Erzählungen. Die Geschichten sind meist raffiniert verschachtelt, häufig enthält eine Erzählung eine andere. Durch exakte Zeit- und Ortsangaben wird oft suggeriert, es handle sich um wahre Begebenheiten, doch dieser Eindruck wird immer wieder relativiert, etwa durch gezielte Anachronismen. Auch wird die Glaubwürdigkeit des Erzählers wie auch des Erzählten auf subtile Weise in Zweifel gezogen. Einige der Geschichten sind auf den ersten Blick vor allem amüsant oder absurd. Erst bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als literarische Labyrinthe mit einem verzweigten Netzwerk aus gelehrten Verweisen, Zitaten und Assoziationen – literarische Rätsel, die zu lösen letztlich dem Leser überlassen bleibt. Borges, dem seine Freude an der ironischen Täuschung und dem Spiel mit der Illusion anzumerken ist, zeigt eine Neigung zu Paradoxien, die sich auch in der Sprache widerspiegelt, etwa in seiner Vorliebe für das Stilmittel des Oxymorons („graziöse Plumpheit“, „boshafte Wonne“) widerspiegelt.

Interpretationsansätze

  • Die in dem Erzählband Das Aleph versammelten Geschichten sind thematisch und erzählerisch sehr heterogen. Neben Kriminalerzählungen in der Tradition Edgar Allan Poes und fantastischen Geschichten in der Tradition von H. G. Wells, Robert Louis Stevenson und Franz Kafka gibt es solche von knallhartem Realismus, die an Gangsterfilme erinnern. Neben Poetischem findet sich Essayistisches, mal tritt Borges als Ich-Erzähler auf, dann wieder schlüpft er in die Rolle mythischer, historischer oder auch fiktionaler Figuren, wobei sich Historie, Mythos und Fiktion ständig vermischen.
  • Bei allen Unterschieden teilen die Erzählungen die Grundhaltung des Skeptizismus: Was wir für authentisch halten, etwa die Identität einer Person oder der Ablauf einer überlieferten Geschichte, könnte in Wahrheit ganz anders sein. Auch unsere Vorstellung von Kontinuität und Kausalität, Sinn und Fortschritt in der Geschichte stellt Borges in seinen Erzählungen immer wieder infrage.
  • Gemäß Borges folgt das Leben einem Prinzip geheimnisvoller Verbindungen, das mit Mitteln rationaler Erkenntnis nicht zu durchschauen sei. Er war ein begeisterter Anhänger metaphysischer Spekulationen jeder Art – ob Philosophie oder Mythologie, ob Religion oder Geheimlehren. Besonders faszinierte ihn die Kabbala, die jüdische Mystik mit ihrer Buchstaben- und Zahlensymbolik, die er durch das Werk Gershom Sholems entdeckte.
  • Eines von Borges’ Lieblingsmotiven ist das Labyrinth, das für das Gefangensein des Menschen in seinem Denken und seiner Sprache steht: Der Mensch kann den Prinzipien der Vernunft, den Regeln und den Gesetzen von Ursache und Wirkung nicht entkommen. Er schafft Koordinaten, um sich in der Welt orientieren zu können, doch dabei handelt es sich lediglich um Projektionen, die in die Irre führen.
  • Borges’ Erzählungen werden oft dem sogenannten magischen Realismus zugerechnet, was allerdings irrig ist: Die Autoren des magischen Realismus postulieren, dass Wirklichkeit, Mythisches und Magisches gerade in Lateinamerika nicht voneinander zu trennen sind und es daher einer spezifischen Ausdrucksweise bedarf, um das Wesen dieses Kontinents zu erfassen. Borges’ Erzählungen dagegen stehen eher in der Tradition der europäischen Fantastik. Das folkloristische Lateinamerika-Pathos des magischen Realismus liegt ihnen fern.

Historischer Hintergrund

Magischer Realismus und Fantastik in Lateinamerika

Nach Jahren schwacher und korrupter Regierungen in Argentinien putschten sich Anfang Juni 1943 einige Offiziere an die Macht, darunter Oberst Juan Perón. Ziel ihres autoritären Regimes war ein Argentinien, das traditionelle Werte wie Familie, Vaterland und Katholizismus bewahrte. Außenpolitisch strebten sie Unabhängigkeit von den USA und Großbritannien an, im Innern wollten sie die Kultur der Gauchos und der Milongas stärken – „Argentinien den Argentiniern“ lautete das Motto Peróns, der 1946 mit breiter Unterstützung der Arbeiterschaft zum Präsidenten gewählt wurde. Seine Politik war eine Mischung aus väterlicher Fürsorge und Unterdrückung: Er bot den Arbeitern und Gewerkschaftern materielle Geschenke wie Lohnerhöhungen, Mietsenkungen und bezahlten Urlaub an und verlangte dafür politische Treue. Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten, die sich nicht unterordneten, wurden verfolgt und in Lager gesperrt, ihre Parteien und Zeitungen verboten. Universitätsprofessoren, Lehrer und Journalisten, die gegen Zensur und Kontrolle protestierten, verloren ihre Ämter und wurden durch Peronisten ersetzt.

Auf dem Gebiet der Kunst, insbesondere der Literatur, wollten die Peronisten Positives, Erbauliches sehen, nicht Kritisches und Modernes. Dabei gab es in Argentinien schon seit dem frühen 20. Jahrhundert eine avantgardistische Literaturszene, die die europäischen Strömungen des Futurismus, des Surrealismus und des Dadaismus lebhaft rezipierte. Nach 1945, als das Kulturleben Europas sich – wenn auch langsam – vom Zweiten Weltkrieg erholte, verloren europäische Zeitschriften und Bücher, die lange Zeit die lateinamerikanische Literaturszene dominiert hatten, an Bedeutung und Attraktivität. Lateinamerikanische Schriftsteller suchten zunehmend eine eigene, von Europa unabhängige Identität und Ästhetik. Im Vorwort zu seinem 1949 erschienenen Roman Das Reich von dieser Welt schrieb der kubanisch-französische Schriftsteller Alejo Carpentier, die „Gegenwärtigkeit und Gültigkeit des wunderbar Wirklichen“ sei das „Erbgut Amerikas“ und verlange nach einer eigenen literarischen Darstellungsform. Nach Carpentiers Auffassung brauchten die lateinamerikanischen Schriftsteller – anders als die europäischen – keinen künstlichen Surrealismus zu erfinden, weil das Magische bereits Bestandteil der Realität Lateinamerikas sei und einem dort im Alltag auf Schritt und Tritt begegne.

Während Carpentier und der guatemaltekische Autor Miguel Ángel Asturias, der in seinen Romanen die Kultur der Azteken, Mayas und Inkas aufleben ließ, mit eigenständigen literarischen Mitteln das Wesen Lateinamerikas darzustellen suchten, beriefen sich südamerikanische Autoren fantastischer Literatur wie etwa Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares und Jorge Luis Borges ausdrücklich auf europäisch-westliche Traditionen. Bei allen Unterschieden im Detail hatten beide Strömungen – magischer Realismus und Fantastik – ihre gemeinsamen Wurzeln im französischen Surrealismus der 1920er- und 1930er-Jahre. Zugleich teilten sie eine besondere Auffassung der Wirklichkeit, die sich deutlich von der abendländisch rationalen und wissenschaftlichen Denkweise abgrenzte und die Reales mit Fiktionalem vermischte.

Entstehung

Von Beginn an zählte Borges zu den Gegnern Juan Peróns und beklagte sich über die „Jahre der Schande und der Dummheit“, die eine Literatur hervorgebracht hätten, die „höchstens für Pförtner“ geeignet sei. Für ihn selbst waren diese von Populismus und Mittelmaß geprägten Jahre indes eine äußerst produktive Zeit. Nachdem 1944 sein Erzählband Fiktionen erschienen war, der Erzählungen aus den Jahren 1939 bis 1944 enthielt, machte sich Borges schon bald ans Schreiben neuer Geschichten. Gemäß seiner im Vorwort zu Fiktionen dargelegten Überzeugung, dass es Unsinn sei, einen Gedanken auf 500 Seiten auszuwalzen, bevorzugte er wieder die kleine Prosaform. Im Epilog zu dem Folgeband Das Aleph nennt Borges einige Inspirationsquellen, denen er seine Erzählungen verdankte: Anregungen durch Freunde und vor allem Freundinnen, literarische Werke und Gemälde. Das Buch erschien 1949 in Buenos Aires, die Neuausgabe von 1952 wurde um vier weitere Erzählungen ergänzt.

Wirkungsgeschichte

Mit seinen Erzählbänden Fiktionen und Das Aleph löste Borges in den 1950er-Jahren zunächst bei Pariser Intellektuellen Begeisterung aus. In den folgenden Jahrzehnten wurde Borges’ Prosa – insbesondere der Erzählband Das Aleph – auch in anderen europäischen Ländern und in Nordamerika gefeiert, in wissenschaftlichen Werken zitiert und allmählich auch einem breiteren Publikum bekannt. Fortan galt der Autor, auf den sich poststrukturalistische Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida beriefen, als geistiger Vater einer Literatur, die sich als „postmodern“ etikettierte. Der italienische Schriftsteller Umberto Eco setzte Borges in seinem 1980 erschienenen Roman Der Name der Rose ein literarisches Denkmal: Borges taucht darin als blinder Bibliothekar Jorge von Burgos auf.

Über den Autor

Jorge Luis Borges wird am 24. August 1899 in Buenos Aires als Sohn eines Rechtsanwalts und Psychologiedozenten und Autors geboren. Borges, der väterlicherseits von Engländern abstammt, wächst zweisprachig auf und liest sich schon früh durch die umfangreiche Bibliothek seines Vaters. In Genf, wohin die Familie 1914 wegen mehrerer Augenoperationen des Vaters zieht, lernt er Deutsch und Französisch. Nach dem Abitur lebt Borges zeitweise in Spanien und verfasst hier erste Prosa- und Lyrikwerke. 1921 kehrt die Familie nach Buenos Aires zurück. Borges schreibt Beiträge für Literaturzeitschriften und veröffentlicht seinen ersten Gedichtband: Buenos Aires mit Inbrunst (Fervor de Buenos Aires, 1923). Ab 1938 arbeitet er als Bibliothekar im Staatsdienst und übersetzt unter anderem Poe, Kafka, Hesse und Virginia Woolf ins Spanische. Bald darauf erscheint sein erster Erzählband Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (El jardin de los senderos que se bifurcan, 1941), doch trotz positiver Aufnahme auch des Bandes Fiktionen (Ficciones, 1944) kann Borges nicht vom Schreiben leben. Unter dem von ihm verabscheuten Diktator Juan Perón quittiert er 1946 den Staatsdienst und ist an verschiedenen Institutionen als Literaturdozent tätig. Nach Peróns Rücktritt im Jahr 1955 wird Borges trotz seiner erblichen Sehschwäche zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ernannt. Ab seinem 55. Lebensjahr ist Borges völlig blind und auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen, doch mit der Unterstützung seiner Freunde ist er weiterhin schriftstellerisch tätig und unternimmt lange Lesereisen durch Europa. Er wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1967 heiratet er seine Jugendfreundin Elsa Astete Millán, doch die Ehe wird nach drei Jahren wieder geschieden und Borges zieht zu seiner Mutter zurück, bei der er bis zu ihrem Tod 1974 lebt. Als kränkend empfindet der Perón-Gegner Borges die Kritik von linker Seite an seinem Konservativismus. Im April 1986 heiratet er seine langjährige Sekretärin María Kodama. Borges stirbt am 14. Juni 1986 in Genf.

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