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Der englische Patient

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Der englische Patient

dtv,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Am Krankenbett des „englischen Patienten“ entfaltet sich ein ganzes Universum.


Literatur­klassiker

  • Liebesroman
  • Postmoderne

Worum es geht

Kriegsepos, Liebesdrama und eine Meditation über das Menschsein

Michael Ondaatje packt in Der englische Patient die ganz großen Themen an: Liebe und Leidenschaft, Vertrauen und Verrat, Krieg und Frieden, Leben und Sterben. Doch malt er nicht mit dickem Pinselstrich, sondern zeichnet sehr fein, in der klaren, präzisen Sprache eines Lyrikers. Die Sinnsuche und seelische Selbstverarztung der Charaktere in ihrer verfallenden Villa, einer verwunschenen Oase inmitten des Krieges, ist philosophisch, poetisch, bewegend. Der Patient wird zum Dreh- und Angelpunkt des Personenensembles, er liegt an der Wegkreuzung aller Beziehungen. Am Rand seines Bettes verschwimmen Erinnerungen und Fakten, auf den Seiten seines Herodot überlagern sich Gegenwart und Geschichte. Die Erzählung ist gespickt mit spannenden Details von Wüstenexpeditionen und Bombenentschärfungen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in Nordafrika und Italien. Ein bisschen Detektivarbeit ist nötig: Ondaatje hat den Roman als Labyrinth von Episoden angelegt und vermischt Perspektiven, Handlungsorte und Zeitebenen. Doch es lohnt sich, seiner Fährte zu folgen.

Take-aways

  • Der englische Patient ist Michael Ondaatjes berühmtestes Buch.
  • Inhalt: In einer halb zerstörten toskanischen Villa pflegt die Krankenschwester Hana den „englischen Patienten“, dessen Flugzeug in Afrika abgestürzt ist. Ein alter Freund und ein junger indischer Soldat nisten sich bei ihnen ein. Im Zusammenleben der vier kommen im Lauf des letzten Kriegsjahres persönliche Geschichten und Erinnerungen ans Licht, insbesondere die leidenschaftliche Affäre des Patienten mit einer verheirateten Frau und der tragische Tod seiner großen Liebe.
  • Der Kanadier Ondaatje wurde in Sri Lanka geboren. Im Roman thematisiert er die Rolle des Kolonialismus im Zweiten Weltkrieg.
  • Die Handlung des Romans ist komplex, es gibt Vor- und Rückblenden, Perspektiv- und Ortswechsel.
  • Ondaatje hat seine fiktive Geschichte mit zahlreichen historischen Fakten verwoben.
  • Die Figur des englischen Patienten hat im ungarischen Entdecker und Piloten Ladislaus Almásy ein historisches Vorbild.
  • Wichtigstes Symbol und Referenz im Roman sind die Historien des antiken Geschichtsschreibers Herodot.
  • Ondaatje ist ein vielfach preisgekrönter Lyriker, was man seiner bildreichen und zugleich präzisen Sprache anmerkt.
  • Der Roman verkaufte sich 1 Million Mal und wurde durch seine Verfilmung als Liebesdrama mit Ralph Fiennes und Juliette Binoche weltweit bekannt.
  • Zitat: „Ich bin brennend in der Wüste abgestürzt.“

Zusammenfassung

Die Villa

Italien 1944. Die junge kanadische Krankenschwester Hana pflegt in einer halb zerstörten Villa einen durch schwere Brandverletzungen entstellten, todgeweihten Patienten. Die alliierten Truppen sind nach Norden weitergezogen, Hana ist mit dem nicht transportfähigen Patienten zurückgeblieben. Teils bei klarem Verstand, teils im Morphiumrausch teilt er seine Erinnerungen mit ihr. Er sei brennend vom Himmel gefallen und von Beduinen gerettet worden. Sie balsamierten ihn mit heilenden Essenzen und trugen ihn durch die Wüste in eine Oase, wo sie als Gegenleistung verlangten, dass er erbeuteten Waffen die passende Munition zuordne. Sie übergaben ihn den Alliierten, die ihn seines Akzents wegen den „englischen Patienten“ nannten. Hana lauscht seinen Erzählungen oder liest ihm aus Büchern vor, die sie aus der den Elementen ausgesetzten Bibliothek der zerbombten Villa holt. Wenn der Patient schläft, liest sie allein weiter, sodass die Geschichten für ihn so bruchstückhaft werden wie die Ruine, in der sie leben. Bisweilen schaut Hana in die Historien von Herodot, den einzigen persönlichen Besitz des Patienten. Er hat das Buch, das auch Tagebuchaufzeichnungen, Exzerpte, Notizen und Ausschnitte aus anderen Büchern enthält, aus dem Feuer gerettet.

Fast ein Wrack

Eines Tages steht ein Mann mit bandagierten Händen in der Halle der Villa: David Caravaggio ist ein Freund von Hanas Vater und kennt sie seit ihrer Kindheit in Kanada. Er hat als Dieb und Spion für die Engländer gearbeitet, fiel jedoch in die Hände der Faschisten. Die schnitten ihm beide Daumen ab. Traumatisiert nistet er sich bei Hana und dem englischen Patienten ein. Hana hat ihr eigenes Trauma: Nicht nur, dass der Kriegsdienst sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit und beinahe um den Verstand gebracht hat – kurz zuvor musste sie zudem erfahren, dass ihr Vater gefallen ist. In der Pflege des englischen Patienten findet sie Trost und Halt, nachts jedoch überwältigt sie der Schmerz. Hana und Caravaggio unternehmen nächtliche Spaziergänge durch den Garten und hängen ihren Erinnerungen nach. Er vertraut ihr die Geschichte seiner Folterung an. Ihre Hingabe an den Patienten kritisiert er – überhaupt misstraut er diesem. Und auch dem Patienten fällt die Kinnlade herunter, als er Caravaggio plötzlich in seinem Zimmer erblickt.

„Ich bin brennend in der Wüste abgestürzt.“ (der Patient, S. 15)

Der Patient vermutet, dass sein Zimmer aus dem 15. Jahrhundert stammt und dem Humanisten und Renaissancedichter Poliziano gehört hat. Er lässt für Hana das Florenz der Medici aufleben und die Predigten Savonarolas, der auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Nicht weit von der historischen Richtstätte flog Caravaggio, der Folterkammer entkommen, mitsamt der Trinità-Brücke in die Luft, die von den Deutschen bei ihrem Abzug aus Florenz vermint worden war. Im brennenden Fluss schwimmend erlebte er sein persönliches Weltende. Doch er überlebte und kam für mehrere Monate in ein Lazarett in Rom. Hana hat begonnen, in die Bücher der Bibliothek kleine persönliche Nachrichten einzutragen. In Der letzte Mohikaner vermerkt sie ihre Zuneigung zu Caravaggio. In der Bibliothek steht auch ein Flügel, und nach mehr als drei Monaten in der Villa spielt Hana zum ersten Mal darauf. Angelockt von der Musik betreten unvermittelt zwei Männer den Raum: Minenräumer.

Irgendwann ein Feuer

Der Krieg in Italien in den Jahren 1943 und 1944 war brutal und archaisch wie eine mittelalterliche Schlacht. Der junge Sikh-Pionier Kirpal Singh, von allen Kip genannt, hat bisher an vorderster Front alle Gefahren überlebt. Trost und Geborgenheit findet er in den Engeln und Heiligenfiguren der katholischen Kirchen Italiens. Nachdem die Front weiter nordwärts gezogen war, lud er einen Mittelalterforscher zu einer Spritztour nach Arezzo ein. Dort hievte er zuerst den Mediävisten, dann sich selbst zum Fresko der Königin von Saba in der Apsis einer Kirche hoch. Bei Fackelschein suchte er die Nähe zu seiner „Königin der Traurigkeit“. Kip ist der dritte Mann, der sich in der Villa einquartiert. Er schlägt sein Zelt in einer abgelegenen Ecke des Gartens auf und hält sich auch sonst sehr am Rand dieser kleinen Gesellschaft von Kriegsversehrten – was Hana ihm hoch anrechnet. Während er sie beim Klavierspiel beobachtet hat, beginnt sie ihrerseits, ihn mit Caravaggios Fernglas zu observieren, und findet Gefallen an dem, was sie erblickt. Er ist der Einzige von ihnen, der noch Uniform trägt und aktiv im Dienst ist. Wenn irgendwo eine nicht explodierte Bombe gefunden wird, wird er zum Einsatz gerufen, eine permanente Lebensgefahr, über die er nie spricht.

„Vielleicht ist dies der Weg, um aus dem Krieg herauszukommen (…). Ein verbrannter Mann, um den man sich kümmert, Laken, die man im Brunnen wäscht, ein Zimmer, das wie ein Garten bemalt ist. Als wäre alles, was bleibt, eine Kapsel aus der Vergangenheit.“ (Caravaggio, S. 48)

Auf einem ihrer nächtlichen Spaziergänge gesteht Hana Caravaggio, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hat. Sie hat das riskiert, sogar provoziert, nachdem der Vater des Kindes gefallen war. Umgeben vom Sterben so vieler junger Soldaten zog sie sich ganz in sich zurück, nichts und niemand konnte sie mehr erreichen. Erst mit Caravaggio, für sie eine Art Onkel, kann sie sich allmählich öffnen – und auch wieder daran denken, mit einem Mann anzubandeln. Sie erinnert sich an ihren Vater, der in einem Taubenschlag starb. Weil sie seinen Tod nicht akzeptieren mag, kann sie sich auch nicht bei ihrer Stiefmutter melden, die sie doch vermisst. Der englische Patient hat bei ihrer ersten Begegnung an Hanas erloschenem Blick erkannt, dass eigentlich sie es ist, die Hilfe braucht, und dass er es ist, der sie gefunden hat. In seinem Notizbuch, dem Herodot, ist quasi das Wissen der ganzen Welt enthalten; was jedoch fehlt, sind sein Name und seine Nationalität. Die Tagebucheinträge des Jahres 1936 erwähnen eine Frau. Dort steht auch, dass Verrat im Krieg „kindlich“ sei im Vergleich zum alltäglich Verrat zu Friedenszeiten.

„Das geglückte Entschärfen einer Bombe beendete Romane. Weise väterliche weiße Männer schüttelten Hände, wurden allseits anerkannt und humpelten davon (…). Er aber (…) blieb der Fremde, der Sikh.“ (über Kip, S. 135)

Kip entdeckt im Garten der Villa eine Bombe, die er aufgrund ihrer komplexen Verkabelung nur mit Hanas Hilfe entschärfen kann – eine waghalsige Operation. Hana stellt sich vor, dass sie gemeinsam mit ihm stirbt, und fühlt sich ihm dadurch unendlich nah. Hana im Arm, hält Kip still, wird zu einer Statue, so wie er sie sich in den Kirchen immer als Wächter seines Schlafs gesucht hat. Eines Abends, während im Zimmer des englischen Patienten eine kleine Party steigt, hört man von fern eine Explosion. Kip eilt aus dem Haus. In einem nahe gelegenen Dorf erfährt er vom Tod seines Partners Leutnant Hardy – und bangt plötzlich um Hana. Sie wird für ihn zum Problem, weil er sich für sie verantwortlich fühlt, weil sie sich in seine Gedanken schleicht und den Tunnelblick trübt, den er zum Arbeiten braucht. Einer wie er kann nicht vertrauen, darf sich nicht binden. Trotzdem beginnen die beiden eine innige, fürsorgliche Beziehung. Der englische Patient will indessen keine Romane mehr hören, sondern öffnet für Hana den Herodot – und seine eigene Geschichte.

Im Süden von Kairo, 1930–1938

Herodot schrieb 400 Jahre vor Christus über die Wüste, die dann bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im toten Winkel der westlichen Welt lag. Mitte der 1930er-Jahre entdeckte Graf Almásy die verschollene Oase Zarzura wieder. Doch ab 1939 tobte auch in Libyen und Ägypten der Zweite Weltkrieg und beendete das Jahrzehnt der Wüstenexpeditionen. Von seinem Bett aus überschaut der Patient dieses Panorama und lässt Hana an seinen Gedankenreisen teilnehmen. Die Wüste ist ein wandelbares Gebilde, sagt er, bestimmt vom Kommen und Gehen des Wassers. Ihre Erforscher waren eine eigene Nation: Sie verloren ihre alten Bindungen oder gaben sie bewusst auf. Auch der Patient hasst Nationenzugehörigkeit und Besitzdenken. Er berichtet von der Suche nach Zarzura und von einer Frau, die sich nackt zum Fenster hinaus in den Kairoer Nachtregen reckt.

Katharine

1936 stieß ein gewisser Geoffrey Clifton mitsamt seiner Frau Katharine zu einer Expedition des Patienten. Jung und wohlhabend waren sie Fremdkörper in der Gruppe ausgezehrter, genügsamer Idealisten. Am nächtlichen Lagerfeuer rezitierte Katharine ein Gedicht, und der Patient verfiel ihrer Stimme. Auch Katharine träumte von ihm, und der Traum war von verstörender erotischer Gewalttätigkeit. Als sie sich erneut begegneten, berührte er ihren Hals mit der gesamten Länge seines Unterarms, als sei dieser ein Messer. Sie begannen eine Affäre, trafen sich heimlich in Kairos Parks und Märkten und in seiner Wohnung. Während ihrer leidenschaftlichen Begegnungen schlug und verletzte sie ihn wiederholt. Er war ihr gänzlich verfallen, kam mit der Einsamkeit der Wüste nicht mehr zurecht, wurde von seinem Verlangen aufgelöst. Schließlich trennte sie sich von ihm, zermürbt von ihrem schlechten Gewissen.

Ein begrabenes Flugzeug

Caravaggio erzählt Hana eine Kriegsgeschichte aus Nordafrika: Graf Almásy schleuste ab 1941 deutsche Spione durch die Wüste. Er brachte einen solchen schier unmögliche 2000 Kilometer von Tripolis nach Kairo. Dort verlor sich seine Spur. Caravaggio ist überzeugt, dass der englische Patient jener Almásy ist. Hana hält dagegen: Nationalitätszugehörigkeit sei doch jetzt egal, der Krieg sei vorbei. Trotzdem fragt sie ihren Patienten, von wo er kam, als er abstürzte. Der Patient berichtet: 1942 war er auf dem Weg zurück vom Gilf Kebir, einem Hochplateau in der Wüste, mit einem Flugzeug, das dort in der Nähe von einer früheren Expedition im Sand vergraben worden war. Zuvor hatte er vier Nächte lang die Wüste durchwandert, sich in einem Brunnen gewaschen und nackt eine Höhle betreten – dort lag die tote Katharine.

„Er beobachtet den Mann im Bett. Er muss wissen, wer dieser Engländer aus der Wüste ist, muss Hanas wegen sein Geheimnis lüften.“ (über Caravaggio, S. 149)

1939 hatte Clifton aus Eifersucht einen Flugzeugabsturz herbeigeführt: Er wollte zugleich sich selbst, Katharine, die mit an Bord war, und den Patienten, der sich am Zielort des Flugzeugs am Boden befand, töten. Doch nur er selbst kam ums Leben; Katharine überlebte schwer verletzt. Der Patient rettete sie aus dem Wrack und barg sie in einer Höhle, wo sich die Liebenden aussöhnten. Dann ließ er die Verletzte zurück, um Hilfe zu holen, ließ ihr aber den Herodot da. In den Kriegswirren brauchte er nicht wie geplant ein paar Tage, sondern drei Jahre, bis er zu ihr zurückkehren konnte. Mit dem alten, ausgegrabenen Flugzeug und Katharines Leiche darin erhob er sich nun in den Himmel; es gab einen Kurzschluss, und er merkte, dass er brannte.

„Die Wüste konnte nicht als Eigentum eingefordert oder als Besitz angesehen werden – es war ein Stück Tuch, von Winden getragen, nie von Steinen niedergehalten, und hatte hundert wechselnde Namen bekommen, lange bevor Canterbury existierte, lange bevor Schlachten und Verträge Europa und den Osten zusammenstoppelten.“ (der Patient, S. 175)

Kip hat ein Faible für den englischen Patienten, mit dem er eine Leidenschaft für Kondensmilch teilt. 1940 hatten die Briten damit begonnen, Spezialisten zur Bombenentschärfung auszubilden. Kip meldete sich für dieses Programm in England. Auf diese Weise konnte er dem Kriegschaos und teils auch dem Rassismus im Empire entgehen. Während des Krieges blendete er seine Gefühle weitgehend aus. Nie dachte er über sich selbst nach. Nun fehlt ihm sein Partner Hardy, der letzte, in dessen Gegenwart er sich noch als Mensch fühlen konnte. In der intimen Begegnung mit Hana erinnert er sich an die Geborgenheit seiner Kindertage.

Die Höhle der Schwimmer

Caravaggio gibt dem englischen Patienten Morphium und entlockt ihm immer neue Versionen seiner Erinnerungen an seine Affäre mit Katharine. Einmal erzählte diese dem Patienten die von Herodot stammende Geschichte des Königs Kandaules und seiner Frau, auf deren Schönheit Kandaules so stolz war, dass er sie nackt seinem Freund Gyges zeigte – woraufhin die gekränkte Königin Gyges anwies, den König zu töten und seinen Platz einzunehmen. Der Patient erlag dem Zauber dieser Erzählung; über Herodot verliebte er sich in Katharine. Während die Liebenden sich vor Clifton verbargen, übersahen sie, dass sie, in einem Milieu von englischen Aristokraten und Geheimdienstmitarbeitern – unter ihnen auch Caravaggio –, als Ehebrecher ins Visier der Behörden gerieten. Unvermittelt erzählt der Patient auch von Almásy, was Caravaggio verwirrt. Tote und Lebende erscheinen am Bett des Patienten, auch Katharine, erst lebend, dann tot. Er hatte sie mit den Pigmenten der Höhlenmalereien bestrichen, bevor er sie in der Höhle der Schwimmer – benannt nach Zeichnungen von schwimmenden Menschen an den Höhlenwänden – zurücklassen musste. Er lief 100 Kilometer zum nächsten britischen Stützpunkt. Dort hätte er nur den Namen „Clifton“ aussprechen müssen, und Katharine wäre gerettet worden. Doch er sprach nur wirr von einer verletzten Frau – seiner Frau – und man sperrte den Rasenden kurzerhand ein.

August

Sommer 1945. Der Krieg in Italien ist vorbei. Zu Hanas 21. Geburtstag organisiert Kip ein Festmahl auf der Terrasse. Hana singt die Marseillaise, aber sie hat kein Vertrauen mehr in das kämpferische Versprechen dieses Liedes. Als im Radio gemeldet wird, dass Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, ist Kip außer sich und will den englischen Patienten erschießen. Dieser nickt ihm zu und sagt: „Tun Sieʼs.“ Caravaggio gibt Kip Recht: Diese Bomben wären niemals auf eine weiße Nation abgeworfen worden. Nachdem Kip im Krieg sein Leben für die Weißen aufs Spiel gesetzt hat, quittiert er nun den Dienst, kappt jede Verbindung, auch die zu Hana. Er macht sich auf seinem Motorrad davon, in Richtung Indien. Hana stellt sich schließlich dem Tod ihres Vaters. Dieser konnte immerhin, wie sie meint, an einem geschützten, geradezu heiligen Ort sterben. Am Bett des englischen Patienten taucht eine Gestalt auf, die, sollte sie sich umdrehen, Farbpigmente auf dem Rücken trüge.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der englische Patient ist ein Roman in zehn Kapiteln. Die ersten drei Kapitel spielen in der toskanischen Villa und präsentieren nach und nach die vier Hauptpersonen. Die nächsten drei Kapitel spielen in Nordafrika und behandeln die Wüsten- und Liebeserinnerungen des Patienten. Kapitel sieben berichtet von Kips Ausbildung zum Bombenspezialisten in England. Die letzten drei Kapitel spielen wieder in der Toskana und führen alle Handlungsfäden zusammen. Die Struktur des Romans ist komplex, Ondaatje arbeitet mit Vor- und Rückblenden, Perspektiv- und Ortswechseln, bisweilen gibt es einen Ich-Erzähler, vereinzelt meldet sich gar der Autor zu Wort. Den zeitlichen und geografischen Rahmen bilden Nordafrika von 1930 bis 1942 sowie Italien ab der Landung der Alliierten 1943, insbesondere die zweite Jahreshälfte 1944 bis Kriegsende 1945. Anfangs wird die Geschichte im Präsens erzählt, was ihr Dringlichkeit und Unmittelbarkeit verleiht; dann fächert sie sich auf und wird allmählich komplexer. Wie ein Labyrinth führt sie durch viele Windungen und über viele Umwege in ihr Zentrum. Ondaatjes Sprache ist lyrisch, bildgewaltig und gefühlsbetont, in ihrem Auskosten von Farben und Gerüchen ein Fest für die Sinne. Doch zugleich ist sie auch kompakt und reduziert – in ihrer Zugänglichkeit bildet sie einen Kontrapunkt zur verschachtelten Anlage des Romans.

Interpretationsansätze

  • Der Roman zählt zum Genre der „historical fiction“, indem er reale Geschehnisse fiktionalisiert. Ondaatje lässt historische Figuren auftreten und erwähnt reale Ereignisse, nimmt sich aber große Freiheiten hinsichtlich deren literarischer Gestaltung.
  • Zugleich handelt es sich um einen postmodernen Roman, der literarische Traditionen von Herodot über die Renaissance bis zum Kolonialismus zitiert, sich auf andere Texte bezieht und mit den Stilmitteln der Collage arbeitet. Die gelegentlichen Wortmeldungen des Autors bringen ein metafiktionales Element ins Spiel.
  • Der Roman ist eine Meditation über Geschichte und macht Anleihen bei Ondaatjes Vorbild Herodot, der unter den Historikern derjenige war, der am bereitwilligsten ins Episodische abschweifte, wenig linear berichtete und Fakten mit Gerüchten mischte. Der englische Patient klebt und schreibt seine kleine, persönliche Geschichte buchstäblich in die Historien des Herodot hinein, in das Epos vom Krieg zwischen Orient und Okzident.
  • Ondaatje zeigt den Zusammenprall zwischen alter und neuer Welt. Er nennt den Zweiten Weltkrieg den „letzten mittelalterlichen Krieg“. Seine Hauptfigur ist voller Ehrfurcht vor dem jahrhundertealten Wissen der Wüstenvölker um Winde, Wasser und Wege. Kip verteidigt Alter und Reichtum seiner Kultur gegenüber den Kolonialmächten. Das Buch ist voller Anspielungen auf die Renaissance und ihr neues Menschenbild und thematisiert immer wieder das Anbrechen einer neuen Zeit, so als befänden sich die vier Charaktere in ihrer Villa in einem Kokon, der jeden Moment aufbrechen muss. Diese Hoffnung wird von den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki zerstört.
  • Literatur und religiöse Symbole fungieren als Wächterfiguren und Schutzgeister für die Charaktere. Hana findet ihren Beschützer in der Figur eines Löwen, dem Symbol des Evangelisten Markus. Kip sucht im Italienfeldzug immer die Nähe zu Engeln und Heiligenfiguren. Die Bibliothek ist – neben dem Patientenzimmer – der wichtigste Ort in der Villa, für Hana enthalten die Bücher die halbe Welt. Mit dem Herodot hat der Patient sein persönliches Evangelium, während er selbst von Hana wie ein Heiliger verehrt wird.

Historischer Hintergrund

Ein ungarischer Graf im Zweiten Weltkrieg

Der „echte“ englische Patient, Graf Ladislaus Almásy, kam 1895 im Burgenland zur Welt, damals Österreich-Ungarn. Er war Pilot und Autopionier und wurde zu einem intimen Kenner der östlichen Sahara – befreundete Beduinen nannten ihn anerkennend Abu Ramla, „Vater der Sande“. Er war nicht nur mit der englischen Royal Geographical Society verbunden, sondern arbeitete als Expeditionsleiter auch für das Frankfurter Frobenius-Institut. Wüstenforscher wie er entdeckten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schriften des antiken Historikers Herodot für sich. Dieser schilderte um 450 v. Chr. den Krieg zwischen Griechen und Persern als Kampf zwischen West und Ost. Dank seiner detaillierten Beschreibungen der Geografie, Sitten und Gebräuche Nordafrikas wurde Herodot zu einer wichtigen Quelle für moderne Orientalisten, die viele seiner Aussagen bestätigen konnten.

Mit dem Einmarsch der Achsenmacht Italien in Ägypten im September 1940 begann der Kampf um die Vorherrschaft in Nordafrika. Das deutsche Afrikakorps war ab Februar 1941 an den Kämpfen beteiligt, und Almásy schleuste als ungarischer Offizier für den befreundeten deutschen Geheimdienst Spione quer durch die Wüste. Im Mai 1943 mussten sich Deutsche und Italiener den Alliierten in Nordafrika geschlagen geben. Im Juli 1943 landeten die Alliierten in Sizilien, im September auf dem italienischen Festland und schlugen sich in blutigen Schlachten immer weiter nach Norden vor. Allgemeingültiges Sinnbild für die Sinnlosigkeit des Krieges wurde die Schlacht bei und die Zerstörung des Klosters Monte Cassino 1944. Die sogenannte Gotenstellung im Apennin zwischen Florenz und Bologna war eine der am schwersten befestigten Verteidigungsanlagen des Deutschen Reiches. Die Deutschen verwandelten Italien in ein Minenfeld, und durch die Aktivitäten von Partisanen kam es zu bürgerkriegsähnlichen Situationen. Nirgendwo sonst auf westlichen Schlachtfeldern kamen mehr Soldaten zu Tode als in Italien – bis sich die Heeresgruppe C am 2. Mai 1945 bedingungslos ergab. Almásy überlebte den Krieg und fiel auch nicht brennend vom Himmel, sondern starb 1951 in Salzburg an Amöbenruhr.

Entstehung

Ondaatje, als Kind der 50er-Jahre mit heroischen Kriegsfilmen aufgewachsen, wollte ein Buch über den Krieg schreiben und wenig beachtete Schauplätze sowie das koloniale Erbe Großbritanniens ins Blickfeld rücken. Zugleich griff er mit den Figuren der Hana und des Caravaggio zwei Charaktere aus seinem früheren Roman In der Haut eines Löwen wieder auf – Hanas Vater war in diesem Buch die Hauptfigur. Vom realen Grafen Almásy übernahm Ondaatje lediglich, dass dieser Wüstenforscher war und Spione nach Ägypten schleuste. Der Rest ist frei erfunden. Später äußerte er in der BBC, dass er den Namen vielleicht hätte ändern sollen.

Für seine Schilderungen griff Ondaatje auf die Beschreibung einer Wüstendurchquerung aus der Feder des deutsch-jüdisch-ägyptischen Offiziers Johannes Eppler zurück und stützte sich außerdem auf Berichte der Royal Geographical Society und auf Monografien von Wüstenforschern, die wiederum namentlich im Roman auftreten. Er betrieb ausführliche Recherchen zu den kanadischen Einheiten und den Techniken der Minenräumung im Zweiten Weltkrieg sowie zur florentinischen Renaissance. Er arbeitete mit privaten Briefen aus der Kriegszeit und hatte Kontakt zu einer Ordensschwester in der Villa San Girolamo, ein mögliches Vorbild der Villa im Roman, das in Fiesole steht, oberhalb von Florenz. Seit seinen Anfängen als Autor hat Ondaatje immer wieder die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa sowie zwischen Fakten und Fiktion bewusst verwischt.

Wirkungsgeschichte

Der englische Patient erschien 1992 und wurde unter anderem mit dem kanadischen Governor General’s Award und dem britischen Man Booker Prize ausgezeichnet. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und verkaufte sich mehr als 1 Million Mal. Es verdankt seine weltweite Bekanntheit insbesondere auch der Verfilmung durch Anthony Minghella – mit Ralph Fiennes, Juliette Binoche, Colin Firth, Willem Dafoe und Kristin Scott Thomas – aus dem Jahr 1996. Der Film war für zwölf Oscars nominiert und gewann davon neun, unter anderem als bester Film; darüber hinaus erhielt er zwei Golden Globes. Der große Erfolg des Films verzerrt jedoch die Wahrnehmung des literarischen Werkes, denn anders als im Roman diktieren im Film die Gesetze des Kinos die Konzentration auf eine Figur – den englischen Patienten und seine tragische Liebe. Nur dessen Erinnerungen folgt der Zuschauer, nur dessen Flashbacks werden in chronologischer Folge gezeigt. Die anderen drei Figuren werden in ihrer Komplexität und Tiefe stark beschnitten.

Über den Autor

Michael Ondaatje wird am 12. September 1943 in Colombo, Sri Lanka, in eine niederländisch-tamilisch-singhalesische Familie geboren. Anfang der 50er-Jahre zieht er mit seiner geschiedenen Mutter nach England und 1962 weiter nach Kanada. Als junger Mann lässt er sich in Toronto nieder. Er studiert Englische Literatur und erhält schon als Student Lyrikpreise. 1964 heiratet er die Malerin Kim Jones, im selben Jahr kommt Tochter Quintin zur Welt, 1967 Sohn Griffin – und mit The Dainty Monsters der erste Gedichtband. Ondaatje schreibt 1975 mit Buddy Boldens Blues (Coming Through Slaughter) seinen ersten Roman. Von 1971 bis 1983 lehrt er Englische Literatur an der York University in Toronto. Er lernt die Autorin und Wissenschaftlerin Linda Spalding kennen, die seine zweite Ehefrau wird. Mit ihr übernimmt er die Herausgeberschaft für das Literaturmagazin Brick, nachdem er schon seit den 60er-Jahren den kleinen unabhängigen Verlag Coach House Books als Lektor für Lyrik unterstützt. 1982 schreibt er die teils fiktiven Memoiren Es liegt in der Familie (Running in the Family) über seine Kindheit in Sri Lanka. Sein Roman In der Haut eines Löwen (In the Skin of a Lion, 1987) wird mehrfach ausgezeichnet. 1988 erhält Ondaatje den Order of Canada, die höchste kanadische Ehrung. 1992 erscheint der Roman Der englische Patient (The English Patient), der sein größter Erfolg wird. Ondaatje schreibt vielfach preisgekrönte Prosa und Lyrik und erhält 2005 mit dem Sri Lanka Ratna die höchste Ehrung des Landes für ausländische Bürger. Im April 2015 wendet er sich gemeinsam mit anderen Mitgliedern des PEN American Center gegen die Verleihung des Freedom of Expression Courage Award an die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo.

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