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Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

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Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte zu beschäftigen? Nietzsche jedenfalls übte schonungslose Kritik an der „historischen Krankheit“.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Welches Wissen braucht der Mensch?

In einer Zeit, als die auf Objektivität gründenden Wissenschaften ihren Siegeszug antraten, warf Nietzsche die Frage auf, welches Wissen die Menschen eigentlich brauchen, um ein Leben auf höherer Ebene zu führen. Er wandte sich gegen die gezielte Nutzung des Menschen für die Zwecke der aufblühenden Industrialisierung und gegen die Zerstörung von Kultur und Religion durch eine schonungslose, destruktive historische Analyse. Gerade der Geschichtswissenschaft sprach er die Objektivität ab, weil die wahren Sinnzusammenhänge für ihn nur durch ein gefühltes, gereiftes Verständnis der menschlichen Triebkräfte erfasst werden konnten und nicht durch eine Ansammlung vieler für die Lebenspraxis belangloser Fakten. Er lehnte die seinerzeit vorherrschende Atmosphäre eines "Endes der Geschichte" ab, weil sie die Lebenskräfte lähmte. Statt der Jugend durch eine derartige Erziehung ihre Instinkte zu rauben, verlangte er ein Erziehungssystem, das wieder Authentizität und Begeisterung fördern würde. Mit seiner Forderung nach ganzheitlicher und Sinn vermittelnder Bildung und seiner Verurteilung der Instrumentalisierung des Menschen im Namen der objektiven Wissenschaft spricht Nietzsche wohl auch vielen Zeitgeistern des 21. Jahrhunderts noch aus der Seele.

Take-aways

  • Nietzsche übt in seinem Frühwerk vehemente Kritik an der Kulturlosigkeit seiner Zeit. Die Geschichtswissenschaft sieht er als Ursache dafür an.
  • Die Erziehung der Jugend zielt seiner Meinung nach auf deren spätere Ausbeutung und Instrumentalisierung und verhindert echte Reife.
  • Es gibt drei Arten von Geschichtswissenschaft, die für das Leben von Nutzen sind: monumentalische, antiquarische und kritische Historie.
  • Die monumentalische Historie ermöglicht das Lernen von großen, motivierenden Vorbildern.
  • Die antiquarische Historie verhilft dem Menschen zu einem positiven Identitätsbewusstsein.
  • Die kritische Historie ist notwendig, um Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu erkennen und zu überwinden.
  • Alle drei geschichtswissenschaftlichen Ansätze müssen einander ergänzen, um schädliche Extreme zu vermeiden.
  • Von Übel ist dagegen die zweckfreie, "objektive" Geschichtswissenschaft, die lediglich belanglose Fakten anhäuft.
  • Diese Art von Historie führt zu geschwächten, gespaltenen, scheingebildeten Persönlichkeiten mit mangelnder Authentizität.
  • Sie zerstört heilsame Illusionen und lähmt die Lebenskräfte, führt zu Zynismus und Egoismus und verhindert die echte Reifung des Menschen.
  • Impulse für eine produktivere Entwicklung können nur von der noch unverdorbenen Jugend ausgehen.
  • Vor allem Künstler ließen sich von Nietzsches Philosophie inspirieren.

Zusammenfassung

Wozu Geschichtswissenschaft?

Goethe sagte einmal, dass ihm alles verhasst sei, was ihn nur belehre, ohne ihn gleichzeitig zu Taten zu motivieren. Diese Kritik trifft vor allem auf den allgegenwärtigen Einfluss der Geschichtswissenschaft (Historie) zu. Gerade weil diese objektiv und rein faktenorientiert sein will, erweist sie sich als überflüssig. Und weil sie die gesunden, optimistischen, kreativen Kräfte des Menschen durch die Ermutigung zu einer zweckfreien, rückwärtsgerichteten Orientierung lähmt, erweist sie sich sogar als schädlich. Eine Wissenschaft, egal ob es sich um Geschichte oder Philologie handelt, ist nur dann nützlich, wenn sie die Lebenskräfte des Menschen stärkt und ihn zu einer positiven Zukunftsgestaltung anregt. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für ganze Völker und Kulturen.

Das unhistorische Tier

Das Tier inmitten der grasenden Herde lebt nur im Augenblick, es kennt keine Schwermut und keinen Überdruss. Der Mensch, der sich für so viel höher als das Tier hält, kann sich dagegen nicht von den Fesseln seiner Vergangenheit lösen und beneidet das Tier um seinen Gleichmut. Das Tier lebt ehrlich, ohne Verstellung und ohne Erinnerung. Der Mensch kann nicht vergessen und hat nur selten einen Augenblick völligen Glücks. Als zeitbewusstes Wesen kann er nicht ohne Vergangenheit leben. Er wird aber zu sehr von ihr gelähmt, wenn er nicht den nötigen Abstand zu ihr gewinnt. Für ein gesundes Zukunftsvertrauen ist es wichtig, im richtigen Maß und zur jeweils richtigen Zeit historisch oder unhistorisch zu empfinden und zu leben. Alle großen geschichtlichen Errungenschaften sind aus einer unhistorischen Atmosphäre entstanden. Denn nur in solchen Augenblicken der Freiheit von der Vergangenheit kann der Mensch seine größten Taten vollbringen.

Die drei notwendigen Arten von Historie

Als Menschen, sofern wir nach Größe streben und nicht nur in Scheinbildung und Mittelmaß verharren wollen, brauchen wir drei Arten von Geschichtswissenschaft, um eine tragfähige, echte Kultur aufzubauen und uns persönlich weiterzuentwickeln:

  • die monumentalische Historie,
  • die antiquarische Historie und
  • die kritische Historie.
„Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: Sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig.“ (S. 8)

Die monumentalische Historie ist das Geschichtswissen derer, die große Taten vollbringen wollen. Sie ist die Historie der Aktiven und Einflussreichen: Aus der Kenntnis der großen Vorbilder der Vergangenheit kann der Mensch den Mut und die Zuversicht erlangen, dass auch zu seiner Zeit noch Großes möglich ist. Die Vorbilder können ihm als Lehrer und Tröster in schwierigen Zeiten dienen. Gerade das Große wird ja immer von der Masse der mittelmäßigen Zeitgenossen bekämpft und behindert. Die monumentalische Historie kann vor der Resignation bewahren und zu großen Taten anspornen.

„Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen.“ (S. 19)

Im übertriebenen Maß angewandt, kann die monumentalische Geschichtsauffassung aber auch Schaden anrichten. Wer sie vertritt, vergisst viele andere Aspekte der Geschichte. Sie kann den Mutigen zur unüberlegten Verwegenheit und den Begeisterten zum Fanatismus anstiften. Wenn sich dann noch Egoisten und Bösewichter der großen Vorbilder bedienen, kann das zu verheerenden Kriegen, Revolutionen und Attentaten führen. Noch fataler wirkt sich die monumentale Historie in den Händen der Ohnmächtigen und Passiven aus. Von ihnen wird sie dann als Waffe gegen die potenziell Großen der Gegenwart eingesetzt. Ein Beispiel findet sich in der Kunst: Die Kleingeister können sehr leicht die großen Beispiele der Vergangenheit gegen die besten heutigen Künstler verwenden, gegen die, die ja noch nicht die Gelegenheit hatten, sich im geschichtlichen Rückblick als monumental zu erweisen. So wird das gegenwärtig Große mit Hilfe der Vergangenheit erstickt; die toten Großen begraben die lebenden.

„Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient.“ (S. 33)

Der Mensch braucht ein gewisses Maß an Geborgenheit und Identität. Dafür ist die antiquarische Historie hilfreich. Die bewährten Traditionen und geschichtlichen Überlieferungen bieten dem Menschen eine Verwurzelung in einer Kultur, einem Volk, einer Umgebung. Dadurch lässt sich beispielsweise auch erklären, dass manche Menschen über Generationen hinweg in relativ unwirtlichen Erdgegenden und unter schwierigen Lebensbedingungen ausharren, solange sie dabei eine bestimmte Verbundenheit mit ihrer Heimat oder ihrem Volk empfinden.

„Der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.“ (S. 44)

Problematisch wird dieser antiquarische Ansatz, wenn er dazu führt, dass alles Alte und Hergebrachte gleichermaßen verehrt und deswegen jegliches Neue automatisch abgelehnt wird. Dabei wird das Leben mumifiziert und eine Weiterentwicklung zu einer höheren Daseinsform wird verhindert. Ganz allgemein muss die antiquarische Geschichtsauffassung im Gleichgewicht zur monumentalischen und kritischen stehen, weil sie sonst das Augenmerk zu sehr auf das Vergangene lenkt, alles Werdende erstickt und das Handeln lähmt.

„Jene naiven Historiker nennen ‚Objektivität’ das Messen vergangner Meinungen und Taten an den Allerweltsmeinungen des Augenblicks: Hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen.“ (S. 56)

Um dem Fortschritt des Lebens zu dienen, braucht der Mensch deshalb auch noch die kritische Historie. Er muss in der Lage sein, Fehlentwicklungen der Vergangenheit offen zu erkennen und freimütig zu benennen. Und er braucht die Kraft, die Vergangenheit gelegentlich zu überwinden oder sogar zu zerstören. Manchmal dürfen wir nicht vergessen, was war, sondern müssen uns im Gegenteil bewusst machen, wie ungerecht manche Privilegien, gesellschaftliche Klasseneinteilungen oder Machtgefüge eigentlich sind und wie sehr sie ihren Untergang verdienen. Es ist aber nicht leicht, sich von den Einflüssen der Vergangenheit, deren Kinder wir ja alle sind, zu lösen und bewusst etwas Neues, dem Vergangenen Entgegengesetztes zu entwickeln.

Das Dilemma des modernen Menschen

Ein gewisses Maß an Kenntnis der Vergangenheit ist dem Leben dienlich. Geschichtswissenschaft muss aber immer zur Förderung des Lebens betrieben werden. Lebenszerstörend wirkt sie sich aus, wenn sie einerseits zweckfrei, als objektive Faktensammlung und intellektuelle Spielerei betrieben wird und wenn andererseits das historische Denken alle Lebensbereiche erfasst und seziert. Das hat zur Folge, dass der moderne Mensch mit einem Überfluss von erlernten Fakten erfüllt wird, ohne gleichzeitig lebensfördernde Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Er führt ein äußeres Leben voller Konventionen und Oberflächlichkeiten, während er innerlich zerrissen und desorientiert ist. Im Grunde ist er nichts als ein scheingebildeter Barbar, ein Bildungsphilister.

Der Schaden der historischen Übersättigung

Die Übersättigung mit "objektiven", emotionslosen, zwecklosen historischen Fakten ist dem eigentlichen, praktischen Leben in vielfacher Weise abträglich:

„Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr wundern.“ (S. 66 f.)

Erstens führt sie zu einer geschwächten Persönlichkeit. All das Faktenwissen kann nicht im Alltag umgesetzt werden, dem Menschen fehlt es an echter Selbsterkenntnis und er lebt nur vom auswendig Gelernten. Für ihn ist alles relativ, er hat weder feste Werte noch klare Ziele. Seine echten menschlichen Bedürfnisse bleiben in seinem Innern verschüttet. Seine Handlungen sind unecht und lustlos und entsprechend uneffektiv. Weil er innerlich leer ist, sucht er ständig nach neuen Reizen und betreibt das Lernen nur zur Zerstreuung, nicht um wirklich etwas für sein Leben daraus zu gewinnen.

„Dicht neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie über sich selbst, sein Bewusstsein, dass er in einer historisierenden und gleichsam abendlichen Stimmung leben muss, seine Furcht, gar nichts mehr von seinen Jugendhoffnungen und Jugendkräften in die Zukunft retten zu können.“ (S. 82)

Weiter ist der moderne Mensch in der Illusion gefangen, aufgrund seiner historischen "Objektivität" in seinem Urteil gerechter als die Menschen anderer Zeiten zu sein. Er häuft damit aber nur Scheinwahrheiten auf, denn die eigentliche Bedeutung der Geschichte kann nicht objektiv und emotionslos erfasst werden. Die Vergangenheit ist von den starken Trieben und Instinkten der damaligen Menschen geprägt. Nur wer diese versteht, kann der Geschichte lebensfördernden Sinn abgewinnen. Eine scheinbare Objektivität erfasst dagegen nur belanglose Oberflächlichkeiten, die für das gegenwärtige Leben keinerlei Bedeutung haben. Deshalb kann nur der erfahrene und gereifte Mensch der Geschichte wirklich einen produktiven Sinn verleihen.

„Überstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tötet nur deine eigene. Miss nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender.“ (S. 84)

Indem die moderne Geschichtswissenschaft diese trügerische historische Objektivität unbarmherzig auf alle Lebensbereiche anwendet, zerstört sie zudem kulturelle Elemente wie Kunst und Religion, die der Mensch zu seinem Gedeihen braucht. Indem sie mit ihrem unerbittlichen "objektiven" Sezieren auch die Illusionen zerstört, die dem Menschen für sein Leben dienlich sind, und indem sie der Gegenwart ihre kreative Atmosphäre nimmt, entpuppt sich diese Art von Geschichtswissenschaft als destruktiv. Alles Lebendige braucht um sich eine geheimnisvolle Aura, wenn es gedeihen soll. Für ein ungestörtes Reifen benötigt der Mensch die schützende Wolke positiver Illusionen.

„Und hier erkenne ich die Mission jener Jugend, jenes ersten Geschlechtes von Kämpfern und Schlangentötern, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht, ohne von diesem zukünftigen Glücke und der einstmaligen Schönheit mehr zu haben als eine verheißende Ahnung.“ (S. 105)

Gerade auf die Entwicklung junger Menschen wirkt sich das aufgezwungene Pauken unzähliger belangloser Dinge fatal aus. Sie können darauf nur mit Abstumpfung reagieren. Am Ende können sie endlose Fakten zitieren, haben aber keinerlei inneren Reifeprozess durchlaufen. Diese verfehlte Erziehung wird auch bewusst dafür eingesetzt, die Menschen für Ausbeutung und kommerzielle Nutzung verfügbar zu machen.

„Und wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet ihr fragen. Der delphische Gott ruft euch, gleich am Anfange eurer Wanderung nach jenem Ziele, seinen Spruch entgegen: ,Erkenne dich selbst.’“ (S. 107)

Durch die Erzeugung des Gefühls, das Ende der geschichtlichen Entwicklung sei erreicht, sowie durch ausschließlich rückwärtsgerichtete Analysen, bei denen der moderne Mensch sich nur noch als Epigone, als Nachzügler und Erbe der alten Kulturen empfinden kann, werden die Lebenskräfte gelähmt. Der Mensch glaubt, nichts Neues, Weiterführendes mehr schaffen zu können, sondern dazu verurteilt zu sein, die Vergangenheit lediglich nachzuahmen.

Ein übermäßiges Befassen mit belanglosen geschichtlichen Fakten führt zudem zu einer zynischen Lebenshaltung. Diese wird durch die lebensfeindliche Einstellung des offiziellen Christentums noch verstärkt, welches nur deshalb zu einer so erfolgreichen geschichtlichen Macht werden konnte, weil es sich der Techniken der Machtausübung zu bedienen wusste.

Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Egoismus von Einzelnen, Gruppen und Volksmassen schon immer die treibende historische Kraft war. Wo es keine großen Zukunftserwartungen mehr gibt, zieht sich der Mensch auf seinen eigenen Egoismus zurück. Er will es sich dann wenigstens im Leben bequem machen. Aus der Geschichte hat er dabei gelernt, dass ein extremer, "unkluger Egoismus" zu Katastrophen führen kann. So ist der "kluge Egoist" bereit, einige Beschränkungen in Kauf zu nehmen und mit Hilfe von staatlichen Organen wie der Polizei oder dem Militär die unklugen, extremen Egoisten im Zaum zu halten.

Die Republik der Genialen

Der Egoismus der Massen führt zur Mittelmäßigkeit. Die wahre Geschichte der Menschheit setzt sich aus einem Netzwerk von großen Geistern zusammen, die über die Zeiten hinweg durch die Geschichte miteinander in Verbindung stehen, sodass die Späteren von den Früheren lernen können und alle gemeinsam eine Art geistige Republik der Genialen bilden. Der wahre Zweck des Lebens ist es, weitere große Menschen hervorzubringen. Deshalb macht es auch wenig Sinn zu fragen, wozu die Menschheit da sei. Stattdessen sollte sich jeder fragen: "Wozu bin ich da?", und nach Selbsterkenntnis und Größe streben.

Hoffnungsträger Jugend

Der gegenwärtige Zustand der Scheinbildung, der belanglosen geschichtlichen Fakten, der Orientierungslosigkeit und Lähmung der Lebenskräfte kann nur durch die Jugend überwunden werden. Ihren stärksten Instinkten, wie ihrem jugendlichen Begeisterungsvermögen, ihrer Bereitschaft zum Widerstand und ihrer Fähigkeit zu Selbstvergessenheit und Liebe, muss wieder zum Durchbruch verholfen werden. Die jungen Menschen müssen zu den neuen Kämpfern und Drachentötern werden. Nur durch eine Erziehung, die die Wahrhaftigkeit und den Zukunftsglauben der Jugend wieder zur Reife führt, kann der durch die "historische Krankheit" erzeugte Schaden an der Kultur und dem Leben behoben werden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ist der zweite einer Reihe von vier Texten, die unter dem Titel Unzeitgemäße Betrachtungen erschienen. Während er sich in den anderen drei Essays positiv oder negativ mit konkreten Personen (David Strauss, Arthur Schopenhauer, Richard Wagner) und Aspekten ihres Werkes befasst, macht Nietzsche in dem Historien-Aufsatz eine kulturelle Bewegung, den "objektiven" Historismus, zum Gegenstand seiner Kritik. Die Abhandlung ist in ein Vorwort und zehn weitere Teile gegliedert. Dabei sind die Übergänge recht fließend. Das Werk ist verständlich, ohne Fachjargon, mit viel Energie geschrieben und leicht zu lesen. Nietzsche setzt dabei seine Überzeugung in die Tat um, dass Begriffe, die die Bedeutung verschleiern und keinen Erkenntnisgewinn bringen, schädlich sind. Sich wenig um die Konventionen für Fachaufsätze seiner Zeit scherend, setzt Nietzsche fast durchweg auf eine emotionsgeladene Sprache und weiß sowohl feine Ironie als auch unverhohlenen Spott gezielt einzusetzen. Nicht selten lässt er sich auch zu längeren Abschweifungen verleiten. Entstanden ist so nicht etwa eine trockene, schwer lesbare philosophische Abhandlung, sondern eine interessante und unterhaltsame Streitschrift, die allerdings noch nicht den brillanten, oft aphoristischen Sprachstil des späten Nietzsche zeigt.

Interpretationsansätze

  • Nietzsche übt Kritik an der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Während er die Auswüchse des Historismus, das detailversessene Sammeln objektiver Fakten und die Tendenz, alles einer historischen Analyse zu unterwerfen, kritisiert, macht er auch konstruktive Gegenvorschläge, indem er darlegt, wie die Geschichtsbetrachtung eigentlich erfolgen sollte, damit sie dem Leben dienlich ist.
  • Nietzsche zeigt feines psychologisches Gespür. Er weiß, dass der Mensch (im Unterschied zum Tier) ein von Natur aus geschichtliches Wesen ist, und er weiß um die Bedeutung heilsamer Illusionen für die Lebensbewältigung.
  • Der Philosoph lehnt den Wahrheitsanspruch der "objektiven" Wissenschaften ab, weil er vor allem an der Geschichtsforschung sieht, dass die Beschränkung auf historische Fakten oft nur Belangloses zutage fördert und dass erst der kreative, reife Historiker daraus Sinnzusammenhänge konstruieren kann.
  • Nietzsche vertritt einen elitären Ansatz: Für ihn zählen allein die Großen und Genialen der Menschheitsgeschichte, und es ist die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft, zwischen diesen außergewöhnlichen Individuen unterschiedlicher Zeiten zu vermitteln. Gerade mit seinem elitären Denken eckt Nietzsche auch heute noch oft an.
  • Gemäß Nietzsche sind es die wenigen "großen Geister", die die Geschichte vorantreiben. Den blinden Zufall hingegen, der möglicherweise die Geschichte regiert, über den Ausgang von Schlachten entscheidet und viele Menschen an die Spitze spült, die dann im Rückblick als die "großen Geister" dastehen, zieht er nicht in Betracht.
  • Der Philosoph wendet sich gegen die Hegel’sche Geschichtsphilosophie, er kritisiert die Auffassung, die Gegenwart sei die Vollendung der Geschichte. Ebenso würde er sich wohl über heutige Theorien vom "Ende der Geschichte" wie die des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama lustig machen.
  • Nietzsches Empfehlung, sich auf überhistorische Kräfte zu besinnen, nämlich Kunst und Religion, vermag nicht gänzlich zu überzeugen, denn auch diese sind ja letztlich historischen Entwicklungen unterworfen. Nietzsche selbst hat diese Kräfte auch später zum Gegenstand seiner Kritik gemacht.

Historischer Hintergrund

Geschichtsbild und Erziehung am Ende des 19. Jahrhunderts

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereitete sich in Europa allenthalben ein Gefühl der Überlegenheit aus. Vor allem von Großbritannien gingen umfassende imperialistische Bestrebungen aus, die mit der höheren Entwicklungsstufe der westlichen, europäischen Kultur begründet wurden. In den meisten europäischen Ländern war die Industrialisierung in vollem Gange. Das 1871 nach dem Sieg Preußens über Frankreich vereinigte Deutsche Kaiserreich war von Patriotismus erfüllt. Man war stolz auf seine Errungenschaften und legte viel Wert auf eine geschichtliche Erforschung der eigenen kulturellen Ursprünge. Mit wissenschaftlichen Methoden wurde nun auch eine moderne Bibelkritik durchgeführt, mit dem Ziel, Mythen zu entlarven und Unstimmigkeiten aufzudecken. Die Künstler wurden nicht allein an ihrem Werk gemessen, sondern auch kunsthistorisch überprüft und eingeordnet. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war von Erfindungen, die die industriellen Produktionsprozesse revolutionierten, und von bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen geprägt.

Aus diesen wissenschaftlichen, technischen und medizinischen Fortschritten speiste sich die Hoffnung der Menschen auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Das deutsche Erziehungssystem war stolz auf das enorme Lernpensum, das den Schülern auferlegt wurde. Ein Großteil des Stoffes bestand aus klassischer Philologie und Geschichte. Dabei ging es aber nicht um die Förderung von kritischem Denken, sondern um das Auswendiglernen von möglichst vielen Fakten. Großes Faktenwissen wurde mit hoher Bildung gleichgesetzt. Die Atmosphäre im Elternhaus und in der Schule war restriktiv und von Tabus geprägt; die wahren Bedürfnisse der Jugendlichen wurden nicht ernst genommen, sondern unterdrückt. Es ging vor allem darum, dass die Kinder und Jugendlichen stets gut funktionierten, Karriere machten und sich zu treuen Untertanen und produktiven Mitgliedern des Wirtschaftsprozesses entwickelten. Entsprechend waren sie auch als Erwachsene meist angepasst. Vor allem die Deutschen waren berühmt für ihre Disziplin und berüchtigt für ihre Autoritätshörigkeit. Sie selbst verstanden sich als Kulturvolk. Politisch fühlte man sich seit der Gründung des Kaiserreiches als Sieger der Geschichte, die unter dem Einfluss des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel als zielgerichteter Prozess aufgefasst wurde, als Prozess, der mit seiner Eigendynamik den Einfluss Einzelner weitgehend relativierte.

Entstehung

Bereits durch seinen Besuch der Schulpforta, einer der damals besten Schulen Sachsens, war Nietzsche mit elitärem Denken in Berührung gekommen. Der Rektor vertrat ein Bildungsideal, das auf die Stärkung des Individuums hinauslief. Schon früh lehnte Nietzsche auch die Idee eines allgemeinen Zugangs zu höherer Bildung ab, weil dies seiner Meinung nach nur halbgebildete Barbaren hervorbringen würde. Auch die Entwicklung der Wissenschaft beobachtete er mit Misstrauen. Er sah durch deren Bemühung um Objektivität die Instinkte des Menschen unterdrückt. Die Wissenschaft ließ seiner Meinung nach keinen Raum für Mythen und gewisse nützliche Illusionen, aus deren Nährboden die großen menschlichen Leistungen der Vergangenheit erwachsen waren. Wie Arthur Schopenhauer, den der junge Nietzsche als seinen philosophischen Mentor ansah, lehnte er den Anspruch der Geschichtsschreibung, eine Wissenschaft zu sein, ab. Im 1873 erschienenen ersten Teil der Reihe Unzeitgemäße Betrachtungen griff Nietzsche den Theologen und Religionshistoriker David Strauss scharf an, weil er diesen für das typische Beispiel eines Bildungsphilisters hielt, der religiöse Mythen durch wissenschaftliche Literaturkritik zu zerstören suchte. Ein Jahr später attackierte Nietzsche dann in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, dem zweiten Teil der Reihe, das gesamte Phänomen der Geschichtswissenschaft und die seiner Meinung nach schädlichen Auswirkungen auf Kultur und Erziehung.

Wirkungsgeschichte

Die Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben erschien 1874, wie schon der erste Band der Reihe im Jahr zuvor, in einer nur kleinen Auflage; der Verkauf lief sehr schleppend. 1892 gab es aber einen Nachdruck von 1000 Exemplaren, die innerhalb eines Jahres fast vollständig verkauft wurden. Nietzsches Gesamtwerk übte, obwohl es zu Lebzeiten bei den deutschsprachigen Intellektuellen kaum Beachtung fand, später einen erheblichen Einfluss nicht nur auf die Philosophie, sondern vor allem auch auf Kunst und Literatur aus. Nietzsches Kultur- und Geschichtskritik hat Schriftsteller wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Gottfried Benn und viele andere geprägt. In der Philosophie reichte sein intellektueller Schatten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein: Für Martin Heidegger war die zweite Unzeitgemäße Betrachtung eines der wichtigsten Werke Nietzsches; er setzte sich damit in seinem Hauptwerk Sein und Zeit auseinander. Auch die Vertreter der Frankfurter Schule, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, kamen nicht an Nietzsche vorbei; Horkheimer ließ sich 1969 sogar zu der Aussage hinreißen: "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Nietzsche höchstwahrscheinlich ein bedeutenderer Denker ist als Marx." Französische Postmodernisten und Poststrukturalisten, wie Michel Foucault und Jacques Derrida, wurden ebenfalls von Nietzsches Kulturkritik beeinflusst.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.

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