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Vom pflichtgemäßen Handeln

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Vom pflichtgemäßen Handeln

Artemis & Winkler,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Für Voltaire war es das beste Buch über Moral überhaupt: Cicero sagt, was richtig ist und was nicht.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Römische Antike

Worum es geht

Das Vermächtnis eines Republikaners

Eigentlich kam Cicero wider Willen zur Moralphilosophie. Als die römische Machtelite um Cäsars Nachfolge stritt, sagte er dem aussichtsreichsten Kandidaten den Kampf an: Marcus Antonius sei ein kleiner Trinker und ein großer Tyrann. Der Gescholtene reagierte prompt und vertrieb den Kritiker aus der Stadt. Von der Tagespolitik abgeschnitten suchte Cicero zähneknirschend sein Heil in der Philosophie. Mit seinem opulenten Mahnbrief Vom pflichtgemäßen Handeln wollte er Mitstreiter für die bedrohte Republik gewinnen. Zu ihrer Rettung empfahl er schlicht: Menschlichkeit. Die Herrscher sollten von Machtmissbrauch und Vorteilsdenken lassen und stattdessen ein gerechtes und fürsorgliches Miteinander pflegen. Seine Ratschläge packte er in ein buntes Regelwerk, wobei er stark darauf achtete, die Fallgruben des Alltags und die Fehler des Menschen im Blick zu behalten. Doch die Politik ließ sich nicht belehren: Die römische Republik ging unaufhaltsam ihrem Ende entgegen und die neuen Herrscher ließen den streitbaren Republikaner kurzerhand umbringen. Ciceros Ethik allerdings hat die Jahrhunderte überstanden. Manche Norm mag heute befremdlich wirken, doch das konsequente Eintreten des Autors für ein gerechtes, menschenwürdiges Leben beeindruckt noch immer.

Take-aways

  • Vom pflichtgemäßen Handeln ist ein Schlüsselwerk der antiken Moralphilosophie.
  • Inhalt: Cicero schreibt einen mahnenden Brief an seinen Sohn Marcus und klärt ihn über dessen Pflichten auf. Cicero erörtert sie nach drei Aspekten: der Moral, der Nützlichkeit und dem Verhältnis zwischen beiden. Pflichtgemäß handelt, wer den vier Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung folgt, der menschlichen Natur entspricht und dem Gemeinwohl dient.
  • Cicero orientiert seine Ethik an der Lebenspraxis.
  • Seine Leitsätze begründet er anthropologisch: Die Natur des Menschen veranlasst diesen zum Gemeinschaftsleben und zum tugendhaften Handeln.
  • Das Werk fußt auf der Lehre des Stoikers Panaitios von Rhodos, die Cicero mit römischen Wertvorstellungen anreicherte.
  • Er schrieb das Buch zurückgezogen auf seinem Landsitz, nachdem er aus der Politik verdrängt worden war.
  • Seine Kritik an Cäsar und dessen Nachfolgern kostete Cicero schließlich das Leben.
  • Ciceros Ethik beeinflusste die spätere Moralphilosophie: Im Mittelalter wurde sie ins christliche, in der Renaissance ins humanistische Weltbild übertragen.
  • Voltaire und Friedrich der Große hielten das Werk für das beste Buch über Moral.
  • Zitat: „Denn kein Lebensbereich (...) kann ohne Pflichten auskommen; und auf ihrer Erfüllung beruht jede Moral im Leben und auf ihrer Missachtung die Schande.“

Zusammenfassung

Cicero schreibt an seinen Sohn

Kein Lebensbereich kommt ohne Pflichten aus. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, steht am Anfang die Frage nach dem höchsten Gut und nach den Regeln, die es braucht, um ihm gerecht zu werden. Pflichten lassen sich nach drei Aspekten gliedern: der Moral, der Nützlichkeit und dem Verhältnis zwischen beiden. Alle drei Aspekte entspringen ein und derselben Quelle, nämlich den Grundtrieben des Menschen. Dieser strebt erstens nach der Erhaltung seiner Existenz und seiner Art, doch im Unterschied zum Tier geht er darüber hinaus: Vernunftbegabt, wie er ist, trachtet er zweitens nach Erkenntnis, nach einer sicheren Zukunft und nach freier Selbstbestimmung. Dabei leitet ihn drittens ein starker sozialer Sinn, denn er lebt gemeinschaftlich. Viertens schließlich ist er zu sinnlicher Wahrnehmung fähig und weiß Schönheit und Ordnung zu schätzen. Diese vier Grundtriebe vollenden sich im Moralischen.

Was weise und was gerecht ist

Moralisch gesehen richtet sich das Handeln des Menschen nach vier Tugenden. Die erste ist die Weisheit. Sie klärt über das gute und glückliche Leben auf. Allerdings beschränkt sie sich nicht auf rein theoretisches Wissen, sondern wirkt in die Lebenspraxis hinein. Dort versucht sie sich zu bewähren, indem sie sich an die zweite Tugend bindet: die Gerechtigkeit. Deren Aufgabe liegt im Erhalt des sozialen Miteinanders. Zu diesem Zweck lässt sie sich von zwei Maximen leiten: Niemandem soll Schaden zugefügt werden, es sei denn, erlittenes Unrecht fordert dazu heraus. Und: Privates Eigentum darf nicht angetastet werden. Wer einem anderen Menschen schadet oder ihm benötigte Hilfe verweigert, handelt ungerecht. Dazu verleiten meist Trägheit, Habsucht oder Eigennutz, die Furcht also, sich Nachteile einzuhandeln. Diese Maximen gelten nicht absolut, sondern situationsspezifisch. Ein Versprechen verpflichtet z. B. nicht in jedem Fall: Wurde es mit Gewalt oder List erzwungen, darf es widerrufen werden. Den Gesetzen und Regeln zu folgen, heißt, auf ihren Geist und ihren Wortlaut zu achten. Spitzfindige Auslegungen richten Schaden an. Gilt etwa ein Waffenstillstand für 30 Tage, dürfen die Feinde nicht über Nacht die Felder verwüsten, nur weil im Vertrag von Tagen die Rede ist.

Güte und Hilfsbereitschaft

Hilfsbereite und großzügige Menschen handeln meistens gerecht. Aber auch richtiges Helfen will gelernt sein: Die Hilfe darf keinem Dritten schaden, soll die eigenen Möglichkeiten nicht übersteigen und muss jedem Bedürftigen zukommen – z. B. auch Sklaven. Der wahre Wohltäter folgt zunächst den allgemeinen Rechten: Zum Beispiel darf niemand von fließendem Wasser ausgeschlossen werden. Wer einen Ratschlag erbittet, soll ihn offen und ehrlich erhalten. Der Wohltätige passt seine Hilfe der jeweiligen Situation an: dem sozialen Bereich, dem Grad der Bedürftigkeit und den eigenen Möglichkeiten. Dem Vaterland und den Eltern gehört vorrangig geholfen, denn ihnen verdanken wir das meiste. Bei Konflikten sind die Bedürfnisse klug abzuwägen: Der Freund steht uns zwar näher als der Nachbar, doch u. U. kann es dringlicher sein, dem Nachbarn bei der Ernte zu helfen als dem Freund oder Bruder.

Tapfere und große Seelen

Die dritte Tugend heißt: innere Größe oder Tapferkeit. Diese Tugend kämpft für die Gerechtigkeit, indem sie das Schicksal erträglich, die inneren Ängste wirkungslos und die äußeren Reichtümer unbedeutend macht. Der Tapfere handelt vernünftig, würdig und selbstsicher und eignet sich damit besonders für die Politik. Er vermag den Staat vor Gefahren zu schützen, indem er sie klug einzuschätzen und abzuwenden weiß. Doch Tapferkeit kann selbst zur Gefahr werden, dann nämlich, wenn sie sich von der Gerechtigkeit löst. Gaius Iulius Caesar z. B. besaß innere Größe, doch er missbrauchte sie, indem er sie nicht fürs Gemeinwohl einsetzte. Auch der Privatmann sollte nach innerer Größe streben. Sie bewahrt ihn vor Profitgier und Verschwendungssucht und fördert den Mut und die Würde des wahren Menschenfreundes.

Maßvoll und angemessen handeln

Die vierte Tugend ist die Mäßigung. Das rechte Maß geben die vier Rollen vor, die der Mensch von Natur aus spielt. Die erste ist allgemeiner Natur und betrifft die beiden Seelenkräfte Vernunft und Antriebskraft. Der Maßvolle bringt sie ins rechte Verhältnis, nämlich in das von Befehl und Gehorsam: Die Vernunft lenkt, die Antriebskraft folgt. Die zweite Rolle variiert von Mensch zu Mensch und betrifft seine Eigenschaften: die körperliche Konstitution, die äußere Erscheinung, den Charakter. Die dritte Rolle ergibt sich aus der Berufswahl und ihren sozialen Folgen: Der Redner etwa spielt eine andere Rolle als der Jurist oder Staatsmann. Die vierte Rolle schließlich hat mit innerer Harmonie zu tun. Sie drückt sich im Taktgefühl und im Respekt für die situativen Umstände aus. Maßvoll und angemessen handelt, wer weder die Befehlsgewalt der Vernunft noch die individuellen Belange missachtet. Nicht jeder ist z. B. dafür geschaffen, fürs Vaterland in den Tod zu gehen. Dem Schwachen mangelt es an Körperkraft, also ist er von dieser Pflicht entbunden.

„Denn kein Lebensbereich (...) kann ohne Pflichten auskommen; und auf ihrer Erfüllung beruht jede Moral im Leben und auf ihrer Missachtung die Schande.“ (S. 11)

Wer den vier Tugenden folgt, handelt pflichtgemäß: Er steht mit der menschlichen Natur in Einklang und stellt den gemeinschaftlichen Nutzen über den eigenen. Dieser Vorrang erklärt sich aus der Geschichte: Der Mensch konnte sein Überleben nicht alleine sicherstellen, also tat er sich mit anderen zusammen. Gemeinsam waren die Menschen stark genug, um für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen. Dies kommt nun allen zugute.

Die Menschen schaden und nützen einander

Die Sorge ums Gemeinwohl genießt Priorität, denn den größten Nutzen haben die Menschen voneinander: Die Gruppe stellt die notwendige Ernährung sicher (durch Ackerbau), schützt das Leben jedes Einzelnen (durch Soldaten) oder leistet in der Politik Überragendes (durch den Entwurf einer Verfassung). Kein Volk wäre versorgt, keine Stadt sicher, keine Republik gegründet, wäre jeder Mensch auf sich allein gestellt. Allerdings gilt auch der Umkehrschluss: Die Menschen können einander Schaden zufügen. Dem ist vorzubeugen, indem wir versuchen die Zuneigung der anderen zu gewinnen. Denn erst die Zuneigung macht die Menschen tugendhaft, wahrhaft nützlich und selbstbestimmt.

Sich zum Guten motivieren

Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Angst und Schrecken wecken Hass, keine Zuneigung. Tyranneien sind beispielhaft dafür. Wer Recht und Freiheit mit Füßen tritt, braucht für stille oder offene Rebellion nicht zu sorgen, sie kommt von selbst. Zuneigung dagegen basiert auf Sympathie, auf einer mit Achtung und Vertrauen gepaarten Liebe. Mit Sympathie begegnen uns die wahren Freunde. Also sollten wir unbedingt Freundschaften schließen. Auch nach Ruhm und Ehre zu streben, erweist sich als nützlich: Wer beides erlangt hat, weiß sich geachtet oder bewundert. Wer seinen Ruhm allerdings erheuchelt, indem er falsche Tatsachen vorspiegelt, erzielt keinen Nutzen: Sobald der Betrug auffliegt, ist sein Ruf ruiniert. Deshalb sollten wir stets mit Tugend nach Ruhm oder Ehre streben, etwa indem wir uns hilfsbereit zeigen. Zu hilfsbereiten Menschen fühlen wir uns hingezogen, denn wir erkennen die menschliche Natur in ihnen und bewundern die innere Würde. Vertrauen verdienen die Klugen und Gerechten: Ihnen trauen wir zu, drohende Gefahren abzuwenden. Ähnliches gilt für die Kaufleute: Wickeln sie ihre Geschäfte klug und gerecht ab, bleiben ihnen die Kunden treu. Und auch dem Redner nützt seine Eloquenz nur, wenn er sie mit Tugend verbindet: Wer einen Unschuldigen vor Gericht verklagt, zerstört seinen Ruf.

Der Lohn der Tugend: öffentliche Anerkennung

Wohltaten, etwa wenn wir uns für Bedürftige einsetzen oder sie finanziell unterstützen, sind gemeinhin nützlich. Allerdings werden persönliche Bemühungen höher geschätzt als Geldspenden. Eine ähnliche Rangfolge gilt bei den Großzügigen: Einer übernimmt beispielsweise die Schulden eines Freundes, ein anderer richtet öffentliche Zirkusspiele aus. Wirklich nützlich handelt nur der Erste, der Freigebige. Er kann sich der Dankbarkeit sicher sein. Der Zweite hingegen, der Verschwender, beseitigt mit seinen Zirkusspielen keine einzige Not. Im Idealfall kommen die Wohltaten allen zusammen und jedem Einzelnen gleichermaßen zugute. Wer etwa Getreide unters Volk bringen will, weil es Hunger leidet, sollte einerseits die Staatskasse schonen, andererseits dem Volk das Nötige geben. Staatsmänner richten großen Schaden an, wenn sie habsüchtig oder bestechlich werden. Sie gefährden den inneren Frieden der Republik. Mit Recht wurde prophezeit, Sparta werde nicht an den Feinden, sondern an der Bestechlichkeit zugrunde gehen. Dieser Orakelspruch sollte allen Völkern eine Warnung sein.

Niemandem schaden

Es gibt nichts Moralisches, das unnütz, und nichts Nützliches, das unmoralisch wäre. Nutzen und Moral sind niemals Gegensätze. Sie widersprechen einander nur scheinbar, dann nämlich, wenn etwas nützlich wirkt, ohne es in Wahrheit zu sein. Diese Täuschung lässt sich mithilfe des folgenden Maßstabs erkennen: Einem anderen etwas wegzunehmen oder sich auf Kosten anderer einen Vorteil zu verschaffen, geht stärker gegen die menschliche Natur als Tod, Armut oder Schmerz. Dieser Maßstab gilt für die absoluten wie auch für die mittleren oder angepassten Pflichten. Die absoluten befolgen nur weise Männer, denn sie sind vollkommen. Anständige Männer halten sich an die Pflichten zweiter Klasse, um dem Ideal der Weisen möglichst nahezukommen.

„Aber Gerechtigkeit wird erstens dadurch verwirklicht, dass man niemandem Schaden zufügt, außer wenn man durch ein Unrecht herausgefordert ist, zweitens, dass man gemeinsames Eigentum als gemeinsames und privates Eigentum als privates gelten lässt.“ (S. 25)

Alle Natur- und Rechtsverhältnisse bestätigen den Maßstab der Menschlichkeit. Er entspricht auch dem Wesen von Gemeinschaften; sie gleichen einem Organismus, der aus gesunden Einzelgliedern besteht. Wer sich auf Kosten anderer bereichert, zerstört die organischen Bande und handelt naturwidrig. Die Gesetze verschiedenster Völker bestätigen dies, indem sie die Todesstrafe, Verbannungen und willkürliche Verhaftungen erheblich einschränken. Das Gewohnheitsrecht schätzt entsprechend Freundschaften höher als äußere Reichtümer, die innere Größe höher als die Lüste. Selbst die Naturgesetze weisen in diese Richtung: Sie halten die Menschen zu gegenseitiger Hilfe an. Diese universelle Pflicht schweißt sie zu einer natürlichen Einheit zusammen. Einem Menschen zu schaden, widerspricht also der Natur und ist schlichtweg verboten.

Moral geht vor Eigennutz

Einige Theoretiker trennen das Moralische vom Nützlichen und richten damit großen Schaden an. Sie öffnen Mord, Diebstahl und Profitgier Tür und Tor. Schon der Zweifel wirkt sich verheerend aus: als hätten wir die Wahl, entweder das moralisch Richtige zu tun oder eigennützig ein Verbrechen zu begehen. Wer diese Wahl propagiert, schadet dem Gemeinwesen und gehört ausgegrenzt. Andere glauben, wir zögen einen Vorteil daraus, wenn wir ein Unrecht verbergen. Mit diesem Glauben sitzen sie einem großen Irrtum auf. Nicht ohne Grund erzählt Platon die Geschichte vom Hirten Gyges. Dieser fand einen Ring, der ihn unsichtbar machte, und er nutzte den Zauber, um den König von Lydien zu ermorden und dessen Thron zu besteigen. Weise und anständige Männer hätten keinesfalls so gehandelt, denn sie verabscheuen alle Heimlichtuerei. Dank ihrer Klugheit haben sie nichts zu verbergen. Unrecht handelt auch ein Hausverkäufer, der die verborgenen Mängel seines Hauses kennt, sie aber dem Käufer verschweigt. Dank dieser Heimtücke erzielt er einen höheren Verkaufspreis, doch er verstößt gegen die Zusammengehörigkeit der Menschen, indem er den persönlichen Vorteil über alles stellt. Was für unlautere Geschäfte gilt, lässt sich auch auf die Politik übertragen. Caesar wurde König aller Römer und Völker, er zerstörte jedoch Gesetz und Freiheit, indem er Macht und Moral voneinander trennte.

„Das hat gerade die Skrupellosigkeit des Gaius Caesar gezeigt, der alle göttlichen und menschlichen Rechte außer Kraft gesetzt hat, um die Machtposition zu erlangen, die er sich selbst in einem Anfall von Wahnsinn vorgestellt hatte.“ (S. 29)

Der Maßstab „niemandem schaden“ soll indes nicht dogmatisch, sondern fallspezifisch angewendet werden. Einen Freund zu töten, wäre ein schweres Verbrechen. Der Tyrannenmord dagegen ist gerechtfertigt, weil er dem Gemeinwohl dient. Auch ein Eid bindet nicht in jedem Fall. Wer etwa Seeräubern versprochenes Lösegeld verweigert, bricht seinen Eid nicht, denn Seeräuber sind keine Feinde im Sinne des Kriegsrechts; ihnen ist man daher zu keinem Eid verpflichtet.

„(...) alle, die großzügiger sein wollen, als es ihre Mittel erlauben, handeln zunächst darin nicht richtig, dass sie ihre nächsten Angehörigen schädigen. Denn sie überlassen die Mittel, die diesen mit größerem Recht zustehen, fremden Menschen.“ (S. 43)

Auf alle Fälle gilt: Das wahrhaft Nützliche liegt weder im Lustgewinn noch im persönlichen Vorteil, sondern in der Anerkennung, die wir für vernünftiges und tugendhaftes Handeln erhalten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vom pflichtgemäßen Handeln ist in drei Bücher eingeteilt. Jedes behandelt die Pflicht unter einem anderen Aspekt: Das erste fragt nach dem moralischen und ehrenvollen Verhalten, das zweite nach dem Nützlichen und das dritte nach möglichen Konflikten zwischen beiden. Cicero behandelt das Thema nicht – wie etwa Platon – in Dialogen, sondern wählt die Briefform. Adressat ist sein Sohn Marcus, dem er praktische Anweisungen gibt. Entsprechend verknüpft Cicero philosophische Argumentation mit rhetorischer Belehrung und achtet immer auf die praktische Anwendbarkeit der postulierten Normen. Seine Gedanken entwickelt er weniger streng logisch oder systematisch als vielmehr pädagogisch. Um sie zu bekräftigen, zieht er aufschlussreiche Fallbeispiele aus der griechischen und römischen Kulturgeschichte heran.

Interpretationsansätze

  • Ciceros Leitbegriff „officium“ geht auf das griechische „kathēkon“ zurück, was wörtlich „das Herabkommende“ bedeutet, im übertragenen Sinn auch „die Pflicht“. „Officium“ teilt diesen Doppelsinn. Anfangs bezeichnete es das bloße Tun, in der Folge wurde es ins Sittliche umgewertet. Ciceros Verwendung des Begriffs verbindet drei Ebenen miteinander: die Handlung, ihre Wirkung und ihre Bewertung. Seine Analyse rollt das Handeln von hinten auf: von seinem moralischen Wert her.
  • Das Augenmerk des Autors gilt der konkreten Lebenspraxis. Sein Regelwerk passt er deren Unschärfe an und richtet es an wahrscheinlichen Konflikten aus. Die moralischen Normen selbst sollen stets fallspezifisch und situationsgerecht angewendet werden.
  • Ciceros Ethik fußt auf einer wertsetzenden Anthropologie. Die Natur des Menschen schreibt demnach die angemessenen Verhaltensregeln vor. Als soziales Wesen ist der Mensch zu sozialer Verantwortung verpflichtet. Sein Selbsterhaltungstrieb nötigt ihm den Dienst am Gemeinwohl auf, da er allein nicht überleben könnte. Und auch sein Streben nach Autonomie mündet in tugendhaftes Handeln: Es verschafft ihm öffentliche Anerkennung und damit den Freiraum zur Selbstbestimmung.
  • Die Republik begreift Cicero als sozialen Rechtsstaat. Dessen Fortbestand sichern nicht allein die Gesetze, sondern auch die gegenseitige Sorge der Bürger um Wohlwollen und Wohlergehen.
  • Cicero vertritt einen verengten Freiheitsbegriff. Freiheit steht nicht allen zu, sondern lediglich der römischen Machtelite. Nur deren Mitglieder haben die Potenz und den Stand, ihre Egoismen wechselseitig und für ihren eigenen Vorteil einzuschränken.
  • Ciceros Plädoyer für die Republik lebt vom Hass auf die Tyrannei. Er geht sogar so weit, den unpolitischen Menschen als wertlos zu diskreditieren, und stellt den politisch Aktiven über alles. Andersdenkenden droht er die Ausgrenzung an. In dieser „Herrenmoral“ liegt der neuralgische Punkt seiner Ethik: Im Namen der Menschlichkeit nimmt Cicero selbst eine gewisse politische Willkür in Kauf.

Historischer Hintergrund

Das Ende der römischen Republik

450 Jahre nach ihrer Gründung näherte sich die römische Republik mit dem Aufstieg von Julius Cäsar ihrem Ende. Die Krise kam vor allem darin zum Ausdruck, dass nun Feldherren statt Politiker den Ton angaben und damit die republikanischen Organe empfindlich schwächten. Im Jahr 60 v. Chr. schlossen sich Cäsar, Gnaeus Pompeius und Marcus Licinius Crassus zum ersten Triumvirat zusammen. Dabei handelte es sich um ein informelles Bündnis, das den drei Feldherren Einfluss sichern sollte – und zwar auf den römischen Senat. Der Versuch, auch Cicero auf ihre Seite zu ziehen, scheiterte, denn dieser sah die Republik in Gefahr. Nach Crassus’ Tod im Jahr 53 v. Chr. wurden aus den beiden übrigen Verbündeten Rivalen: 49 v. Chr. kam es zum offenen Kampf und Bürgerkrieg. Pompeius wusste die konservativen Kreise des Senats hinter sich, was ihm aber wenig half: Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges wurde er von der Armee Cäsars in Griechenland geschlagen und kam in Ägypten ums Leben. Cäsar kehrte nach mehreren Feldzügen nach Rom zurück und ließ sich zum Diktator auf Lebenszeit ernennen. Seine Gegner befürchteten, er würde sogar nach der Königswürde streben. Darum bildete sich im Senat eine Verschwörung unter der Führung von Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus. Wie Plutarch berichtet, soll Cäsar wenige Tage vor seiner Ermordung von einem Wahrsager gewarnt worden sein: „Hüte dich vor den Iden des März!“ Genau an diesem Datum, dem 15. Tag des römischen Monats Martius im Jahr 44 v. Chr., fielen die Verschwörer in einer Senatssitzung über Cäsar her und töteten ihn mit 23 Dolchstichen. Cicero war Zeuge der Tat und bezeichnete sie im Nachhinein als gerechten Tyrannenmord. Er hegte die Hoffnung, dass sich die Republik jetzt festigen würde, was sich aber spätestens mit der Machtübernahme durch Octavian als Irrtum erwies.

Entstehung

Als Cicero im Herbst oder Winter des Jahres 44 v. Chr. mit der Niederschrift seines moralphilosophischen Werks begann, studierte sein Sohn Marcus bei dem Philosophen Kratippos in Athen. Cicero hielt den Lebenswandel des Teenagers und die Philosophie von dessen Lehrer offenbar für stark verbesserungswürdig. Das Werk Vom pflichtgemäßen Handeln entstand aber auch unter dem Eindruck der Machtkämpfe, die auf Cäsars Ermordung folgten. Cicero hatte gegen Antonius polemisiert und musste daraufhin auf sein Landgut fliehen. Die Flucht veranlasste ihn, auch eine Abrechnung mit den Feinden der Republik zu schreiben.

Überdies wollte Cicero den Stoiker Panaitios von Rhodos in Rom bekannt machen. Dessen Werk Über die Pflichten war seine wichtigste Quelle. Cicero übersetzte Panaitios Schrift aber nicht einfach ins Lateinische, sondern reicherte sie mit römischen Wertvorstellungen an. Für das dritte Buch griff er zu den Werken von Poseidonios, einem Schüler des Panaitios. Bei ihm fand er, was Panaitios zwar angekündigt, aber offenbar nicht ausgeführt hatte: ein Buch über die Konfliktfälle von Moral und Nutzen. Die vier Kardinaltugenden indessen gehen auf Platon zurück. Den Terminus der Pflicht soll der Altstoiker Zenon in die philosophische Debatte eingeführt haben.

Wirkungsgeschichte

Die Abhandlung erschien wohl bereits im Jahr 44. v. Chr. und stieß auf großes Interesse. Dies nicht nur zum Guten für den Autor: Seine Polemik gegen Cäsar und die Tyrannei veranlasste Antonius, Ciceros Ermordung zu betreiben; im Folgejahr wurde er tatsächlich getötet. Allerdings ist unklar, ob die Schrift überhaupt mit Einwilligung des Autors erschien. Das dritte Buch lässt Mängel in der Darstellung erkennen, die darauf hinweisen könnten, dass das Werk unvollendet ist.

Auch nach Ciceros Tod wurde die Schrift rege rezipiert. Ovid ließ einige Gedanken daraus in sein literarisches Werk einfließen. Der Naturgeschichtler Plinius der Ältere legte sogar nahe, das Buch auswendig zu lernen und es als Ratgeber für alle Fälle präsent zu haben. Ambrosius, spätantiker Bischof von Mailand, passte es dem christlichen Weltbild an und begründete damit die starke Wirkung des Werks auf die mittelalterliche Moralphilosophie. Thomas von Aquin zog Cicero als Autorität heran, um seine Vorstellungen von Tapferkeit abzusichern. Augustinus griff die vier Kardinaltugenden auf und setzte sie in Verbindung zur Gnade Gottes: Von ihr rühre alle Vollkommenheit her. Die Renaissance schätzte die Schrift als Leitfaden humanistischer Gesinnung. Voltaire und Friedrich der Große erklärten sie sogar zum besten Werk ethischer Philosophie, und der König befahl die Übersetzung ins Deutsche.

In der Moderne brachte der Historiker Theodor Mommsen Cicero in Verruf, indem er ihn einen „Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht“ nannte. Das brutale Verdikt konnte die Rezeption von Ciceros Werken allerdings nicht bremsen. Von allen seinen Büchern wurde Vom pflichtgemäßen Handeln am häufigsten übersetzt und kommentiert und als erstes gedruckt.

Über den Autor

Marcus Tullius Cicero wird am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum geboren. Sein Vater gehört zur zweithöchsten römischen Gesellschaftsschicht. Verbindungen zu Angehörigen der Senatsaristokratie ermöglichen Cicero eine gute Ausbildung. Er studiert Recht, Rhetorik, Literatur und Philosophie in Rom, Griechenland und Kleinasien. Im Jahr 77 v. Chr. kehrt er nach Rom zurück und beginnt seine Laufbahn als Rechtsanwalt und Politiker. Es folgt eine Blitzkarriere. Bereits im Jahr 63 v. Chr. bekleidet Cicero das Amt des Konsuls. Sein Wahlkampfgegner Catilina lanciert eine Verschwörung, die allerdings im Ansatz erstickt wird. Doch Ciceros zahlreiche Gegner erwirken 58 v. Chr. seine Verbannung aus Rom: Er sei schuld an der Beseitigung der Catilinarier, die ohne Verhandlung getötet wurden. 57 v. Chr. darf er zurückkehren. In den folgenden fünf Jahren entstehen seine wichtigsten politischen und philosophischen Schriften, darunter De oratore (Über den Redner, 55 v. Chr.) und De re publica (Vom Staat, 51 v. Chr.). Cicero setzt zunächst Hoffnungen auf den intelligenten Cäsar, wendet sich aber von ihm ab, nachdem dieser mit Pompeius und Crassus ein Triumvirat eingeht. Im Bürgerkrieg schließt Cicero sich Pompeius an. An der Verschwörung gegen Cäsar ist er nicht beteiligt, doch äußert er seine Freude über dessen Tod 44 v. Chr. Als Cäsars Mitkonsul Marcus Antonius die Nachfolge des Alleinherrschers anstrebt, tritt Cicero ihm mit seinen 14 Philippischen Reden entgegen und gewinnt im Senat wieder hohes Ansehen. Er bemüht sich erfolgreich, Octavian zum Krieg gegen Antonius zu bewegen. Octavian siegt zunächst, schließt sich danach aber mit dem wieder erstarkten Antonius und Marcus Lepidus zum zweiten Triumvirat zusammen. Die Triumvirn verfolgen ihre politischen Gegner, und Cicero steht ganz oben auf Antonius’ schwarzer Liste. Am 7. Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht ermordet, sein zerstückelter Leichnam wird auf der Redebühne des Forums zur Schau gestellt.

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