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Wider den Methodenzwang

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Wider den Methodenzwang

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

„Anything goes“ – so lautet der berühmte Slogan von Paul Feyerabends anarchistischer Wissenschaftstheorie, mit der er die Fachwelt schockierte.


Literatur­klassiker

  • Wirtschaftstheorie
  • Moderne

Worum es geht

Ein philosophischer Skandal

Paul Feyerabends Wider den Methodenzwang löste bei seinem Erscheinen 1970 in philosophischen Kreisen wahre Schockwellen aus. Da forderte doch ein renommierter Wissenschaftstheoretiker und ehemaliger Schüler des großen Karl Popper ernsthaft, alle Regeln und methodischen Vorgaben in der Wissenschaft aufzugeben und stattdessen dem Slogan „Anything goes“ zu folgen. Jede noch so absurde Idee soll man weiterverfolgen, auch wenn empirische Studien dagegen sprechen. Das Wort eines Laien soll ebenso viel gelten wie das Urteil eines Spezialisten. Forscher sollen so lange Unsinn reden, bis es Sinn ergibt. Klarheit, Präzision, Objektivität – die Lieblingskinder des kritischen Rationalismus – sind bloß ein fauler Zauber. Provokante Thesen, die in der Fachwelt als Skandal empfunden wurden. Trotzdem avancierte das Buch rasch zu einem Klassiker. Zu Recht, denn bei aller Polemik gegen die etablierten Wissenschaften, gegen eitle Forscher, arrogante Nobelpreisträger und autoritätshörige Studenten rührt Feyerabend an die Wurzeln unseres Selbstverständnisses, nämlich an die Bedingungen menschlicher Erkenntnis.

Take-aways

  • Wider den Methodenzwang ist ein provozierendes Plädoyer für den Anarchismus in den Wissenschaften.
  • Inhalt: In der Geschichte der menschlichen Erkenntnis führen nicht methodische Vorgaben im Sinne von Klarheit, Objektivität oder Wahrheit zum Fortschritt. Dieser ist im Gegenteil irrational und chaotisch. Er beruht auf einem einzigen Grundsatz: „Anything goes“ – erlaubt ist, was gefällt. Ein Forscher sollte an einer Theorie festhalten, auch wenn sie absurd erscheint und empirische Daten fehlen oder widersprüchlich sind.
  • Bis in die 60er Jahre war Feyerabend, der bei Karl Popper studierte, Anhänger von dessen kritischem Rationalismus.
  • Entscheidend für seine Kehrtwende war die Begegnung mit Thomas S. Kuhn, dessen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ihn stark beeinflusste.
  • Wie Kuhn sieht Feyerabend im wissenschaftlichen Fortschritt ein Ergebnis von Regelverletzung und Traditionsbruch.
  • Feyerabend radikalisiert Kuhns These und plädiert für eine Wissenschaft ohne methodische Beschränkungen.
  • Das Buch ist eine Mischung aus provozierendem Pamphlet, philosophischer Abhandlung und detaillierter Darstellung physikalischer und astronomischer Spezialprobleme.
  • Wie Nietzsche oder Peirce vertritt Feyerabend einen strikten Antirationalismus: Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt. Objektive Wahrheit gibt es nicht.
  • Wider den Methodenzwang erregte die Gemüter und trug seinem Autor den Ruf eines Enfant terrible und Nestbeschmutzers ein.
  • Zitat: „Kein Gedanke ist so alt oder absurd, dass er nicht unser Wissen verbessern könnte.“

Zusammenfassung

Anarchismus ist eine Erkenntnismethode

Die Geschichte der Wissenschaft ist komplex, chaotisch und voller Irrtümer. Sie enthält keineswegs nur Fakten und Schlüsse, sondern auch Ideen, Deutungen von Tatsachen und Fehler. Die moderne akademische Ausbildung vereinfacht die wissenschaftliche Arbeit, indem sie Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen zieht, Tatsachen von Meinungen und Glauben unterscheidet und durch starre Regeln Traditionen schafft. Solche erkenntnistheoretischen Vorschriften sind unproduktiv und menschenfeindlich, weil sie die Freiheit des Geistes einschränken. Ziele wie Klarheit, Objektivität und Wahrheit sind Ausdruck einer Sucht nach geistiger Sicherheit. Aber das einzige Prinzip, das dem Fortschritt der Wissenschaft nicht im Weg steht, lautet: „Anything goes“ – erlaubt ist, was gefällt.

„Der vorliegende Essay wurde in der Überzeugung geschrieben, dass der Anarchismus vielleicht nicht gerade die anziehendste politische Philosophie ist, aber gewiss eine ausgezeichnete Arznei für die Wissenschaften und die Philosophie.“ (S. 13)

Erkenntnisfortschritt in der Wissenschaft beruht immer auf der Verletzung von Regeln. Die Atomtheorie, die kopernikanische Revolution und die Wellentheorie des Lichts entstanden nur, weil Denker methodische Regeln bewusst oder unbewusst verletzt hatten. So wie Kinder durch das Spiel verstehen lernen, so entwickelt sich auch wissenschaftliche Erkenntnis durch spielerische Tätigkeit, nicht durch Propaganda oder Gehirnwäsche. Die Entwicklung des kopernikanischen Weltbildes zeigt das deutlich: Galilei, von der Bewegungslehre ausgehend, entwarf eine scheinbar abwegige, der Vernunft und Erfahrung widersprechende Kosmologie und verfolgte sie unbeirrbar. Die Forschung wurde so in eine neue Richtung gelenkt, man baute neue Instrumente, bis schließlich aus einzelnen Argumenten eine Ideologie zustande kam. Ein scheinbar unsinniges, unmethodisches Vorspiel erwies sich als die unerlässliche Bedingung für empirischen Erfolg. Für den Forscher bedeutet das, kontrainduktiv vorzugehen, also Hypothesen einzuführen und auszubauen, die etablierten Theorien widersprechen.

Von der Theorie zum Mythos

Üblicherweise gehen Forscher so vor, dass sie alle Erscheinungen, die ihre Theorie stützen, mit Entschiedenheit verfolgen, widersprechende empirische Befunde hingegen vernachlässigen oder umständlich zu erklären versuchen. Dann wird die Theorie öffentlich bekannt gemacht, gelehrt und in populärwissenschaftlichen Büchern verbreitet. Alternativen bekommen kaum noch eine Chance. Die Theorie verwandelt sich in eine Ideologie. Sie ist erfolgreich – nicht etwa, weil sie die Wahrheit widerspiegelt, sondern weil sie entscheidende Tatsachen ausblendet. In ihrem späten Stadium lassen sich empirische Theorien daher kaum von Mythen unterscheiden.

„Der einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes.“ (S. 21)

Der Hexenwahn vom 15. bis ins 17. Jahrhundert bietet ein gutes Beispiel für eine solche Verselbstständigung einer Theorie. Aus verbreiteten Vorurteilen entwickelten Theologen ein kompliziertes Erklärungssystem mit zahlreichen Hilfshypothesen für Spezialfälle und jede denkbare Schwierigkeit. Auf dem Höhepunkt des Hexenwahns war der Mythos derart gefestigt, dass jede Verbindung zur Welt fehlte. Der Anschein absoluter Wahrheit, der sich im Denken, in der Sprache und in der Wahrnehmung äußerte, war nichts anderes als das Ergebnis eines absoluten Konformismus.

Theorienpluralismus als Katalysator

Jede Methode, die Einheitlichkeit fördert – ob sie nun von Priestern oder Nobelpreisträgern propagiert wird – ist eine Methode der Täuschung, weil sie blinden Konformismus erzwingt und intellektuelle Fähigkeiten verkommen lässt. Um zu wahrer Erkenntnis zu gelangen, bedarf es vieler verschiedener Ideen. Wissenschaftler sollten sich eine pluralistische Methode zu eigen machen und ihre Theorien mit anderen Lehren vergleichen statt nur mit Daten. Widersprechende Auffassungen sollte man nicht unter den Teppich kehren, sondern ihnen besonders nachgehen.

„Ein theoretischer Anarchist ist wie ein Geheimagent, der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben.“ (S. 38)

Wenn neue Theorien aufkommen, landen scheinbar veraltete üblicherweise auf dem Müllhaufen der Geistesgeschichte. Ein Beispiel ist die traditionelle chinesische Medizin, die von der westlichen Wissenschaft verdrängt wurde. Die allmähliche Wiederbelebung von Kräutermedizin und Akupunktur unter dem kommunistischen Regime in China ermöglichte eine neue Ideenvielfalt und führte zu medizinischen Erkenntnissen, auch im Westen. Ob Aristoteles’ scheinbar naive Philosophie, ob die antike Atomtheorie oder die chinesische Medizin: Jede Anschauung, mag sie auch noch so veraltet erscheinen, kann zum Ausgangspunkt neuer Entdeckungen werden. Ideologische Vielfalt muss daher nicht nur wesentlicher Bestandteil der Demokratie, sondern auch der Wissenschaft sein.

„Der Mythos hat daher keine objektive Bedeutung; er lebt allein durch die Bemühungen der Gemeinde der Gläubigen und ihrer Führer fort, seien diese Führer nun Priester oder Nobelpreisträger.“ (S. 53)

Keine Theorie, egal wie schön oder scharfsinnig sie ist, stimmt mit allen Tatsachen auf ihrem Gebiet überein. Theorien blenden entweder gewisse quantitative Ergebnisse aus, oder sie sind – was schlimmer ist – qualitativ unzureichend. In der modernen Wissenschaft, beispielsweise in der Quantenphysik, wird argumentiert, man habe es mit Näherungswerten zu tun. In Wirklichkeit aber überdecken die mathematischen Verfahren bloß Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Theorie und Tatsachen. Die beiden Bereiche lassen sich ohnehin nicht sauber trennen, denn das Material, das erforscht wird, ist immer von subjektiven Auffassungen und herkömmlichen Begriffen beeinflusst. Um aus diesem Teufelskreis herauszutreten, muss man ein neues Begriffssystem, eine neue Theorie erfinden, die im Gegensatz zu begründeten theoretischen Grundsätzen steht. Oder man bedient sich anderer Wissenschaften, der Religion, der Mythologie oder auch der Ideen von Verrückten.

Galilei: ein erfolgreicher Querdenker

Das Problem älterer Theorien besteht darin, dass ihre Begriffe in unsere Alltagssprache übergegangen sind und unsere Wahrnehmung, ja unser gesamtes Denken, beeinflussen. Um eine alte Theorie zu stürzen, reicht es nicht, innerhalb derselben zu argumentieren. Vielmehr bedarf es eines neuen Denksystems, das sich in einer neuen Beobachtungssprache ausdrückt. Galilei etwa widerlegte die alte aristotelische Bewegungslehre keinesfalls mithilfe neuer empirischer Tatsachen. Er behauptete zunächst einfach, dass die Erde sich bewege – eine zu seiner Zeit absurde Hypothese –, und fand erst dann eine neue Deutung für die Erscheinung des freien Falls, die Kritiker immer wieder gegen die These von der Erdumdrehung vorbrachten. Trotz aller Schwierigkeiten hielt Galilei an seinem Glauben fest, betrieb Propaganda und bediente sich raffinierter Tricks, er schrieb lustvoll und engagiert. Galileo bezog den Alltagsverstand und die Sinneserfahrung mit ein, um alte Denkgewohnheiten allmählich durch neue zu ersetzen. Unabhängige Daten und harte Fakten zum Beweis der Erdbewegung allerdings fehlten weiterhin, sie wurden erst im Lauf der Jahrhunderte nachgeliefert. Das Beispiel zeigt – ebenso wie die Forschungen Newtons und Einsteins –, dass es sich lohnen kann, Irrtümer zu nutzen, an eine scheinbar hoffnungslose Sache zu glauben und sie auch mit irrationalen Mittel zu verteidigen.

Der erkenntnistheoretische Anarchist

Der allgemeine Drang nach Vernunft, Führung und Autorität beherrscht selbst jüngere Forscher und Studenten. Dabei wird übersehen, dass Wissenschaft ein geistiges Abenteuer ist, das keine Grenzen und Regeln gelten lässt, nicht einmal die Regeln der Logik. Es ist berechtigt, ja sogar vernünftig, an einer mangelhaften Theorie festzuhalten. Diese Methode widerspricht der gängigen autoritären Wissenschaftsphilosophie: dem Induktivismus und dem Falsifikationismus. Ersterer will Theorien beseitigen, denen eine empirische Stütze fehlt, Letzterer verwirft Theorien, die keinen empirischen Gehalt haben, der über den ihrer Vorgänger hinausgeht.

„Kein Gedanke ist so alt oder absurd, dass er nicht unser Wissen verbessern könnte.“ (S. 55)

Im Unterschied zum politischen Anarchisten hegt der erkenntnistheoretische Anarchist keine Abneigung gegen irgendwelche staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien. Ähnlich wie der Dadaist hat er nicht nur kein Programm, sondern er ist sogar gegen jedes Programm. Seine Ziele ändern sich aufgrund von Argumenten oder aus Langeweile oder aus Spaß; er liebt es, Rationalisten in Verwirrung zu stürzen, indem er unvernünftige Theorien verteidigt. Keine Auffassung ist ihm zu absurd oder zu unmoralisch, keine Methode zu abwegig. Er wehrt sich nur gegen Grundsätze, allgemeine Gesetze und Ideen wie „die Wahrheit“, „die Vernunft“ oder „die Gerechtigkeit“. Der erkenntnistheoretische Anarchist weiß, dass Fortschritt in der Wissenschaft nur stattfand, weil Wissenschaftler unbewusst gegen die Gesetze der Vernunft oder die angeblich unveränderlichen Naturgesetze verstießen.

Es gibt keinen kontinuierlichen Fortschritt

Wissenschaftler übernehmen oft allgemeine Weisheiten ungeprüft und beugen sich der Autorität ihrer spezialisierten Kollegen. Bei näherer Prüfung erweisen sich die allgemeinen Urteile jedoch als unhaltbar. So ist zwar jeder der Meinung, dass die Hypothese des Kopernikus ein großer Schritt nach vorne war, aber kaum jemand kennt sie genau oder kann ihre Überlegenheit begründen. Ähnliches gilt für die Quanten- und die Relativitätstheorie. Solche grundlegenden Werturteile über Theorien sind Teil einer Ideologie und aus methodischer Sicht nicht rational. Es gibt kein überzeugendes Argument dafür, dass die moderne Wissenschaft – wie die Rationalisten behaupten – der Magie von Hexen und Zauberern oder der aristotelischen Lehre überlegen ist. Moderne Wissenschaft gründet ebenso auf Ideologie wie diejenige vergangener Zeiten, und genau wie diese führt sie einerseits zu Ergebnissen, die ihren Maßstäben entsprechen, und andererseits zu solchen, die sich ihren Maßstäben entziehen. Schwierigkeiten und Widersprüche werden heute wie früher durch Propaganda verdeckt. Die Fachideologie der Physik und Astronomie des 15. und 16. Jahrhunderts wurde lediglich von der Fachideologie der „modernen“ Wissenschaft abgelöst.

„Eine Demokratie ist schließlich nicht nur für die Qualität ihrer Panzer, Bomben und Fernsehapparate verantwortlich, sondern auch für die Qualität ihrer Ideen.“ (S. 67)

Für Vertreter des kritischen Rationalismus beginnt die wissenschaftliche Forschung mit einem Problem und schreitet kontinuierlich zu seiner Lösung fort. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Probleme falsch formuliert sein können – oder dass es sie nach späterer Auffassung gar nicht gibt. Zudem wird davon ausgegangen, dass zwei Theorien miteinander vergleichbar sind, die sich tatsächlich ausschließen. So lässt sich zwischen der älteren Theorie der Epilepsie mit ihrer Aussage: „Immer wenn jemand von einem Dämon besessen ist, findet in seinem Gehirn eine Entladung statt“, und neueren wissenschaftlichen Begriffen keine Verbindung herstellen. Zwischen den beiden Theorien gibt es keine Kontinuität, sie sind unvereinbar, inkommensurabel. Dasselbe gilt etwa für einen Vergleich zwischen der klassischen Mechanik und der Relativitätstheorie.

Für eine Erneuerung des Bildungswesens

Selbst in großen wirtschaftlichen Unternehmen hat man inzwischen erkannt, dass ein Haufen von Jasagern einer Gruppe von Nonkonformisten unterlegen ist. Doch die Wissenschaften verlangen immer noch, dass sich alle gesellschaftlichen Tätigkeiten bis hin zum Bildungswesen nach ihren Forschungsideen ausrichten, und verweigern sich gleichzeitig jeder politischen Einmischung. Die Zeit ist reif, der Trennung von Staat und Kirche eine Trennung von Staat und Wissenschaft folgen zu lassen, denn die übergroße Definitionsmacht der Wissenschaft ist gefährlich. Die Spuren „geistiger Umweltverschmutzung“ sind unübersehbar: Stümperhafte Bücher, leeres Gerede, so genannte Fachleute ohne Geist und Charakter, die auf Kinder losgelassen werden und ihnen mithilfe von Zensuren jede Fantasie austreiben, führen zu einer katastrophalen Situation. Die dringendste Maßnahme wäre es, berufsmäßige Erzieher, Zensuren und Prüfungen aus dem Bildungssystem zu entfernen. Das Lernen und die Vorbereitung auf einen Spezialberuf müssen getrennt werden. Kinder sollten sich nicht die Grundsätze einer bestimmten Gruppe aneignen, die zufällig gerade in Mode ist, sondern ermutigt werden, verschiedene Theorien zu betrachten und zu diskutieren. Wissenschaftsgebiete wie Geschichte, Physik und Astronomie sollten an den Schulen nicht als Pflichtfächer, sondern – wie Religion – nur auf Wunsch der Eltern gelehrt werden.

Die Tugenden des Wissenschaftlers

Der Forscher muss sein Bedürfnis nach Klarheit und Logik zügeln. Er muss Unsinn reden, bis der Unsinn Sinn ergibt. Vermeintliche Tugenden wie Exaktheit, Widerspruchsfreiheit und Ehrlichkeit sollte er aufgeben zugunsten von Dickköpfigkeit, Vorurteil und Lüge. Er muss sich von dem althergebrachten Begriffssystem lösen, das bestimmte Denkmuster und Klassifizierungen schon vorgibt (wie in der Physik „Masse“, „Volumen“, „Form“ usw.). Es gibt keine von der wissenschaftlichen Tätigkeit unabhängige, objektive Welt, die es zu erkennen gilt, sondern wir schaffen den Kosmos durch unsere Erkenntnis ständig neu. Also gibt es auch keine Theorie der Wissenschaften, sondern nur den Prozess der Forschung und einige Faustregeln, die ständig überprüft werden müssen. Eine Trennung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft ist künstlich. Alle Ideen, alle Methoden können zur Erkenntnis führen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Wider den Methodenzwang gliedert sich in 19 Kapitel, von denen einige um einen Anhang ergänzt werden. Jedem Kapitel ist eine kurze Zusammenfassung der darin behandelten Themen vorangestellt. Einzelne längere Abschnitte widmen sich historischen Fallstudien, etwa zur kopernikanischen Revolution in der Astronomie. In zahlreichen langen Fußnoten führt der Autor Beispiele für seine Thesen an und belegt sie mit Zitaten – von klassischen Werken der Philosophie bis hin zu aktueller Fachliteratur. Die Mischung aus provozierendem Pamphlet, philosophischer Abhandlung und detaillierter Darstellung physikalischer und astronomischer Spezialprobleme macht den eigenwilligen Charakter dieses Werkes aus. Eben noch zieht Feyerabend spöttisch über die Geltungssucht und Eitelkeit seiner Wissenschaftlerkollegen her, um schon im nächsten Absatz zu Fragen der Quantenphysik sachlich Stellung zu nehmen. Gerade die ausführliche fachliche Auseinandersetzung macht die Lektüre für den Laien bisweilen schwierig. Sobald Feyerabend jedoch das Gebiet der Naturwissenschaften verlässt, pflegt er einen gänzlich unakademischen, ironischen, gelegentlich auch selbstironischen Stil.

Interpretationsansätze

  • Feyerabends leidenschaftliche Kritik an den modernen Wissenschaften und ihren strengen methodischen Regeln und Vernunftkriterien richtet sich vor allem gegen den kritischen Rationalismus der so genannten Wiener Schule. Grundlegend für diesen war die Annahme, dass alle Aussagen der Wissenschaft auf empirische Beobachtung und auf Fakten zurückgeführt werden müssten.
  • Feyerabend lehnt die Überzeugung des kritischen Rationalismus ab, wonach die Welt unabhängig von menschlicher Erkenntnis existiere. Wie etwa Friedrich Nietzsche oder der amerikanische Philosoph Charles S. Peirce vertritt er einen strikten Antirationalismus: Unsere Wirklichkeit ist ein Konstrukt und eine Frage der Perspektive. Eine objektive, unveränderliche Wahrheit, die es zu erforschen gilt, gibt es nicht.
  • In Anlehnung an Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie behauptet Feyerabend, dass unsere Theorien über die Welt unsere Sprache und Wahrnehmung beeinflussen – und umgekehrt. Solange wir in einer Beobachtungssprache gefangen sind, können wir auch keine alternativen Erklärungen für bestimmte Erscheinungen finden.
  • Die provozierende Formel „Anything goes“ führte zu vielen Missverständnissen. Dabei war sie ironisch gemeint: Feyerabend wollte keineswegs eine totale Methodenbeliebigkeit propagieren. Vielmehr ging es ihm darum, dem Alleinherrschaftsanspruch des kritischen Rationalismus in den Wissenschaften einen größeren Methodenpluralismus entgegenzusetzen.
  • Feyerabend zeigt sich als klassischer Universalgelehrter, der seine Theorie mit Bespielen aus der Physik und Astronomie ebenso wie aus der Kunstgeschichte, Anthropologie oder Wahrnehmungspsychologie unterfüttert. Bei aller Gelehrigkeit und intellektuellen Schärfe ist stets ein humanistischer und sozialer Impuls spürbar.

Historischer Hintergrund

Die Revolutionen der 60er Jahre

Ab Mitte der 60er Jahre gewann die Protestbewegung an westeuropäischen und amerikanischen Universitäten an Zulauf. Eines der Zentren der Studentenproteste war die Universität Berkeley in Kalifornien, wo durch die Bildungsreformen zunehmend auch Angehörige von Minderheitengruppen wie Afroamerikaner oder Hispanos studierten. Als Reaktion auf das Redeverbot für den radikalen Bürgerrechtler Malcolm X auf dem Campus gründeten Studenten 1964 das Free Speech Movement. Mit radikalen Aktionen wehrten sie sich gegen das von der Universitätsleitung verhängte Diskussionsverbot und demonstrierten für das Recht auf freie Meinungsäußerung und gegen den Krieg in Vietnam.

Auch in der Philosophie waren die 60er Jahre eine Zeit des Aufbruchs und der Erneuerung. Thomas S. Kuhn, Professor in Berkeley, leitete mit seinem 1962 erschienenen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, das ihn schlagartig berühmt machte, eine Wende in der Wissenschaftstheorie ein. Er bemühte sich nachzuweisen, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht – wie von den kritischen Rationalisten behauptet – mit logischen Maßstäben zu erklären sei. Erkenntnisfortschritt in den einzelnen Disziplinen beruhe vielmehr auf fundamentalen Traditionsbrüchen und einem Wechsel der gemeinsamen Einstellungen der Forschenden, auf einem so genannten Paradigmenwechsel. Wissenschaftliche Revolutionen wie etwa der Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild gehorchen also nach Kuhn keinem rationalistischen Modell.

Entstehung

Nach seiner Übersiedlung in die USA 1958 begann sich Paul Feyerabend vom Positivismus des Wiener Kreises zu distanzieren. In zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen und Artikeln trat er gegen die Methode des kritischen Rationalismus ein. Von großem Einfluss war die Begegnung mit Thomas S. Kuhn, mit dem er in Berkeley Diskussionsrunden veranstaltete. Überhaupt wurde Feyerabend nach eigenen Angaben von der kulturellen Vielfalt an der kalifornischen Universität geprägt. Sie führte ihm vor Augen, dass es verschiedene, durchaus gleichwertige Traditionen der Welterkenntnis mit den unterschiedlichsten Methoden gab. Vor diesem multikulturellen Hintergrund erschien es ihm anmaßend, seinen Studenten die Tradition des westlichen Rationalismus aufzwingen zu wollen. Unter dem Eindruck der Studentenproteste in Berkeley und an der Freien Universität Berlin, wo Feyerabend in den 60er Jahren als Gastdozent unterrichtete, kam es schließlich zu einer radikalen Abkehr von seinem ehemaligen Lehrer Karl Popper (den er gerne „Ayatollah Popper“ nannte) und dessen strengen erkenntnistheoretischen Vorgaben.

Als Paul Feyerabend sein Buch Wider den Methodenzwang schrieb, war er bereits ein bekannter Philosoph, berüchtigt für seinen unkonventionellen Lehrstil und seine Parteinahme für die Studentenbewegung. In London, wo er zeitweise an der London School of Economics lehrte, schloss er Bekanntschaft mit dem ungarischen Physiker und Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos, der Poppers Theorie gegen Feyerabends vehemente Angriffe verteidigte und eine vermittelnde Position einnahm. Von Lakatos stammte die Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben, in dem die befreundeten Wissenschaftler ihre kontroversen Überzeugungen darlegen sollten. Die beiden gingen daran, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, aber durch den plötzlichen Tod von Lakatos im Jahr 1974 blieb das Manuskript unvollständig; er konnte seine Antworten auf Feyerabends Ausführungen nicht beenden. Was ursprünglich als humorvoller Schlagabtausch unter Freunden geplant war, in der beide Positionen zugespitzt formuliert und durch ihr Nebeneinander abgemildert werden sollten, erschien so als unwidersprochenes Pamphlet Feyerabends allein.

Wirkungsgeschichte

Bei seinem Erscheinen 1970 schlug Wider den Methodenzwang ein wie eine Bombe. In Rezensionen wurde der Autor als Nestbeschmutzer beschimpft, der Kollegen diffamiere und mit seinem Buch für ein wissenschaftsfeindliches Klima sorge. Feyerabend hatte nicht damit gerechnet, dass sein Text eine solche Schockwirkung haben würde. Er hielt den Kritikern entgegen, sie würden das essayistische, collageartige Werk mit einem systematischen Traktat verwechseln. Er hatte zwar provozieren wollen, aber der Wirbel um das Buch wurde ihm doch zu viel. In seinem Werk Erkenntnis für freie Menschen (1978) nahm er später zu den Vorwürfen Stellung und verteidigte seine Thesen in einem scharfen, teilweise aggressiven Ton.

Wider den Methodenzwang avancierte schon bald zu einem Klassiker der Wissenschaftstheorie, begründete aber keine neue philosophische Richtung. Nur wenige Wissenschaftler mochten sich mit Feyerabends anarchistischer Erkenntnistheorie und der Forderung nach radikalem Methodenpluralismus anfreunden. Unübersehbar ist Feyerabends Einfluss auf die Philosophie der Postmoderne, die das „Anything goes“ zu ihrem Schlachtruf machte.

Über den Autor

Paul Feyerabend wird am 13. Januar 1924 in Wien geboren. Im Zweiten Weltkrieg dient er als Offizier in der Reichsarmee und wird in Russland schwer verletzt. Nach seiner Genesung kehrt er nach Wien zurück, wo er trotz seines Faibles für Physik ein Studium der Geschichte und Soziologie aufnimmt. Ende der 40er Jahre lernt er in verschiedenen Gesprächskreisen Bertolt Brecht, Ludwig Wittgenstein und Karl Popper kennen. Er studiert bei Popper an der London School of Economics Philosophie und erhält 1955 eine Stelle an der Universität in Bristol. Nach dem Scheitern seiner zweiten Ehe geht er 1958 nach Berkeley in Kalifornien, wo er ab 1960 als Universitätsassistent arbeitet. Die Begegnung mit jüngeren amerikanischen Philosophen wie Hilary Putnam, John Searle und Thomas S. Kuhn, aber auch mit der Studentenbewegung prägen sein Denken. Er hält Vorlesungen in Kirchen, legt sich wiederholt mit der Universitätsleitung an und genießt in akademischen Kreisen den Ruf eines Enfant terrible. Mit Against Method (Wider den Methodenzwang, 1970) wird er schlagartig berühmt. Doch die kritischen, teilweise aggressiven Reaktionen auf sein Buch wie auch Gesundheits- und Eheprobleme stürzen ihn in eine tiefe Depression. In Zürich, wo Feyerabend ab 1979 an der Technischen Hochschule lehrt, erholt er sich. In seinen letzten Lebensjahren wendet er sich zunehmend vom akademischen Betrieb ab, „um zu lieben und das Leben zu genießen“, wie er selbst sagt. Er heiratet zum vierten Mal und schreibt bis zu seinem Tod an seiner Autobiografie Killing Time (Zeitverschwendung, 1995). Am 11. Februar 1994 stirbt Paul Feyerabend in einer Schweizer Klinik an einem Hirntumor.

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