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Wissenschaft als Beruf

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Wissenschaft als Beruf

Matthes & Seitz Berlin,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wissenschaft und Fortschritt als Grundbedingung des modernen Menschen – das kritisiert und verteidigt Max Weber in seinem epochalen Text.


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Wie viel Sinn steckt im Fortschritt?

Mitten im Ersten Weltkrieg hält Max Weber eine Rede vor Studenten mit dem Titel Wissenschaft als Beruf. Mit keinem Wort erwähnt er den Krieg, aber die katastrophalen Zeitumstände grundieren seine Analyse der Wissenschaft, die zugleich eine Diagnose der Moderne ist. Das wissenschaftliche Prinzip des Fortschritts wird kritisch hinterfragt, denn es hat kein höheres Ziel mehr, es läuft ins Leere und kann bedrohlich werden. Zugleich hat die Wissenschaftsorientierung für eine „Entzauberung der Welt“ gesorgt. Weber, der Wissenschaftler, der vielleicht eher Philosoph war, hinterfragt die Wissenschaft auf allen Ebenen, angefangen bei den ökonomischen Bedingungen für einen jungen Wissenschaftler. Verblüffend ist, dass nichts davon veraltet ist, weder die ungewisse Zukunft eines Privatdozenten noch die immer weiter gehende Spezialisierung der Fachgebiete noch die Fragen, die noch immer zu selten gestellt werden: was Wissenschaft darf, was sie soll und was sie kann.

Take-aways

  • Wissenschaft als Beruf ist eine desillusionierte Diagnose der geistigen Bedingungen in der Moderne.
  • Inhalt: Die Arbeit des modernen Wissenschaftlers ist einerseits geprägt durch prekäre Arbeitsverhältnisse, andererseits durch Spezialisierung. Zudem weist die Wissenschaft gerade heute negative Tendenzen auf, insbesondere wenn sie sich um Fortschritt auch ohne Ziel bemüht. Was die Wissenschaft in der Moderne trotzdem noch kann und sollte, ist nicht, den Sinn des Lebens zu ergründen, als vielmehr das Denken zu schulen und dabei zu helfen, reflektierte Positionen zu beziehen. 
  • Max Weber war selbst Hochschulprofessor, äußerte sich aber dennoch wissenschaftskritisch.
  • Er hinterfragt das blinde Fortschrittsdenken ohne höheres Ziel und ohne die Berücksichtigung ethischer Fragen.
  • Die vordergründig nüchterne und wissenschaftliche Sprache lässt bei genauerer Betrachtung viel Pathos und Zuspitzung erkennen. 
  • Intellektualisierung und Rationalisierung bedeuten für Weber eine „Entzauberung der Welt“.
  • Im Gegensatz zu früheren Zeiten könne die Wissenschaft den Menschen keine Handlungsanweisungen mehr geben.
  • Die Pluralität der Wertesysteme und Lebensmodelle stellt für Weber eine Wiederkehr des vorchristlichen Polytheismus dar.
  • Wissenschaft als Beruf war ursprünglich eine Rede, die Max Weber 1917 vor Studenten in einer Schwabinger Buchhandlung hielt.
  • Zitat: „Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen und zu dem heute üblicherweise in so außerordentlich negativer Art Stellung genommen wird.“

Zusammenfassung

Die prekären Verhältnisse junger Wissenschaftler

In der Tradition der Nationalökonomen soll zunächst nach der materiellen Seite des Wissenschaftsberufs gefragt werden.

Wie gestaltet sich Wissenschaft als Beruf im materiellen Sinne des Wortes?“ (S. 37)“

Was kommt auf einen examinierten Studenten zu, der Berufswissenschaftler werden will? Aufschlussreich ist hier ein Vergleich mit den USA, denn dort sind die Verhältnisse ganz anders als in Deutschland. In Deutschland beginnt ein junger Mann als „Privatdozent“. Er habilitiert sich und arbeitet dann ohne feste Anstellung. Bezahlt nur von den Studiengebühren der Studenten, hält er Vorlesungen, deren Inhalt er sich selbst aussuchen kann. In Amerika dagegen beginnt man als „assistant“, der von vornherein entlohnt wird und an einen festen Lehrplan gebunden ist. Praktisch bedeutet das, dass nur vermögende junge Männer es sich wirklich leisten können, Privatdozent zu sein. Denn es ist mehrere Jahre lang völlig ungewiss, ob man irgendwann in eine Professur aufrücken wird, die dann den Lebensunterhalt sichert. Zudem hält in Deutschland ein junger Privatdozent eher wenige Vorlesungen, weil erwartet wird, dass er den älteren Dozenten den Vortritt lässt. Dafür hat der junge Gelehrte viel Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit. In Amerika dagegen sind gerade die jungen Dozenten mit ihren Lehrverpflichtungen überlastet. Die aktuellen Entwicklungen gehen in Richtung des amerikanischen Systems, zu beobachten ist das bereits an den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten. Diese Institute sind staatskapitalistische Unternehmen: Der Assistent ist also angewiesen auf die Arbeitsmittel, die der Staat zur Verfügung stellt, und er ist abhängig vom Institutsdirektor. Ob ein Privatdozent jemals einen Lehrstuhl bekommt, ist vor allem eine Sache des Zufalls.

Ob es einem solchen Privatdozenten, vollends einem Assistenten, jemals gelingt, in die Stelle eines vollen Ordinarius und gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach Hazard ist.“ (S. 42)“

Dies führt auch dazu, dass an deutschen Universitäten keine außerordentlichen, sondern eher mittelmäßige Personen hohe Positionen bekleiden. Der Grund sind die Auswahlprozesse per kollektiver Willensbildung. Vergleichbare Ausleseverfahren sind die Papstwahl und die Präsidentenwahl in den USA: In beiden Fällen kommt meist nicht der Mann an die Spitze, der Favorit zu sein schien, sondern Nummer zwei oder drei.

Das Doppelgesicht der Arbeit an Universitäten

Ein weiterer Grund für die Schwierigkeit der richtigen Auswahl ist, dass der zukünftige Gelehrte eine Doppelaufgabe erfüllen muss, zumindest in Deutschland: Er soll ein guter Wissenschaftler und zugleich ein guter Lehrer sein, und dass beides zusammenfällt, ist eher selten.

Jeder junge Mann, der sich zum Gelehrten berufen fühlt, muß sich (…) klarmachen, daß die Aufgabe, die ihn erwartet, ein Doppelgesicht hat. Er soll qualifiziert sein als Gelehrter nicht nur, sondern auch: als Lehrer.“ (S. 45)“

Dabei wird die Qualität der Lehre meist an der Zahl der Studenten gemessen, die einem Professor zuströmen, was an sich zweifelhaft ist, denn diese Beliebtheit hängt oft von oberflächlichen Kriterien wie dem Temperament oder der Stimme ab. Massenvorlesungen bieten nicht automatisch die beste Lehre. Ein guter Universitätslehrer ist jemand, der wissenschaftliche Probleme so darlegen kann, dass ein ungeschulter Geist sie versteht und zum selbstständigen Denken angeregt wird. Die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit ist noch schwieriger zu bestimmen. Sie ist oft gerade dann umstritten, wenn es sich bei dem Wissenschaftler um einen kühnen Neuerer handelt. Das wissenschaftliche Leben ist insgesamt so sehr vom Zufall bestimmt, dass man eigentlich niemandem guten Gewissens dazu raten kann, sich zu habilitieren. 

Leidenschaft und Fantasie als Grundbedingungen der Wissenschaft

Die Wissenschaft ist heutzutage sehr spezialisiert. Das bedeutet, dass man bewusst vieles ausblenden und an sehr eng begrenzten Fragestellungen arbeiten muss – und zwar mit Leidenschaft.

Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“ (S. 50)“

Mit Leidenschaft lässt sich zwar nichts erzwingen, aber Leidenschaft ist unabdingbar für die wissenschaftliche Eingebung – einen Einfall. Denn entgegen der weitverbreiteten Vorstellung ist Wissenschaft nicht einfach kühles Rechnen. Der Wissenschaftler braucht einen Einfall, damit er etwas Wertvolles leisten kann, damit sein Rechnen eine Richtung hat. Dieser Einfall lässt sich nicht erzwingen und er ersetzt auch nicht die Arbeit, das Grübeln, das Fragen; diese Arbeit ist meist Voraussetzung für den Einfall.

Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn.“ (S. 51)“

Der Einfall kommt dann, wenn man ihn nicht erwartet, zum Beispiel beim Rauchen einer Zigarre auf dem Kanapee oder beim Spaziergang. Auf den Einfall ist der Wissenschaftler genauso angewiesen wie der Künstler, aber auch wie der Unternehmer. Sie alle brauchen Fantasie, um etwas Neues zu schaffen. Damit jemand wissenschaftliche Eingebungen haben kann, muss er die „Gabe“ haben. Damit ist nicht der Kult gemeint, der bei der heutigen Jugend um „Persönlichkeit“ und „Erleben“ getrieben wird. Wichtig für eine wissenschaftliche Persönlichkeit ist es, allein der Sache zu dienen und keinen Kult um sich selbst zu machen. Das gilt auch für die Kunst.

Der ewige Fortschritt

Ein wichtiger Unterschied zur Kunst ist, dass es bei der Wissenschaft um den Fortschritt geht. Ein rundum gelungenes Kunstwerk wird nicht von der Zeit entwertet, Wissenschaft dagegen veraltet fast immer.

Jeder von uns (…) in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist.“ (S. 56)“

Das ist das Schicksal, aber auch der Sinn der Wissenschaft: Sie will immer neue Fragen und Lösungen aufwerfen, es soll vorangehen. Das heißt, der Fortschritt hat nie ein Ziel, er läuft ins Unendliche. Wenn man nun die Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ betreibt – was heißt das dann?

Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen und zu dem heute üblicherweise in so außerordentlich negativer Art Stellung genommen wird.“ (S. 57)“

Der wissenschaftliche Fortschritt ist Teil des großen Prozesses der Intellektualisierung, der seit Jahrtausenden vonstattengeht. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir über unsere Lebensbedingungen immer besser Bescheid wüssten. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie genau es kommt, dass unsere Straßenbahn fährt. Ein Indianer oder Hottentotte weiß sicherlich besser über die Werkzeuge Bescheid, die er benutzt. Unsere immer weiter fortschreitende Rationalisierung bedeutet, dass wir wissen oder glauben, wir könnten, wenn wir nur wollten, jederzeit erfahren, wie das alles funktioniert. Alles ist erklärbar und berechenbar, wir glauben nicht an geheimnisvolle magische Mächte – unsere Welt ist entzaubert. Hat dieser immerwährende Fortschritt einen Sinn? Die Romane Leo Tolstois werfen diese Frage grundsätzlich auf. Heute kann man nicht mehr „alt und lebensgesättigt“ sterben wie der biblische Abraham oder ein Bauer aus früheren Zeiten. Heute bekommt man nur einen Bruchteil mit von dem sich stetig entwickelnden Fortschritt. Laut Tolstoi macht das nicht nur den Tod sinnlos, sondern auch das moderne Leben an sich.

Die Bedeutung der Wissenschaft für die Menschheit

Grundsätzlich stellt sich die Frage, welchen Sinn oder Wert die Wissenschaft für die Menschheit überhaupt hat. Hier gibt es einen großen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Höhlengleichnis im siebten Buch von Platons Politeia hat sich, bezogen auf die Wissenschaft, vollständig umgekehrt. In diesem Gleichnis beschreibt Platon, wie gefesselte Höhlenmenschen nur Schattenbilder an der Höhlenwand sehen und sie für die Realität halten – bis einer von ihnen sich umdreht und die Sonne erblickt. Dieser Höhlenmensch wird zum Philosophen, der den anderen die Wahrheit verkündet, die ihn zunächst für verrückt halten. Die Sonne stellt dabei die Wahrheit der Wissenschaft dar, die das wahre Sein ergründet. Heute wird die Wissenschaft ganz anders gesehen, vor allem von der Jugend. Ihre künstlich abstrakten Gedankengebilde reichen nicht an das wirkliche Leben heran. Dieses spielt sich vielmehr abseits der Wissenschaft ab und ist das, was für Platon lediglich Schatten an den Wänden waren. Wie kam es zu dieser Umkehrung?

Platon war sich als Erster der Bedeutung eines der großen Erkenntnisinstrumente bewusst: des Begriffs. Damit konnte man logisch argumentieren. Also, so schien es, musste man nur den richtigen Begriff finden, um daraus das wahre Sein der Dinge abzuleiten. Das wiederum schien eine Möglichkeit, um herauszufinden, wie man sich – im Leben und als Staatsbürger – richtig zu verhalten habe. Und genau das war für die alten Griechen das Ziel aller Wissenschaft.

Daneben kam in der Renaissance ein weiteres wichtiges Werkzeug der Wissenschaft auf: das rationale Experiment. Es bereitete der heutigen empirischen Wissenschaft den Weg. Die Bahnbrecher dieses Prinzips waren interessanterweise Künstler: vor allem Leonardo da Vinci, außerdem die experimentellen Musiker des 16. Jahrhunderts. Für sie waren Experimente der Weg zur wahren Kunst und zugleich zur wahren Natur. Das hieß auch: Sie waren der Weg zu Gott. Gerade die Naturwissenschaften eröffneten die Möglichkeit, Gottes Werke physisch zu untersuchen. Von dem Naturforscher Swammerdamm stammt der Satz: „Ich bringe Ihnen hier den Nachweis der Vorsehung Gottes in der Anatomie einer Laus.“

Heute glaubt dagegen fast niemand mehr, dass wissenschaftliche Erkenntnisse uns dem Sinn der Welt näherbringen. Die Wissenschaften sind heute eher geeignet, einem den Glauben an einen Sinn der Welt abzugewöhnen. Sie sind die gottfremde Macht schlechthin. Die Jugend, die nach religiösen Erlebnissen oder nach Erlebnissen überhaupt strebt, sucht deshalb eher nach einer Erlösung vom Rationalismus der Wissenschaft. Das ist verständlich. Wissenschaft führt heute nicht mehr zum wahren Sein, nicht mehr zum wahren Gott, nicht mehr zum wahren Glück. Was ist dann heute ihr Sinn? Tolstoi meint, sie sei sinnlos, weil sie auf die zentralen Fragen, was der Mensch tun und wie er leben soll, keine Antwort mehr gibt. Ob das allerdings nicht durch eine bessere Fragestellung gelöst werden könnte, bleibt offen. 

Voraussetzungslose Wissenschaft?

Immer wieder hört man von einer sogenannten voraussetzungslosen Wissenschaft. Ob es die aber gibt, hängt ganz davon ab, wie man Voraussetzung definiert. In der Wissenschaft werden zum einen die Regeln der Logik und Methodik vorausgesetzt. Zum anderen soll das Ergebnis einer wissenschaftlichen Arbeit auch wichtig und wissenswert sein. Das ist problematisch, denn dass etwas wichtig ist, lässt sich nicht mit den Mitteln der Wissenschaft beweisen, sondern hängt letztlich von der individuellen Bewertung ab. Dabei gibt es fachspezifische Unterschiede: Die Naturwissenschaften gehen selbstverständlich davon aus, dass alle Gesetze des Kosmos wissenswert sind, nach dem Sinn dahinter wird nicht gefragt. Auch in der Medizin wird etwas selbstverständlich vorausgesetzt, nämlich das Ziel der Erhaltung des Lebens. Das kann allerdings problematisch sein, wenn etwa Todkranke am Leben gehalten werden, obwohl sie selbst und ihre Angehörigen das nicht wollen. Die Mediziner fragen nicht danach, ob und wann das Leben lebenswert ist. Die Naturwissenschaften fragen, wie man das Leben technisch beherrschen kann – ob man das tun sollte, fragen sie nicht. Die Kunstwissenschaften stellen nicht infrage, dass es Kunstwerke überhaupt gibt, und die Rechtswissenschaft fragt nicht, ob es das Recht in dieser Form geben soll.

(…) weil der Prophet und der Demagoge nicht auf den Katheder eines Hörsaals gehören.“ (S. 73)“

Politik hat im Hörsaal nichts zu suchen. Weder vonseiten der Studenten noch vonseiten der Professoren – vor allem dann nicht, wenn sie sich wissenschaftlich mit Politik beschäftigen. Im Hörsaal sollten weder explizit noch suggestiv politische Ansichten vertreten werden. Das ist eine Frage der intellektuellen Rechtschaffenheit. Propheten und Demagogen sollen hinausgehen und öffentlich dort reden, wo auch Kritik möglich ist. Im Hörsaal ist das nicht der Fall, denn dort haben die Studenten zu schweigen.

Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ (S. 79)“

Wertende Stellungnahmen im wissenschaftlichen Kontext sind auch deshalb sinnlos, weil der Kampf der konkurrierenden Wertordnungen auf der Welt nicht auflösbar ist. Auf den Kathedern der Universität lassen sich die Lebensprobleme nicht lösen. Der Einzelne muss entscheiden, was für ihn gut und was schlecht ist. Die konkurrierenden Lebensmodelle gleichen den vielen Göttern der alten Zeiten, und die Jugend begeht einen Irrtum, wenn sie im Hörsaal etwas anderes sucht als einen Lehrer – wenn sie stattdessen einen Führer will.

Leistungen und Grenzen der Wissenschaft

Was leistet nun aber die Wissenschaft für das praktische und persönliche Leben? Sie vermittelt Kenntnisse über die Technik, das Leben durch Berechnung zu beherrschen. Sie schult das Denken und bringt Klarheit darüber, welche Positionen man bei einem Wertproblem beziehen kann und wie man das am besten tut. Zudem kann und soll die Wissenschaft aufzeigen, aus welcher Weltanschauung sich welche praktische Stellungnahme ableiten lässt. Ob das genug ist, ob unter diesen Voraussetzungen der Beruf des Wissenschaftlers attraktiv ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

(…) daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.“ (S. 92 f.)“

Was wir tun und wie wir leben sollen, kann die Wissenschaft nicht beantworten. In der heutigen entzauberten Welt gibt es das Heilige, Verzauberte, Leidenschaftliche nicht mehr in der Öffentlichkeit. Was früher Kirchengemeinden einte, ist heute am ehesten in kleinen menschlichen Gemeinschaften zu spüren.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Text, ursprünglich ein Redemanuskript, umfasst etwa 50 Seiten und ist nicht in Abschnitte unterteilt. Weber spricht seine Zuhörer, die Studenten, manchmal direkt an. Auf den ersten Blick ist es ein nüchterner Text im Wissenschaftsduktus: klar in Aufbau und Aussage, komplex im Satzbau, mit langen Sätzen und vielen Einschüben. Unter der Nüchternheit liegen aber Pathos, Zuspitzung, Leidenschaft, gerade weil der Text viele Aspekte des Themas Wissenschaft als Beruf behandelt, von den äußeren, ökonomischen Bedingungen der Wissenschaft bis hin zu den tiefsten Grundsatzfragen. Weber schreibt bildreich und greift dabei vor allem auf antike und christliche Metaphern zurück. So zieht er antike Götter zum Vergleich heran oder er erklärt den Studenten, dass sie zwischen „Gott und Teufel“ zu entscheiden haben. Aus dem Bereich der Literatur zitiert er vor allem Leo Tolstoi mit seinem desillusionierten Blick auf die Welt.

Interpretationsansätze

  • Max Weber liefert in seiner Rede vor Studenten eine desillusionierte Analyse der Lebensbedingungen in der Moderne. Die Moderne ist für ihn Rationalisierung, Intellektualisierung, Entzauberung der Welt. Dies werde von der Jugend kritisch gesehen, die nach „Erleben“ strebe. Auch Weber selbst bedauert diese Entwicklung.
  • Der Text kann als Wissenschaftskritik gelesen werden, denn die kritisierte Rationalisierung und Intellektualisierung sind Kernelemente der Wissenschaft. Der Universitätswissenschaftler Weber preist seinen Beruf nicht an, sondern zeigt viele seiner äußeren und inneren Probleme auf.
  • In der Moderne betreibt der Mensch nach Weber ziellos Wissenschaft, ohne Glücks- oder Sinnerwartung. Er steht zwar noch ganz in der Tradition der Aufklärung, hat aber nicht mehr den Glauben, dass das Leben durch Fortschritt und Forschung immer besser wird.
  • Weber verweist auch auf die Bedrohung eines entfesselten Rationalismus, sowohl ökonomisch als auch technisch. Die Einzelwissenschaften hinterfragen nicht den Zweck ihrer Forschungen – und das kann zum Problem werden.
  • Zentral ist Webers Forderung einer werturteilsfreien Wissenschaft. Das sei eine Frage der intellektuellen Rechtschaffenheit, meint Weber und unterscheidet etwa den Politikwissenschaftler vom Politiker. Ob diese Forderung einlösbar ist, wurde später viel diskutiert.
  • Weber betont, dass Wissenschaft keine Wertorientierung geben könne und solle. Anders als in der griechischen Antike oder in der Renaissance könne die Frage, was der Mensch tun und wie er leben soll, heute nicht mehr durch die Wissenschaft beantwortet werden. 
  • Weber sieht in der Pluralität der Wertesysteme und Lebensmodelle eine Wiederkehr des vorchristlichen Polytheismus. Das bedeutet auch Beliebigkeit und Orientierungsverlust.
  • Ein kleiner Trost und Ausblick am Ende des Textes sind die Räume des „Nachdenkens über den Sinn der Welt“ im heutigen entzauberten Leben. Für Weber selbst war ein solcher Raum der sonntägliche Salon, den seine Frau Marianne ausrichtete.

Historischer Hintergrund

Die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs

Im Ersten Weltkrieg kämpften weltweit rund 70 Millionen Menschen, 17 Millionen kamen ums Leben. Das Zerstörungspotenzial dieses ersten industrialisierten Krieges wurde lange Zeit unterschätzt. Viele deutsche Bürgersöhne meldeten sich freiwillig und zogen mit großem Hurra an die Front. Doch der nationale Taumel schlug schnell in Entsetzen um: Anstatt Deutschland, wie erhofft, den Traum vom „Platz an der Sonne“ zu erfüllen, landete man in der Hölle der Schützengräben. Bereits in den ersten Kriegsmonaten mussten die Armeen hohe Verluste hinnehmen, die dem fatalen Zusammenwirken von moderner Artillerie und Maschinengewehren geschuldet waren. An der 700 Kilometer langen Westfront von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze bewegte sich schon ab Herbst 1914 nichts mehr. Beide Seiten rieben sich im sinnlosen Stellungskrieg auf; das Töten wurde geradezu industrialisiert. Die Folge waren hohe Verluste und horrende Verletzungen an Leibern und Seelen.

Hinzu kam die sinkende Moral an der deutschen Heimatfront: Die britische Seeblockade verhinderte einen Großteil der Agrar­im­por­te; Mangelwirtschaft und Chaos in der Ernährungsindustrie taten ein Übriges. Im sogenannten Steckrübenwinter 1916/17 stand jedem Einwohner mit durchschnittlich 1000 Kilokalorien pro Tag weniger als die Hälfte des Mindestbedarfs zur Verfügung. In Deutschland verhungerten in den Kriegsjahren mehr als 800 000 Zivilisten. Nach Ansicht vieler Historiker war die katastrophale Versorgungslage mitentscheidend für die deutsche Kapitulation und den Sturz von Kaiser Wilhelm II. Der Krieg hatte nicht nur viele Menschenleben gekostet, sondern auch den Fortschrittsglauben der Menschen erschüttert.

Entstehung

Wissenschaft als Beruf war ursprünglich eine Rede, die Max Weber am 7. November 1917 in der Schwabinger Buchhandlung Steinike vor Studenten hielt. Eingeladen hatte ihn Immanuel Birnbaum vom Freistudentischen Bund, einem liberalen Zirkel. Karl Löwith, der dabei war, schrieb: „Sein von einem struppigen Bart umwachsenes Gesicht erinnerte an die düstere Glut der Bamberger Prophetengestalten. Er sprach vollkommen frei und ohne Stockung, sein Vortrag wurde mitstenographiert“. Und Birnbaum notierte: „Im Anschluss an diese Veranstaltungen saß der große Gelehrte mit uns jungen Akademikern halbe Nächte lang in leidenschaftlichen Gesprächen zusammen.“

Weber ist deutlich von der Philosophie Friedrich Nietzsches geprägt, den er früh las und bewunderte. Daneben hatten auch die Schriften von Karl Marx großen Einfluss auf ihn. Den Vergleich mit dem universitären System der USA konnte er ziehen, weil er im Jahr 1904 anlässlich der Weltausstellung nach St. Louis gereist war. Er nutzte seine Reise auch, um das amerikanische Collegesystem genauer kennenzulernen.

Der Vortragstext wurde von Weber noch um Etliches ergänzt, bevor er im Sommer 1919 als erster Band in der Reihe Geistige Arbeit als Beruf veröffentlicht wurde.

Wirkungsgeschichte

Die veröffentlichte Rede Wissenschaft als Beruf wurde gleich viel beachtet und löste in den Jahren der Weimarer Republik auch mehrere Gegenschriften aus. Am häufigsten wurde kritisiert, dass Max Weber den Wissenschaften ihr Orientierungspotenzial absprach. So wollte Erich von Kahler eine neue, elitäre Wissenschaft begründen, die normative Züge hatte. Arthur Salz versuchte in seiner Replik, leitende Werte logisch zu begründen. Ernst Krieck wiederum hatte eine nationale Stoßrichtung und wollte verbindliche Werte aufzeigen, die er in der Zeit des Nationalsozialismus als Rektor der Frankfurter Universität energisch vertrat.

Webers Überlegungen zur Werturteilsfreiheit und zum Verhältnis von Theorie und Praxis waren die Basis des in den 1960er-Jahren entbrannten „Positivismusstreits“ vor allem zwischen Karl Popper und Theodor W. Adorno.

Ab 1964, als man in Heidelberg Webers 100. Geburtstag feierte, wurde Webers Diagnose der Moderne wiederentdeckt, die er in Wissenschaft als Beruf wohl am pointiertesten formuliert hat. Deshalb gilt diese Münchner Rede als ein Höhepunkt seines Werks, gerade in Anbetracht der verheerenden Zeit zum Ende des Ersten Weltkriegs. Bis heute werden Webers Gedanken herangezogen, wenn es um die politische Verantwortung von Wissenschaft geht.

Über den Autor

Max Weber wird am 21. April 1864 in Erfurt als erstes Kind des Juristen Max Weber und dessen Frau Helene geboren. Die Großmutter mütterlicherseits ist strenggläubige Calvinistin. 1869 zieht die Familie nach Berlin, wo sich Max und seine Geschwister allerdings nicht wohlfühlen. Der Vater wird Abgeordneter der Nationalliberalen Partei. Weber studiert Jura, Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte. Er wird im Fach Jura promoviert und habilitiert. Früh setzt er sich mit der Situation der Arbeiter auseinander und wird Mitglied verschiedener Vereine. 1893 heiratet er die spätere Frauenrechtlerin Marianne Schnitger. Seine Universitätskarriere beginnt vielversprechend: Weber wird Professor für Nationalökonomie in Freiburg und später in Heidelberg. Doch schon bald treten gesundheitliche Probleme auf. Von 1897 an muss er seine Lehrtätigkeit einschränken und 1903 ganz einstellen, denn er leidet unter einer depressiven Erkrankung. Es folgen mehrere Sanatoriumsaufenthalte und Erholungsreisen. 1904 erscheinen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, das er selbst mitherausgibt, gleich zwei bedeutende Schriften: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis und Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. 1909 wird Weber Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Später trägt er immer mehr zur Etablierung der Soziologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin bei. 1913 beginnt er mit seinem Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft. Weber äußert sich auch zunehmend zu tagespolitischen Fragen und ist 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei beteiligt. Ab Herbst 1918 geht er – inzwischen Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität – eine heimliche Liebesbeziehung mit Else Jaffé-von Richthofen ein, bleibt aber seiner Frau Marianne eng verbunden. Am 14. Juni 1920, mit erst 56 Jahren, stirbt Max Weber in München an einer Lungenentzündung. Zwei Jahre später wird das Mammutwerk Wirtschaft und Gesellschaft aus dem Nachlass veröffentlicht.

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